“NIKOLAJ SERGEJEVIČ TRUBETZKOY (1890-1938)” in “Portraits of Linguists: A Biographical Source Book for the History of Western Linguistics, 1746-1963, V. 2”
NIKOLAJ SERGEJEVIČ TRUBETZKOY (1890-1938)
Nikolaj Sergejevič Trubetzkoy
Roman Jakobson
Beim ersten Internationalen Linguistenkongress sagte Meillet auf Trubetzkoy hinweisend : ‘ Er ist der stärkste Kopf der modernen Linguistik’. — ‘Ein starker Kopf’, bestätigte jemand. — ‘Der stärkste ‘, widerholte nachdrücklich der scharfsichtige Sprachforscher.
In der Geschichte des hohen russischen Adels haben recht wenige Geschlechter so merkliche und dauernde Spuren im öffentlichen und geistigen Leben des Landes hinterlassen. Der Vater des Verstorbenen, Fürst Sergej Trubetzkoy (1862-1905), Professor und Rektor der Moskauer Universität, war ein hervorragender, tiefdenkender Philosoph. Der Gedanke des Logos in seinem historischen Werden und Wandeln ist sein Grundthema. Einen aufmerksamen Beobachter wird der intime Zusammenhang zwischen dieser Lehre und der Frage des Sohnes nach dem inneren Sinne der Sprachumgliederung kaum entgehen. Der Bruder des Philosophen und ebenfalls Philosoph, Evgenij Trubetzkoy, schildert kuntsvoll in seinen Erinnerungen (Iz prošlogo, Wien, s. a.) das Gemeinsame und das Unterscheidende an drei Generationen seines Geschlechtes : ‘ von einem Gedanken und einem Gefühl restlos erfaßt, legt man in diesen Gedanken eine Temperaments- und Willenskraft hinein, die keine Hindernisse kennt und deshalb unbedingt das Ziel erreicht ‘. Aber der Inhalt des dominierenden Gedankens wechselt mit jeder Generation. Der Urgroßvater von Nikolaj Trubetzkoy war von selbstgenügsamen architektonischen Linien beherrscht, sein Alltag wurde ihrem strengen Stil unterworfen, ‘ und deswegen gab es im Leben keinen größeren Systematiker ‘. Im Sein des Großvaters ‘ verinnerlichte sich die Baukunst und verwandelte sich in eine anderartige, magische Architektur, die der Klänge ‘ — es kam die Tonkunst. In der nächsten Generation ‘trat als Tochter der Musik die Philosophie auf’. Und schließlich, fügen wir hinzu, wird in der schöpferischen Welt Nikolaj Trubetzkoy’s die überirdische Idee des Logos durch die verkörperte, empirische Wortsprache ersetzt. Und wenn auch der Sprachgelehrte sich von jedem allzuabstrakten Philosophieren entschieden lossagte, findet man kaum in der gegenwärtigen Linguistik eine andere Lehre, die dermaßen vom wahren philosophischen Geist durchdrungen ist und so ergiebig die Philosophie fördert. Mit dem aufrührerischen Neuerungsgeist vereinigt Trubetz- koy eine urwüchsige Kraft der Tradition ; ja es lebt in seinem Lebenswerke nicht nur die Logosproblematik seines Vaters, sondern auch der ererbte Musikgeist, der ihn zur Kunstsprache, zum Vers und zwar ausschließlich zum Singvers lockt und seine feinen Beobachtungen über die Wechselbeziehungen zwischen dem sprachlichen und musikalischen Rhythmus lenkt. Die russischen Bylinen und Schnaderhüpfel, das mordwinische und polabische Volkslied, Puškins Nachklänge der serbischen Epen und die altkirchenslavische Hymne enthüllen ihre Schallgesetze.
Aber auch die architektonische Einstellung des Urahns lebt in N. S. Trubetzkoy fort. Sie kommt in Form und Inhalt zum Vorschein : einerseits in seinem klassisch klaren Stil und besonders in der durchsichtigen, harmonischen Komposition, andererseits in seiner seltenen Klassifizierungskunst, die einen genialen und leidenschaftlichen Systematiker offenbart. Man könnte nicht diesen ‘ Systemzwang ‘ als Grundsatz seines Schaffens genauer beschreiben, als es Trubetzkoy selbst gemacht hat. In seinem Buch К probleme russkogo samopoznanija (1927) mahnt er jeden Volksgenossen zur persönlichen und nationalen Selbsterkenntnis und insbesondere zum Anerkennen und Begreifen des turanischen Einschlags, den der Verfasser als den massgebenden Bestandteil der russischen Geschichte und Psyche hervorhebt (vgl. bes. seine unter den Initialen I. R. herausgegebene Broschüre Nasledije Cingischana, Beri. 1925), und er schildert diesen ‘ turanischen Geist ‘ mit einer geradezu introspektiven Überzeugungskraft, die Meillet so bewundert hat :
Der turanische Mensch unterwirft jeden Stoff einfachen und schematischen Gesetzen, die ihn zu einer Ganzheit zusammenschmelzen und dieser Ganzheit eine gewisse schematische Klarheit und Durchsichtigkeit verleihen. Er grübelt nicht gerne an überfeinen und verwickel- ten Einzelheiten und befaßt sich lieber mit deutlich wahrnehmbaren Gebilden, die er in klare und schlichte Schemata gruppiert . . . Diese Schemata sind kein Ergebnis einer philosophischen Abstraktion . . . Sein Denken und seine ganze Wirklichkeitsauffassung finden spontan in den symmetrischen Schemata eines sozusagen unterbewußten philosophischen Systems Platz ... Es wäre aber ein Fehler zu denken, der Schematismus dieser Mentalität lähme den breiten Schwung und Ungestüm der Phantasie ... Seine Phantasie ist weder dürftig, noch feig, sie hat im Gegenteil einen kühnen Schwung, aber die Einbildungskraft ist nicht auf den minuziösen Ausbau und nicht auf das Auftürmen von Einzelheiten gerichtet, sondern sozusagen auf die Entwicklung in Breite und Länge ; das derartig aufgerollte Bild wimmelt nicht von mannigfaltigen Farben und Übergangstönen, sondern ist in Grundtönen, in breiten, bisweilen riesenhaft breiten Pinselstrichen gemalt ... Er liebt die Symmetrie, die Klarheit und das stabile Gleichgewicht.
Trubetzkoy sah ein, daß dieser Geist der allumfassenden strengen Systematik für die ursprünglichsten Errungenschaften der russischen Wissenschaft und für sein eigenes Schaffen im besonderen höchst kennzeichnend ist. Er besass eine seltsame und leitende Fähigkeit, in allem Wahrgenommenen das Systemartige aufzudecken (so hat er, schon todkrank, wenige Wochen vor dem Ende, auf den ersten Blick die Phonemenreihen des Dunganischen und des Hottentottischen treffend erraten, welche für die angesehenen Fachkenner dieser Sprachen unnachgiebig blieben). Auch sein merkwürdiges Gedächtnis war stets auf das Systemartige gerichtet, die Tatsachen lagerten sich als Schemata ab, die sich ihrerseits zu wohlgestalteten Klassen ordneten. Nichts war ihm dabei fremder und unannehmbarer als eine mechanische Katalogisierung. Das Gefühl eines inneren, organischen Zusammenhangs der einzuteilenden Elemente verließ ihn nie, und das System blieb nie, von der übrigen Gegebenheit gewaltsam entrissen, in der Luft hängen. Im Gegenteil erschien ihm die gesamte Wirklichkeit als ein System der Systeme, eine großartige hierarchische Einheit von vielfachen Übereinstimmungen, deren Bau seine Gedanken bis zu den letzten Lebenstagen fesselte. Er war für eine ganzheitliche Weltauffassung innerlich vorausbestimmt, und einzig im Rahmen der strukturalen Wissenschaft hat er sich selbst tatsächlich vollständig gefunden. Gleich empfindlich für sprachliche Fakta und für neue sprachwissenschaftliche Gedanken, fühlte er mit Scharfblick die Antriebe heraus, die für seinen folgerichtigen und eigenartigen Systemaufbau geeignet waren.
In einer unveröffentlichten und unbeendeten autobiographischen Skizze erzählt Trubetzkoy : ‘ Meine wissenschaftlichen Interessen erwachten sehr früh, noch im Alter von 13 Jahren, wobei ich ursprünglich hauptsächlich Volks- bzw. Völkerkunde studierte. Ausser der russischen Volksdichtung interessierte ich mich besonders für die finno-ugrischen Völker Rußlands. Seit dem Jahre 1904 besuchte ich regelmäßig alle Sitzungen der Moskauer Ethnographischen Gesellschaft, mit derem Präsidenten Prof. V. F. Miller (dem bekannten Forscher auf dem Gebiete des russischen Volkepos und der ossetischen Sprache) ich in persönliche Beziehungen trat.’ Es war eine Blütezeit der russischen Volkskunde und Folkloristik, von der ruhmvollen historischen Schule Millers geleitet. Die ungemein lebenskräftige, archaische und vielsprachige Volksüberlieferung Rußlands, ihre altertümlichen ethnischen Kreuzungen, ihre bunten und eigenartigen Formen, ihr ständiger Einfluß auf das Schrifttum und ihr reicher historischer und mythologischer Gehalt boten den Forschern eine unerschöpfliche Quelle. Dieser Problematik widmete sich begeistert der heranwachsende Trubetzkoy ; der Mittelschulbesuch blieb ihm erspart, er studierte zu Hause, gewann dadurch viel freie Zeit für seine wissenschaftlichen Erstlingsversuche und war mit fünfzehn Jahren ein reifer Forscher. Er veröffentlichte im Organ der erwähnten Gesellschaft Etnografičeskoe Obozrenie ab Jahr 1905 eine Reihe bemerkenswerter Studien über die Spuren eines gemein-ugrofinnischen Totenkultritus im westfinnischen Volksliede, über eine nordwestsibirische heidnische Göttin in den alten Reiseberichten und im Volksglauben der heutigen Vogulen, Ostjaken und Votjaken, über die nordkaukasischen Steingeburtssagen usw. Auch das Sprachstudium ist ursprünglich für Trubetzkoy nur ein Hilfsmittel der historischen Ethnologie und besonders der Religionsgeschichte. Diese Fragen haben ihn übrigens auch später stets angelockt, wie es beispielsweise seine Bemerkungen über die Spuren des Heidentums im polabischen Wortschatz (ZfslPh I, 153 ff.) oder über die Iranismen der nordkaukasischen Sprachen (MSL ХХП, 247 ff.) verraten, und noch im letzten Lebensjahr plante er, anläßlich des neusten, seiner Uberzeugung nach ganz widersinnigen Versuches, die Echtheit des Igorliedes zu bestreiten, eine Studie über die heidnischen Namen dieses wertvollen Denkmals (den Gottesnamen Dažībogū legte er als ein archaisches Compositum mit der Bedeutung ‘ gib Reichtum ‘ aus und gleichfalls die parallele Bildung St[í]ribogǔ).
Zum Studium der kaukasischen Sprachen wurde der junge Trubetzkoy von Miller angeregt und unter dem Einfluß des Ethnographen und Archäologen S. K. Kuznecov begann er sich mit den finnisch-ugrischen und paläoasiatischen Sprachen zu befassen und gewann dabei allmählich ein unmittelbares Interesse für die vergleichende und allgemeine Sprachwissenschaft. Er stellte auf Grund der alten Reiseberichte ein Wortverzeichnis nebst einem kurzen grammatischen Abriß der gegenwärtig aussterbenden kamtschadalischen Sprache und entdeckte kurz vor seiner Matura ‘ eine Reihe von auffallenden Entsprechungen zwischen dem Kamtschadalischen, Tschuktschisch-Korjakischen einerseits und dem Samojedischen andererseits, nämlich auf dem Gebiete des Wortschatzes ‘. Seine Arbeit brachte ihn in einen lebhaften wissenschaftlichen Briefwechsel mit den drei Pionieren der ostsibirischen Volks- und Sprachkunde, Jochelson, Sternberg und besonders Bogoraz ; als der letzte aber aus Petersburg nach Moskau kam und seinen gelehrten Korrespondenten persönlich kennen lernte, war er direkt beleidigt zu erfahren, es handle sich um einen Schulknaben !
Trubetzkoy trat 1908 an die ‘ historisch-philologische ‘ Fakultät der Moskauer Universität ein. Ursprünglich hatte er die Völkerkunde im Auge, da sie aber im Lehrprogramm dieser Fakultät fehlte, wählte er, um ‘ hauptsächlich Völkerpsychologie, Geschichtsphilosophie und die methodologischen Probleme zu studieren ‘, die philosophisch-psychologische Abteilung ; als er aber sah, daß er sich hier nicht einlebe, und daß ihn der linguistische Interessenkreis immer fester halte, ging er im dritten Semester, zur aufrichtigen Betrübnis seiner bisherigen Lehrer und Kollegen, die in ihm die große Hoffnung der russischen Philosophie begrüßten, in die sprachwissenschaftliche Abteilung über. Doch blieb ihm für das ganze Leben eine gediegene philosophische Schulung und ein hegelianischer Einschlag, den besonders die suggestive Wirkung seines geistvollen Kollegen und Freundes, des frühverstorbenen Samarin, befestigt hat. Auch die Grundfragen der Völkerpsychologie, Soziologie und Historiosophie haben nie aufgehört, den Forscher zu beschäftigen. Die seit den Schuljahren geplante Trilogie über die Kulturproblematik, -wertung, -entwicklung und über ihre nationale Fundierung, mit besonderer Rücksicht auf die russischen Verhältnisse, wurde teilweise in der spannnenden, auch ins Deutsche und Japanische übersetzten Monographie Europa und die Menschheit (Evropa i čelovečestvo, 1920) verwirklicht, teils in den Studien der erwähnten russischen Sammelschrift Zum Problem der russischen Selbsterkenntnis. Diesen Arbeiten folgte eine Reihe Aufsätze über Nationalitätenproblem, über Kirche und über Ideokratie, von denen nur ein Teil veröffentlicht wurde, und das Meiste zugrundegegangen ist. Die Erwägungen Trubetzkoys, gegen jede naturalistische (sei es biologische oder geradlinig evolutionistische) Auffassung der Geisteswelt und gegen jeden überlegenen Egozentrismus scharf gerichtet, wurzeln zwar in der russischen ideologischen Tradition, brachten aber viel Persönliches und Bahnbrechendes und wurden besonders durch die reiche sprachwissenschaftliche Erfahrung des Verfassers und durch seine enge, beinahe zwanzigjährige Mitarbeit mit dem hervorragenden Geographen und Kulturhistoriker P. Savickij vertieft und zugespitzt. Die Lehre der beiden Denker über die Eigenart der russischen (eurasischen) geographischen und historischen Welt gegenüber Europa und Asien wurde zur Grundlage der sogen, eurasischen ideologischen Strömung.
Trubetzkoy absolvierte Anfang 1913 das Programm der sprachwissenschaftlichen Abteilung. Die Fakultät billigte seine Arbeit über die Bezeichnungen des Futurums in den wichtigsten indogermanisehen Sprachen, deren Nachklang (‘ Gedanken über den lateinischen a-Konjunktiv ‘) in der Festschrift Kretschmer zu finden ist, und nahm seine Angliederung an das Universitätslehrkorps zwecks Vorbereitung zur akademischen Lehrtätigkeit einstimmig an. ‘Der Umfang’, schreibt Trubetzkoy, ‘ und die Richtung des Unterrichtes in der sprachwissenschaftlichen Abteilung befriedigte mich nicht : mein Hauptinteresse lag außerhalb der indogermanischen Sprachen. Wenn ich mich aber doch für diese Abteilung entschloß, so tat ich es aus folgenden Gründen : Erstens war ich schon damals zur Überzeugung gekommen, daß die Sprachwissenschaft der einzige Zweig der “Menschenkunde י sei, welcher eine wirkliche wissenschaftliche Methode besitzt, und daß alle anderen Zweige der Menschenkunde (Volkskunde, Religionsgeschichte, Kulturgeschichte usw.) nur dann aus der “alchemischen” Entwicklungsstufe in eine höhere übergehen können, wenn sie sich in Bezug auf die Methode nach dem Vorbilde der Sprachwissenschaft richten werden. Zweitens wußte ich, daß die Indogermanistik der einzige wirklich gut durchgearbeitete Teil der Sprachwissenschaft ist, und daß man eben an ihr die richtige sprachwissenschaftliche Methode lernen kann. Ich ergab mich also mit großem Fleiße den durch das Programm der Sprachwissenschaftliehen Abteilung vorgeschriebenen Studien, setzte aber dabei auch meine eigenen Studien auf dem Gebiete der kaukasischen Sprachwissenschaft und der Folkloristik fort. Im Jahre 1911 forderte mich Prof. V. Miller auf, einen Teil der Sommerferien auf seinem Gute an der kaukasischen Küste des Schwarzen Meeres zu verbringen und in den benachbarten tscherkessischen Dörfern die tscherkessische Sprache und Volksdichtung zu erforschen. Ich leistete dieser Aufforderung Folge und setzte auch im Sommer 1912 meine tscherkessischen Studien fort. Es gelang mir, ein ziemlich reichhaltiges Material zu sammeln, dessen Bearbeitung und Veröffentlichung ich bis nach der Absolvierung der Universität verschieben musste. Großen Nutzen bekam ich bei meiner Arbeit vom persönlichen Verkehr mit Prof. Miller, dessen Ansichten über Sprachwissenschaft freilich etwas altmodisch waren, der aber als Folklorist und als tüchtiger Kenner der ossetischen Volkskunde mir viele wertvolle Ratschläge und Anweisungen gab.’
Die Fortunatovsche Schule, die damals beinahe alle linguistischen Lehrstühle der Moskauer Universität beherrschte, wurde von Meillet sehr richtig als die höchste Verfeinerung und philosophische Vertiefung des junggrammatischen Verfahrens bezeichnet. Die Gesetzmässigkeit jedes sprachlichen Geschehens, die Form als das maßgebende Sprachspezifikum und die Notwendigkeit, jede einzelne Sprachebene als ein autonomes Teilganzes zu betrachten wurden hier folgerichtig bis zu Ende gedacht, wenn auch die Begriffe der mechanischen Kausalität und der genetischen Psychologie ihre Geltung hier stets bewahrten und die Auffassung der sprachlichen Empirie wie ehedem rein naturalistisch blieb. Die Universitätslehrer Trubetzkoys — der strenge Komparatist W. K. Porzezinski, der feinfühlende, künstlerisch veranlagte Slavist V. N. Ščepkin und der klassische Philologe M. M. Pokrovskij waren durchwegs unmittelbare Schüler Fortunatov’s, die die Lehre und die hohe linguistische Technik des großen Denkers und Forschers treu übermittelten, aber was für sie ein unabänderliches Dogma war, wurde für den freisinnigen Schüler zum Ausgangspunkt einer gründlichen, mitunter vernichtenden Kritik. Nichtsdestoweniger bleibt Trubetzkoy ein wahrhafter Fortsetzer der Moskauer Schule, er behält im wesentliehen ihre Auswahl der Forschungsprobleme und ihre Kunstgriffe, er sucht während der ersten Periode seiner sprachwissenschaftlichen Tätigkeit ihren Gesichtskreis zu erweitern und ihre Prinzipien genauer zu fassen und fortzubilden, — er steigert die Aktiva der Schule und sucht dann im letzten Lebensdezennium sich von ihren obenangedeuteten Passiva Schritt für Schritt zu befreien.
Schon als Student versuchte Trubetzkoy die vergleichende Methode in der Fortunatovschen Prägung aus der Indogermanistik auf die nordkaukasischen Sprachen zu übertragen. Im Frühjahr 1913 hielt er am Tifliser Kongress der russischen Ethnologen zwei Vorträge über mythologische Relikte im Nordkaukasus und einen über den Bau des ostkaukasischen Verbums, und er arbeitete eifrig an der vergleichenden Grammatik der nordkaukasischen Sprachen, die die Urverwandtschaft der beiden nordkaukasischen Zweige — des ostund westkaukasischen, ausführlich begründen sollte, während die Frage der vermeintlichen Verwandtschaft dieser Sprachfamilie mit den kartvelischen Sprachen ihm als vorläufig unlösbar erschien. Diese Arbeit und seine reichhaltigen sprachlichen und folkloristischen Aufzeichnungen aus dem Nordkaukasus, bes. aus dem Tscherkes- senland, gingen leider in Moskau während des Bürgerkrieges, zusammen mit zahlreichen Studien aus der altindischen, ostfinnischen und russischen Verslehre, verloren, und nur einen kleinen Teil seiner kaukasologischen Erfahrung gelang es dem Sprachgelehrten wiederherzustellen. Trotzdem arbeitete er auch im Ausland auf diesem verwickelten Gebiet unermüdlich weiter, veröffentlichte in den Fachzeitschriften eine Reihe bahnbrechender Studien, und seinem ursprünglichen Misstrauen zuwider musste er dabei unvermeidlich, unter dem Druck des eigenartigen Forschungsstoffes, auf die Frage der ‘ typologischen Verwandtschaft ‘ und derjenigen der Nachbarsprachen im besonderen stoßen. So kam er zum Problem der ‘ Sprachverbande ‘ (s. Evrazijskij Vremennik III, 1923, 107 ff. und die Akten des I., II. und III. Linguistenkongresses), dessen Tragweite ihm immer deutlicher wurde (vgl. Sbornik Matice slovenskej XV, 1937, 39 ff. und Proceedings des III. Kongresses für phonetische Wissenschaften, 499).
Von der fremden Sprachwissenschaft war es die deutsche, die in den Gesichtskreis der Moskauer Schule stets gehörte, und Trubetzkoy wurde gemäß der Tradition nach Leipzig geschickt, wo er im Wintersemester 1913/14 die Vorlesungen von Brugmann, Leskien, Windisch und Lindner besuchte, das Altindische und Avestische intensiv studierte und mit den rhythmisch-melodischen Studien Sievers’ sich kritisch auseinandersetzte. Von Leskien behielt er den Eindruck einer gewaltigen Persönlichkeit, dem das Geleise der junggrammatischen Doktrin allzueng wurde ; überhaupt kehrte der junge Gelehrte mit der Vorstellung einer gewissen hemmenden Müdigkeit der deutschen Linguistik zurück, stellte ihr entschlossen die Antriebskraft der neuen französischen Sprachwissenschaft gegenüber, bewunderte die Frische der Gedanken in den Principes de linguistique psychologique von J. van Ginneken, und diese neuen, abweichenden Strömungen befestigten seinen Kritizismus und spornten sein Suchen an. Diese beiden Elemente waren für ihn naturgemäß verbunden, und er betonte ständig, der Kritizismus müsse konstruktiv sein, sonst entarte er unvermeidlich in eine selbstgenügende anarchische Zerstörungsarbeit, die der Forscher direkt haßte. Die beiden öffentlichen Probevorlesungen, mit denen die Habilitationsprüfungen Trubetzkoy’s 1915 abgeschlossen wurden — Die verschiedenen Riehungen der Vedaforschung und Das Problem der Realität der Ursprache und die modernen Rekonstruktionsmethoden — wurden zu programmatischen Erklärungen eines schöpferischen Revisionismus, und die ersten konkreten Schritte auf diesem Wege ließen nicht auf sich warten.
Im akademischen Jahre 1915/16 hielt Trubetzkoy als neu approbierter Privatdozent für vergleichende Sprachwissenschaft an der Moskauer Universität Vorlesungen über Sanskrit und beabsichtigte im nächsten Jahr Avestisch und Altpersisch vorzutragen. Er befaßte sich damals, wie er selbst erzählt, hauptsächlich mit iranischen Sprachen, weil diese von allen indogermanischen am meisten auf die kaukasischen Sprachen eingewirkt hatten, welche doch sein Hauptinteresse heranzogen ; plötzlich aber traten für ihn die slavischen Sprachen in den Vordergrund. Den Anlaß gab das neue Buch des führenden russischen Slavisten A. A. Šachmatov Abriß der ältesten Periode in der Geschichte der russischen Sprache (1915). Der persönlichste Schüler Fortunatov’s, mit einer breiten Tatsachenkenntnis und einer seltenen Intuition ausgerüstet, versuchte hier zum ersten Mal die Summe seiner eigenen Forschung und derjenigen der ganzen Schule zu ziehen und die Lautentwicklung des Urslavischen in seinem Umbau ins Russische als ein Ganzes systematisch aufzudecken. Aber gerade bei dieser synthetischen Fassung trat die ungenügend strenge, allzumechanische Rekonstruktionsweise Šachmatov’s zu Tage. Es brach eine Zeit der Gärung und der Umwertung im Nachwuchs der Moskauer Schule an, eine Zeit der Verfeinerung und Steigerung der methodologischen Forderungen, und man wetteiferte im Aufsuchen und in der Aufklärung der Fehlgriffe des Abrisses, ja ein ganzes Kolleg des jüngsten Schülers Fortunatov’s, N. Durnovo, wurde der Besprechung des neuen Buches gewidmet. Doch das wesentlich Neue am lebhaft bestrittenen und von der jüngeren Generation völlig anerkannten Vortrage über die Šachmatovsche sprachgechichtliche Konzeption, welchen Trubetzkoy im damaligen Zentrum des Moskauer linguistischen Lebens, in der Dialektologischen Kommission gehalten hat, lag in der durchdringenden Tragweite dieser kritischen Analyse : sie zeigte, daß manche grundsätzliche Fehler Šachmatov’s schon im Verfahren Fortunatov’s wurzeln, nämlich in seinen Entgleisungen von den eigenen Grundprinzipien. Trubetzkoy suchte diese Widersprüche zu beseitigen und die Grundsätze der Schule methodologisch genau und folgerichtig, ja genauer als ihr Urheber selbst, anzuwenden, ‘ Ich faßte ‘, sagt Trubetzkoy, ‘ den Plan, ein Buch unter dem Titel Vorgeschichte der slavischen Sprachen zu schreiben, worin ich mit Hilfe einer perfektionierten Rekonstruktionsmethode den Vorgang der Entwicklung der slavischen Einzelsprachen aus dem Urslavischen und des Urslavischen aus dem Indogermanischen zu schildern beabsichtigte.’
Als Trubetzkoy nach den stürmischen Erlebnissen der Revolutionszeit, nach abenteuerlichem und lebensgefährlichem Wandern durch den Kaukasus im Bürgerkriege zerlumpt und verhungert beim Rektor der Rostover Universität, trotz dem harten Widerstand der Diener gegenüber dem verdächtigen Vagabunden, erscheint und dort (1918) Professor der slavischen Sprachen wird, widmet er sich vollständig seinem Buche, beendet im wesentlichen die Lautgeschichte und skizziert die Formenlehre, doch Ende 1919 muß er wieder jählings die Flucht ergreifen, und seine ganze Arbeit geht wiederum im Manuskript verloren. Er steht in Konstantinopel vor der tragisch-grotesken Wahl, Schuhputzer zu werden oder weiter heldisch und von seiner heldischen Frau unterstützt, trotz allen Ränken des Schicksals weiter um die Wissenschaft zu kämpfen. Es gelingt ihm, sich in Sofia als Dozent für vergleichende Sprachwissenschaft niederzulassen, und zwei Jahre später (1922) wird er, besonders dank dem klarsehenden Gutachten Jagič’s, Professor der slavischen Philologie an der Universität Wien.
Mit der Beharrlichkeit eines Glaubeneiferers sucht Trubetzkoy seine eingebüßte Vorgeschichte wiederherzustellen, ja er baut sie um und erweitert sie. Folgende Grundgedanken lenken die Arbeit : es ist ebenso verfehlt, die urslavischen Vorgänge auf eine Zeitebene zusammenzuwerfen, wie die Eroberungen Casars und Napoleons als synchronisch auffassen zu wollen ; das Urslavische hat eine lange und verwickelte Geschichte, und mittels einer relativchronologischen Analyse ist die vergleichende Sprachwissenschaft imstande, sie aufzudecken und aufzuzeichnen ; die gleichzeitigen sowie die nacheinanderfolgenden Ereignisse müssen in ihrem inneren Zusammenhange untersucht werden, und hinter den Einzelbäumen darf man nicht den Wald als Ganzes, die Leitlinien der Entwicklung übersehen. Fortunatov lehnte zwar im Grundsatz die naturalistische Stammbaumtheorie entschieden ab, doch bleiben trotzdem ihre Überreste in seiner sprachhistorischen Forschungsarbeit und eigentlieh in der üblichen komparatistischen Praxis überhaupt vorhanden, wogegen Trubetzkoy die Schleichersche sprachgenealogische Auffassung zugunsten der Wellentheorie restlos und konsequent aufgibt ; demzufolge betrachtet er die einzelnen slavischen Sprachen in ihrer Anfangsperiode als bloße Mundarten innerhalb des Urslavischen ; die Anfänge seiner Differenzierung erklärt er geistreich durch die ‘ Unterschiede im Tempo und in der Richtung der Verbreitung gemeinurslavischer Lautveränderungen ‘ und durch die daraus folgende verschiedenartige Reihenfolge dieser Veränderungen in den einzelnen Dialekten. Das Urslavische als ‘ Subjekt der Evolution ‘ lebt, wie Trubetzkoy überzeugend zeigte, bis zur Schwelle unseres Jahrtausends, als der letzte gemeinslavische Lautwandel, der Verlust der schwachen Halbvokale, sich zu verbreiten anfing.
Es erschienen in den slavistichen Zeitschriften der zwanziger Jahre bloß einzelne, wenn auch ausgezeichnet zusammenfassende Bruchstücke des lautgeschichtlichen Teils der Vorgeschichte, und doch darf man sagen, es gebe kaum in der Weltliteratur eine junggrammatische Schilderung der Sprachdynamik, die dermaßen ganzheitlich vorgehe. Selbst die offenbaren fremden Einflüsse, wie z. B. die Lehre Meillets von den ursprachlichen Dialekten oder die Gedanken Bremers und Hermanns über die relative Chronologie, sind hier so tief und organisch bis zu den feinsten logischen Folgerungen verarbeitet, daß das Werk eine selten persönliche Prägung behält. Weshalb wurde dieses Buch nie vollendet ? Kaum war da ein Zufall, wenn auch mehrere zufällige Hindernisse im Wege standen.
Am Anfang der Arbeit war für Trubetzkoy (ähnlich wie für Fortunatov und Leskien) die indogermanische Erbschaft im Urslavisehen das bemerkenswerteste, und Spuren der versunkenen morphologischen Kategorien hier zu suchen blieb stets seine große Vorliebe und Kunst (vgl. S lavia I, 12 ff. und ZfslPh IV, 62 ff.). Doch mußte er in Wien die einzelnen slavischen Sprachen und Literaturen vortragen, und seine Lehrpflichten nahm er, der geborene und vollkommene Lehrer, bis zu einer asketischen Opferwilligkeit ernst (vgl. den Nachruf seines besten linguistischen Schülers A. V. Isačenko in der Slav. Rundsch. X). Er stellte sich zur Aufgabe, jede dieser Sprachen in ihrer Entwicklungsgeschichte selbständig durchzuprüfen. So bekam in seinen Vorlesungen die Vorgeschichte der slavischen Sprachen ihre gesetzmäßige Fortsetzung, die auch auf die prähistorischen Stufen mehrmals ein neues Licht warf and auch für diesen Fragenkreis Ergänzungen und Korrekturen forderte. Auch auf die Entwicklung der einzelnen slavischen Sprachen wendet Trubetzkoy das streng vergleichende Verfahren an ; dem Fortunatovschen Gedanken treuer als Fortunatov selbst, betont er bei seiner bahnbrechenden Darstellung der russischen Lautgeschichte (ZfslPh I, 287 ff.), die komparatistische Methode spiele hier naturgemäß ‘ eine größere Rolle als die rein-philologische ‘, und folgerichtig erfaßt er die den rechtgläubigen Komparatisten sonderbarerweise entgangene Notwendigkeit, das Altkirchenslavische durch den Vergleich seiner tschechischen und bulgarischen Rezension wiederherzustellen. Nur Weniges von diesen durchdachten Studien ist im Drucke erschienen, und erst wenn seine Aufzeichnungen zu den sprachhistorischen Vorlesungen herausgegeben werden, und wenn es uns hoffentlich gelingt, seine zahl- und inhaltreichen linguistischen Briefe (Trubetzkoy’s Lieblingsgattung !) zu veröffentlichen, wird die Tiefe, Breite und Originalität seiner Forschungsausbeute noch anschaulicher hervortreten.
Einerseits erweiterte sich das Programm der Vorgeschichte, andererseits wurde seine Verwirklichung durch literarhistorische Vorlesungen und kulturwissenschaftliche Studien verzögert. Doch waren die einen wie die anderen auch für die Linguistik ergebnisreich. Die Probleme der dichterischen Sprache, in der heimatlichen wissenschaftlichen Tradition mannigfaltig vertreten, von F. E. Korš (einem der ruhmvollen ‘ Moskauer ’ neben seinen Mitgenossen Fortunatov und Miller) geistvoll gepflegt und von den russischen Wortkünstlern unseres Jahrhunderts praktisch und theoretisch zugespitzt, mündeten um die Revolutionsjahre in der Fassung der jungen Sprachund Literaturforscher Rußlands in ein harmonisches System der streng linguistisch (bzw. semiologisch) fundierten Poetik (bzw. Ästhetik). Trubetzkoy, den die Fragen der linguistisch geprüften Metrik von Jugend an lockten, näherte sich allmählich den Prinzipien dieser (in den slavischen Ländern heutzutage einflußreichen) ‘formalistischen Schule, verstand ihre mechanistischen Entgleisungen zu überwinden, zeigte das Schaffen Dostojevskij’s in einem ungewohnten, doch für die Dichtung als solche maßgebenden, rein linguistischen Aspekt und legte vor allem die Grundsteine zur Untersuchung der altrussischen Wortkunst, — eine Tat, die nicht nur eine unbekannte Welt eigenartiger und erhabener Kunstwerte wissenschaftlich entdeckt, sondern zugleich die methodologisch wichtige Frage der Werthierarchien im allgemeinen aufrollt. Die kulturwissenschaftliehen Skizzen Trubetzkoy’s brachten ihm die Problematik der Schriftsprache nah und bereicherten die Sprachwissenschaft durch seine schöne Studie über die Rolle des Kirchenslavischen für das Russische, eine der glänzendsten Leistungen des Gelehrten, die für das Problem des hybriden Sprachbaus von grundsätzlicher Bedeutung ist und in der Frage der Radiationszone des zyrillischen Alphabets sich geradezu als prophetisch erwies (s. К probleme rus. samopoznanijä). Für die schöpferische Entwicklung Trubetzkoys waren die Gebiete der Wortkunst und der Sprachkultur besonders dadurch wichtig, daß sie ihn unmittelbar vor die Fragen des synchronischen Systems und der Zielstrebigkeit stellten.
Je mehr sich der Forscher mit der Lautgeschichte befaßte, desto klarer sah er ein, daß ‘ die Lautentwicklung wie jede andere historische Entwicklung ihre innere Logik besitzt, die zu erfassen die Aufgabe des Lauthistorikers ist ‘, doch letzten Endes trat das teleologische Prinzip in einen unversöhnlichen Konflikt mit der herkömmlich naturalistischen Behandlung der lautlichen Geschehnisse. Die Vorgeschichte wuchs in die Verneinung ihrer eigenen Grundlage um. Trubetzkoy war durch und durch historisch eingestellt, und solange das Problem des Phonems und der Phonemsysteme sich auf die Synchronie beschränkte, ließ es ihn, wie ehemals auch Fortunatov und seine Schüler, kühl und passiv. Die Lehren Saussures, Baudouin de Courtenays und Ščerbas lagen außerhalb seiner Problematik, da sie ‘ sich einfach von der Sprachgeschichte abwandten’. Er billigte zwar (Slavia II, 1923, 452 if.; BSL XXVI, 3, 1925, 277 ff.) meinen Versuch einer phonologischen Prosodie, gleich wie die Untersuchung Jakovlevs über den kabardinisehen Phonembestand, aber einzig die Frage der panchronischen prosodischen Gesetzte läßt eine Spur in seiner eigenen Arbeit. Erst als das phonologische Problem auf das Gebiet der Sprachgeschichte übergeht und ihn Ende 1926 ein aufgeregter langer Brief erreicht, der die Frage aufwarf, ob es nicht geeignet wäre, die naturwidrige Kluft zwischen der synchronischen Analyse des phonologischen Systems einerseits und der ‘ historischen Phonetik ‘ andererseits dadurch zu überbrücken, daß jeder Lautwandel als ein zweckbedingtes Ereignis unter dem Gesichtspunkt des gesamtem Systems untersucht werden soll, bringt diese Frage den Empfänger, nach seinem eigenen Ausdruck, aus dem Konzept. Er gesteht bald zu, es gebe hier keinen Mittelweg. Und als Trubetzkoy meine Thesen für den Haager Linguistenkongress (Korrelationsbegriff, allgemeine Solidaritätsgesetze, historische Phonologie) zugesandt bekam, schrieb er, er füge gern auch seine Unterschrift hinzu, bezweifle aber, daß die Fragestellung verstanden wird. Indessen erwies es sich im Haag, daß in der jungen Linguistik verschiedener Länder ein unabhängiges und doch konvergentes Streben nach einer strukturalen Auffassung der sprachlichen Synchronie und Diachronie losbricht ; das wirkte freudig ermunternd, und wenige Monate später schrieb Trubetzkoy, er habe in den Sommerferien unter andern! über Vokalsysteme nachgedacht, zirka fünfzig aus dem Gedächtnis untersucht und manches Unewartete habe sich dabei herausgestellt. Es war in nuce die Untersuchung ‘ Zur allgemeinen Theorie der phonologischen Vokalsysteme (TCLP I, 1929, 39 ff.). Man vermutete zwar schon, das phonologische System wäre keine mechanische ‘ Und-Verbindung ‘, sondern eine geordnete gesetzmäßige Gestalteinheit, aber erst er baute einen wesentlichen Abschnitt dieser Systemlehre konkret auf. Er zeigte, daß die Vielheit der Vokalsysteme auf eine beschränkte Anzahl symmetrischer, durch einfache Gesetze bestimmter Modelle hinausläuft, und stellte ihre Typologie fest. Karl Bühler sagt mit Recht, Trubetzkoy habe ‘ für die Vokalphoneme einen Systemgedanken vorgelegt, der an Tragweite und einleuchtender Einfachheit dem Systemgedanken seines Landsmannes, des Chemikers Mendeleev, gewachsen sein dürfte ‘.
Im Geiste eines wirklichen kollektiven Schaffens, in dem Trubetzkoy eine russische Erbschaft sah, wurde dann an der neuen Disziplin gearbeitet. Er pflegte unsere Zusammenarbeit mit einem Staffellauf zu vergleichen. Bald erhielt dieser Aufbau eine noch breitere Grundlage — die gemeinsamen Anstrengungen des Prager linguistischen Cercle. ‘ Die verschiedenen Entwicklungsstufen des Cercle, — schreibt Trubetzkoy, — die mit ich ihm gemeinsam erlebte, tauchen in meinem Gedächtnis auf — erst die bescheidenen Versammlungen beim Vorsitzenden (V. Mathesius), dann die heroische Zeit der Vorbereitungen zum ersten Slavistenkongress, die unvergeßlichen Tage der Prager phonologischen Konferenz und viele andere schöne Tage, die ich in der Gesellschaft meiner Prager Freunde erlebt habe. Alle diese Erinnerungen sind in meinem Bewußtsein mit einem seltsamen erregenden Gefühl verbunden, denn bei jeder Berührung mit dem Prager Cercle erlebte ich einen neuen Aufschwung der schöpferischen Freude, die bei meiner einsamen Arbeit fern von Prag immer wieder sinkt. Diese Belebung und Anregung zum geistigen Schaffen ist eine Äußerung des Geistes, welcher unserer Vereinigung eigen ist und aus der kollektiven Arbeit der befreundeten Forscher entsteht, die in einer gemeinsamen methodologischen Richtung gehen und von gleichen theoretischen Gedanken bewegt sind.’ Hier möchten wir aber vor allem den maßgebenden persönlichen Beitrag Trubetzkoys in knappen Worten ins Gedächtnis bringen.
Glücklich verband er den Korrelationsbegriff mit der Lehre Saussures über die phonologische Gegenüberstellung eines Vorhan- denseins und Nichtvorhandenseins und entwickelte mit Martinet den damit eng zusammenhängenden Begriff der Oppositionsaufhebung (TCLP VI) ; Jakovlev’s treffenden Anregungen folgend, vollbrachte er eine scharfe Analyse aller konsonantischen Korrelationen (TCLP IV) und baute eine tragfähige Systematik der Grenzsignale auf (Proceedings of the Second Int. Congr. of Phonetic Sciences) ; er machte den ersten, tastenden Versuch einer Einteilung der phono- logischen Oppositionen (Journ. de Pysch. XXXIII) ; er besprach eingehend die Technik der phonologischen Sprachbeschreibungen (Anleitung zu phonologischen Beschreibungen, 1935) und gab einige mustergültige Beispiele : das Konsonantenverzeichnis der ostkau- kasischen Sprachen (Caucasico. VIII), die Morphonologie des Russischen (TCLP V, 2) und die erschöpfenden Monographien über das Polabische (Sitzb. Ak. Wiss. Wien, phil-hist. Kl., CCXI, Abh. 4) und das Altkirchenslavische. Zur letzteren sind bisher nur die Vorstudien veröffentlicht, aber hoffentlich erscheint bald auch das beinahe fertiggeschriebene Handbuch.1 Es ist interessant, daß die beiden Monographien tote Sprachen behandeln, deren Phonem- bestand erst durch eine sorgfältige Analyse des Schriftsystems in seinem Verhältnis zum phonologischen System festgestellt wird, und auch in diesem Sinne sind die beiden Arbeiten wirkliche Meisterstücke, die die Fortunatovsche Tradition fortsetzen und würdig krönen : das Problem der Wechselseitigkeit zweier autonomen Systeme — der Schriftnorm und der Lautnorm lockte stets die Aufmerksamkeit der Moskauer Schule ; die polabische Spielart dieses Problems fesselte schon Porzezinski sowie Ščepkin, und Trubetzkoy beabsichtigte, seine Polabischen Studien dem Andenken des ersten zu widmen ; der altkirchenslavischen Schrift und Orthographie gelten die feinsten Beobachtungen Fortunatovs und in der neueren Zeit die ursprünglichsten Erwägungen Durnovo’s, an die Trubetzkoy anknüpft ; ‘ Alphabet und Lautsystem ‘ wird ihm zum Ausgangspunkt seiner phonologischen Forschung, und er glaubt, eine autonome Graphemenlehre nach dem Vorbild der Phonemenlehre entstehen zu sehen (Slovo a Slovesnost I, 133).
Die Phonologie der beiden toten Sprachen ist zwar bei Trubetzkoy streng synchronisch gefaßt, doch die Projektion des statischen Querschnittes in die Vergangenheit ist für ihn offenkundig eine Vorstufe der diachronischen Forschung. Als Antithese der histo- rischen Phonetik, welche die erste Etappe seines Schaffens beherrschte, trat in der weiteren Etappe die synchronische Phonologie ein, die Diachronie wurde von jetzt an nur in zwei episodischen Beiträgen angetastet (Festschrift Miletič 1933, 267 ff. und Księga referatów des II. Slavistenkongresses 1934, 133 ff.), und doch bleibt die Lautgeschichte die verborgene Triebkraft seines Suchens, und Trubetzkoy strebt zur historischen Phonologie als dialektischer Synthese. Er weiß, wie große und grundsätzlich neue Aufgaben hier den Forscher erwarten, wie eingehend das Rekonstruktionsverfahren sich ändern muß, wie viele Überraschungen der weitere Fortschritt der phonologischen Geographie, bes. ein entsprechender Weltaltlas, beibringen kann, und wie selbst das Problem einer Ursprache, beispielsweise des Urindogermanischen, in einem wesentlich neuen Lichte hervortritt (vgl. Acta Ling. I, 81 ff.). In seinem Handbuch des Altkirchenslavischen versucht Trubetzkoy, die methodologische Erfahrung der Phonologie auch auf das Gebiet der Formenlehre zu erweitern (ausser dem Kasuskapitel hielt er diesen Teil des Werkes im großen und ganzen für fertig). Der systematische Aufbau der strukturalen Morphologie, besonders einer Typologie der morphologischen Systeme kommt für ihn an die Reihe, sowie die gleichlaufende (in Mélanges Bally, 75 ff. angedeutete) syntaktische Problematik. Und endlich schwebte ihm eine strukturale Betrachtung des Wortschatzes als eines gesetzmäßigen Systems immer deutlicher vor (vgl. TCLP I, 26 f.).
Doch das alles zu verwirklichen war ihm leider nicht mehr vergönnt, und er ahnte es. Unermüdlich schrieb er, mit dem Tode im Herzen, an den Grundzügen der Phonologie (TCLP VII), seinem herrlichen Synthesebuch, das er als den Etappenabschluß betrachtete und als eine fördernde Grundlage zu den sich immer mehrenden phonologi- sehen Sprachbeschreibungen sowie zu einer weiteren sachlichen, fruchtbaren Diskussion.
‘ Die Lebensfrist ist schon kurz,—schrieb einst Sergej Trubetzkoy, — und man muß sich beeilen, alles, was noch möglich, aus der geistigen Ernte einzuheimsen, — nur daß es nicht zu spät sei.’ —- ‘ Dieses Vorgefühl täuschte leider nicht, — fügt sein Bruder hinzu, — das Herz hielt nicht aus... und er verschied in der vollen Blüte seiner Kräfte... Vor Entrüstung und Schmerz um der Anderen willen verschmachtete er und starb.’ Das tragische Schicksal des Vaters wiederholte sich buchstäblich. Der Mensch, der das Zeitalter rühmte, in dem die gesamte Wissenschaft die atomisierende Weltauffassung durch den Strukturalismus zu ersetzen sucht, und der zu seinen größten und wackersten Vorkämpfern gehörte, scheute in seinem bewegten Leben einzig die seelenlose Vertilgung der Geisteswerte.
Source : Roman Jakobson, ‘ Necrologie Nikolaj Sergejevič Trubetzkoy, (16 April 1890-25 Juni 1938),’ Acta Linguistica 1.64-76 (1939). By permission of the author.
1 Die Bibliographie der gesamten veröffentlichten Schriften Trubetzkoys ist in TCLP VIII enthalten. Seine Altkirchenslavische Grammatik erschien in Wien, 1954.
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