“FRANZ NIKOLAUS FINCK (1867-1910)” in “Portraits of Linguists: A Biographical Source Book for the History of Western Linguistics, 1746-1963, V. 2”
FRANZ NIKOLAUS FINCK (1867-1910)
Nachruf auf Franz Nikolaus Finck
Ernst Lewy
In der Nacht vom 3. zum 4. Mai 1910 starb der ausserordentliche Professor der allgemeinen Sprachwissenschaft an der Universität Berlin Franz Nikolaus Finck nach monatelangem Leiden in Südende bei Berlin.
Es ist nicht der in Nachrufen übliche hohe Stil, und nicht persön- liehe Trauer, die mich veranlassen, von einem unersetzlichen Verlust zu sprechen. Auch bei der ruhigsten Überlegung kann ich nicht finden, dass diese Worte übertrieben sind. Allerdings ist wohl nicht vielen die Größe des Verlustes bewusst.
Trotz der Bedeutung, die er sich in der Sprachwissenschaft erworben hat, war sie es nicht, die er sich, trotz früher philologischer Neigungen, zunächst zum Lebensberuf gewählt hatte. Die knappen Daten seines äußeren Lebens (entnommen aus ‘ Deutschlands, Österreich-Ungarns und der Schweiz Gelehrte, Künstler und Schrift- steller in Wort und Bild ‘, Hannover 1910) zeigen es : ‘ geb. 26. VI. 1867 in Krefeld, nach Erlangung des Reifezeugnisses des Gym- nasiums ebd. 1886-1891 im aktiven Heeresdienst. Nach dem Ausscheiden bis 94 Sprachstudien an den Universitäten München, Paris und Marburg. Dort am 13. III. 95 in der phil. Fakultät promoviert und am 6. VI. 96 für vergleich, (indogermanische) Sprachwissenschaft habilitiert. 00-02 in Kaukasien zum Studium der dortigen Völker und Sprachen. 28. II. 03 Habilitation an der Universität Berlin f. allgemeine Sprachwissenschaft, 6. III. 07 zum Titularprofessor ernannt, am 15. II. 07 mit der Vertretung der Südseesprachen am Orientalischen Seminar zu Berlin beauftragt, am 17. VI. 09 zuma.-o. Professor der allgemeinen Sprachwissenschaft an der Universität Berlin ernannt ‘. Zu erwähnen ist vielleicht noch, dass der Promotion ein Aufenthalt in St. Petersburg vorausgeht, zwischen ihr und der Habilitation ein Aufenthalt in Irland liegt.
Ein großer Teil seiner Arbeiten knüpft sich ohne weiteres an dieses sein äusseres Leben an, seine Arbeiten auf baltisch-slawischem (bzw. indogermanistischem) Gebiet, auf keltischem, armenischem, zigeunerischem, georgischem, polynesischem (speziell samoanischem), bantuischem Gebiet, denen auch noch eine grönländische angereiht sei. Diesen Arbeiten hätten sich noch manche angeschlossen, und bedeutende Anfänge sind vorhanden zu einem samoanischen Glossar und zu einem georgischen Verbalwurzelverzeichnis (nach Art von Whitneys Arbeit für das Sanskrit), ferner sei erwähnt eine Arbeit über ‘ die Gliederung des aztekischen Satzes ‘, aus der schon manches in der wichtigen Abhandlung ‘ Der angeblich passivische Charakter des transitiven Verbs י (KZ 41, 209-282) übernommen ist.
Alle diese Arbeiten (besonders auch die literarhistorischen Skizzen des Armenischen und des Georgischen in Hinnebergs ‘ Kultur der Gegenwart ‘) lassen deutlich eine ganz bestimmte Geistesrichtung durchblicken, aber sie geben doch nur Fragmente der eigentlichen Grundideen Fincks. Die Arbeiten ließen wohl manchen Spezialisten auf einen neuen tüchtigen Spezialisten hoffen, aber sie, die gewiss allein schon eine Lebensarbeit ausmachen, sind es nicht, auf die Finck Wert legte (er betrachtete sie als notwendige Vorarbeiten), und auf denen auch, meiner Überzeugung nach, seine höchste Bedeutung beruht ; ja im Grunde würden sie auch noch nicht den in seinen Anfängen so gar nicht einfachen Lebensgang — wie er eigentlich bei einem Gelehrten ganz unvorschriftsmäßig ist — erklären, indem es nämlich scheint, dass der Zugang zu den letzten, den eigentlichen Grundproblemen der Sprachwissenschaft nicht auf direktem Wege zu erlangen ist.
Finck hat nämlich noch drei kleine Schriften verfasst, über die — im Gegensatz zu seinen anderen Werken — die Stimme der Kritik meist etwas belegt klang, die aber den eigentlichen Kern seines geistigen Lebens bilden : Der deutsche Sprachbau als Ausdruck deutscher Weltanschauung (Marburg 1899), Die Klassifikation der Sprachen (Marburg 1901), und Die Aufgabe und Gliederung der Sprachwissenschaft (Halle 1905), die ganz klar die Richtung seiner Wissenschaft ausdrücken, und zwar eine Richtung, die gewissermaßen der ganzen heute herrschenden Sprachwissenschaft zuwider- läuft. Und diese Gegensatzstellung erklärt auch die teilweise Schärfe, ja Ubertriebenheit des Ausdrucks, die aber verständlich, ja not- wendig erscheint, wenn man eben diese Kampfstellung Fincks bedenkt.
Finck erklärte nämlich rund heraus, und mit unerhörter Deutlich- keit, dass die historische Sprachbetrachtung — zu der vorgedrungen zu sein wir uns heute1 meist rühmen — durchaus noch nicht der Wahrheit letzter Schluss sei. Die Erklärung einer heutigen Sprach- form durch die Zurückführung auf eine ältere wäre in Wahrheit überhaupt noch keine Erklärung ; eine Erklärung könne nur statt- finden durch die Verknüpfung der Art des Sprechens eines Volkes (oder einer Persönlichkeit, möchte ich hinzufügen) mit der betreffen- den geistigen Eigenart.
Zu dieser Auffassung wurde Finck natürlich nicht lediglich durch abstrakte Gedankenoperationen geführt, sondern sie folgt aus der ganz besonderen Art seiner Anlage, die der in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts häufigeren zum Historiker nicht entsprach. Finck hat zwar selbstverständlich die Macht und die Wichtigkeit der Geschichte anerkannt ; aber er besaß eben nicht die den Historiker schaffende Freude an der Ähnlichkeit gewisser Dinge einer Periode mit denen einer anderen — an der Betrachtung einer ‘ Entwicklung , sondern mit einem seltenen, stark ästhetischen Sinn für Individualitäten begabt (ähnlich wie Humboldt), musste er die Sprachen nicht in ihrem Werden, sondern in ihrem Sein, eben die Verschiedenheiten der einzelnen sprachlichen Individualitäten erfassen, ohne sich dabei an ‘ Verwandtes י zu erinnern. Und wer zu dieser Auffassung gelangt, der wird mit Notwendigkeit dahin geführt, eine Erklärung für die ihm entgegentretende Verschiedenheit der Sprachen zu suchen, und es bleibt ihm keine andere, als durch die Verschiedenheit der Völker. Die Erwägung aller Entlehnungsmöglichkeiten kann diese Ansicht nicht umstoßen, denn eben auch die Umformung der Entlehnungen wäre für die betreffende geistige Eigenart charak- teristisch.
Dass Finck mit dieser seiner Auffassung von Sprachwissenschaft, deren Kern vielleicht in kürzester Weise so umschrieben werden könnte : die Sprachen drücken die verschiedenen geistigen Anlagen der Sprecher aus, der üblichen Sprachgeschichte scharf gegenübersteht, und auch sehr fern steht einer Sprachpsychologie, die allen Sprachen gemeinsame Gesetze auszumitteln strebt, ist wohl ohne weiteres klar. Schon die Aufstellung dieses Zieles war eine Tat. Denn so wird es möglich, das unendliche Material, das die Forschung herbeigebracht hat, nicht als einen Haufen von Tatsachen (die man allenfalls gruppieren kann) aufzufassen, sondern als die Folge einer wirkenden Ursache. Finck setzte da die Arbeit fort, die Humboldt begonnen hatte, die im 19. Jahrhundert aber wenig gefördert worden ist. Und mit derselben Klarheit über sich selbst, mit der er beinahe jeder seiner Arbeiten die Stelle in der Entwicklung der Wissenschaft anweisen konnte, hat er als die Männer, denen er seinerseits am meisten zu verdanken hat, genannt : Humboldt, Steinthal, G. v. d. Gabelentz, Misteli, Friedrich Müller, Winkler und Byrne, und er hat in späterer Zeit, als er noch schärfer seine Eigenart ausgebildet und erkannt hatte, zwei von diesen, Gabelentz und Friedrich Müller, weggelassen.
Aber auf Programme und Anschauungen kommt es ja gar nicht so sehr an, und Finck hat denn auch nicht mit der Aufstellung von Prinzipien angefangen, sondern mit kühnem Mut hat er kausale Verknüpfung zwischen geistiger Art und Sprache schon 1899 in seinen Vorträgen ‘ Der deutsche Sprachbau als Ausdruck deutscher Weltanschauung’ versucht. Er war sich der Kühnheit dieses Versuchs, besonders in späteren Jahren, wohl bewusst, und doch ist es ein Glück, dass er dies Buch geschrieben hat. Es ist nicht schmei- chelhaft für die Herren Kritiker, dass sie allesamt über leere Komplimente oder ärgerliche Kritik nicht hinausgekommen sind. Nur einer von ihnen, Heinrich Winkler, hat, trotz vielfachen scharfen Widerspruchs, die überragende Bedeutung der Arbeit erkannt, und mit dieser Anerkennung dem noch ringenden Manne auch menschlich einen großen und guten Dienst erwiesen. In der zünftigen Wissen- schaft hat das Buch, von dem Finck selbst (1909) sagte, dass ‘ es von der Mehrzahl der Fachgenossen gewissermaßen gar nicht ernst genommen wurde kaum gewirkt.
Den in seinem ersten allgemeine Ziele erstrebenden Buche ge- machten Versuch mit größerem Wissen und größerer Reife zu erneuern, war eines der vielen Vorhaben Fincks. Von der in diesem Sinne geplanten 3-bändigen ‘ Charakteristik der Haupttypen des Indogermanischen י ist jedoch noch nichts so ausgeführt, dass es veröffentlicht werden könnte.
Wenigstens aber die Verschiedenheit der menschlichen Rede zu veranschaulichen hat Finck noch kurz vor seinem Tode Gelegenheit gefunden in einem kleinen Buche ‘ Die Haupttypen des Sprachbaus ‘. Die Menge geistiger Arbeit und Zucht, die in diesem kurzen Buche steckt, wird der (vielleicht allerdings auch nur der) zu würdigen wissen, der selbst einmal versucht hat, sich in den Geist einer nichtindogermanischen Sprache einzuleben und sie darzustellen, und bei seinen Bemühungen auf Schritt und Tritt die Fesseln gefühlt hat, die einem die eigene Sprach- und Denkgewohnheit und speziell die Termini der lateinischen Schulgrammatik auflegen. Es ist ja eigentlich wohl selbstverständlich, dass ein Nachfolger seinen Vorgänger übertrifft, weil ihm dessen Leistung schon zur Verfügung steht. Aber Finck hat die Leistung seiner Vorgänger wirklich weitergeführt. Man vergleiche, um sich davon zu überzeugen, nur einmal die einander entsprechenden Abschnitte bei Steinthal und bei ihm. Mit größter Ruhe hat er den Bau der behandelten Sprachen zur Anschauung gebracht, jede Wertung, dieja in den Forschern nicht-indogermani- scher Nationalität und bei den reinen Historikern schon von vorneherein ein starkes und gewiss auch vielfach berechtigtes Misstrauen erregt, vermieden, und auch alle seine theoretischen Überzeugungen bei der Darstellung zurückgedrängt. Und gerade weil Finck hier mit ganz rücksichtsloser Sachlichkeit geschaffen hat, habe ich die Hoffnung, dass dieses Buch am meisten seine Ideen verbreiten wird, da diese sich dem Leser bei der Lektüre des Buches fast mit Not- wendigkeit aufdrängen.
Hervorzuheben ist auch, dass diese Sprachskizzen durchaus nicht nur eine allerdings glänzende Verarbeitung vorliegenden Materials darstellen, sondern dass sie vielfach aus tiefster Kenntnis der Sprachen heraus gearbeitet sind und eine Fülle von schwer erreichbaren Einzelheiten bieten. Man sehe sich einmal die bisherigen gram- matischen Hilfsmittel zum Studium des Samoanischen an, oder die (gewiss auch vielfach fördernde) Grammatik des Georgischen von A. Dirr. Immer wird die seltene Klarheit des Blickes und die ruhige Objektivität der Auffassung bei Finck in Erstaunen setzen. Freilich verlangt auch dieses Buch Fincks, wie alle seine Schriften, die intensivste Mitarbeit des Lesers, und Finck hat, wie die zahlreichen Missverständnisse zeigen, denen er auch von Wohlgesinnten aus- gesetzt war, da oft den Menschen zu viel zugetraut. Hoffentlich wird aber dieses doch nicht hindern, dass seine Lebensarbeit wirkt. Er hat sich selbst gefreut, dass mehrfach den seinen ähnliche Anschauungen sich letztlich äusserten. Wir hoffen also, dass die Zeit gekommen ist, dass auch seine Lebensarbeit zur Würdigung und zur Wirkung gelangt. Sollte es ihm aber doch so ergehen wie Humboldt, der erst wieder entdeckt werden muss, so werden dennoch auch so, solange es Sprachforscher gibt, diese in seinen Schriften Anregung und Erquickung finden können an der Schärfe, Feinheit und Rücksichtslosigkeit seines Denkens und Beobachtens und an seinem Mute zur Wahrheit.
Source : Ernst Lewy, ‘ Nachruf auf Franz Nikolaus Finck,’ Lexis 3.158-162 (1953). By permission of the author.
1 d. i. 1910! (Anm. des Herausg.).
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