“ZOLTÁN GOMBOCZ (1877-1935)” in “Portraits of Linguists: A Biographical Source Book for the History of Western Linguistics, 1746-1963, V. 2”
ZOLTÁN GOMBOCZ (1877-1935)
Zoltán von Gombocz
Nikolaus Zsirai
Tief erschüttert will ich versuchen, ein Bild von Gombocz1 Laufbahn, seiner Wirksamkeit und seiner wissenschaftlichen Bedeutung zu geben. Wenn es auch schon ein halbes Jahr her ist, daß er mit so tragischer Plötzlichkeit von uns schied, ist es doch schwer, sich in den Gedanken zu finden, daß sein befruchtender, richtunggebender, schöpferischer Geist von nun an aus dem ungarischen, wissenschaftliehen Leben verschwunden ist. Nur schwer können wir uns daran gewöhnen, daß er nicht mehr unter uns ist, und doch fühlen wir ihn als eine lebendige Wirklichkeit in unserer Seele, jetzt wo er schon zu einer historischen Persönlichkeit geworden ist.
Gombocz’ Laufbahn ist die des geborenen und ohne Widerstände siegenden Genies und spiegelt trotz der Vielseitigkeit und inneren Spannung das Bild einer harmonischen Kraft.
Er wurde in Ödenburg, der westlichen Grenzstation ungarischer Kultur, geboren und verlebte hier seine Kinderjahre. Heim und Schule haben gleichermaßen die Geistes-, Charakter- und Gemütsan- lagen des sehr ernsten Kindes gefördert. Sein Vater, Professor und späterer Direktor des evangelischen Lyzeums, war wegen seiner philosophischen Bildung, seiner aufs wesentliche gehenden Objektivität und seiner Großmütigkeit bekannt, während seine Mutter, ein Nachkomme der in dem ungarischen Geistesleben häufig auftauchenden Familie Lehr, mit ihrer glänzenden Sprachbegabung, staunenswerten Belesenheit, feinen Bildung und ihrem ästhetischen Empfinden die Achtung ihrer Umgebung errang. Schon hier beobachten wir, daß diese Wesenszüge der Eltern sich auf das Kind vererbt haben und den Grundstein zu seiner wissenschaftlichen und menschlichen Persönlichkeit bildeten.
Die Ausbildung der Erbanlage war dann die Aufgabe der Schule. Obwohl er in allen Fächern sich als der ausgezeichnetste Schüler erwies — in der VII. und VIII. Klasse (Unter- und Oberprima) wurde er von seinen Mitschülern mit dem Titel Meister ausgezeichnet—, hat sich sein Interesse und seine Liebe teils noch instinktiv, teils schon mit bewußter Zielsicherheit auf die literatur- und sprach- geschichtlichen Studien konzentriert. Von seinen Lehrern hat Haniffel, Thiering und der auch noch heute lebende Ludwig Fejér in dieser Richtung den tiefsten Einfluß auf ihn gehabt. Diese Fachwissenschaftler haben nicht nur die Ereignisse auf wissenschaft- lichem Gebiete mit Aufmerksamkeit beobachtet, sondern auch selbst gearbeitet und es verstanden, ihre wertvollen Kenntnisse und interessanten Forschungen in fesselnder Weise zu vermitteln, ja sie haben sogar den Mut gehabt, ihre begabten Schüler über die engen Grenzen der Schulbuchwissenschaft auf eine freiere wissen- schaftliche Bahn zu lenken. Wenn irgendwo, so fiel in Gombocz’ Seele der Same auf fruchtbaren Boden. Diese geistigen Ausflüge haben ihm neue Perspektiven und Arbeitsmöglichkeiten eröffnet, neue Zielsetzungen und neue Wege gezeigt. Immer mehr wuchs sein Wissensdurst, aber auch der Glaube an die Erfüllung : immer mehr und mit immer mutigeren Augen las er, überdachte das Gelesene und versuchte, sich ein Urteil darüber zu bilden. Wenn er Lücken fand, bemühte er sich diese auszufüllen, wenn er in Widersprüche fiel, versuchte er sie aus eigener Kraft zu überbrücken. Seine große Belesenheit, die staunenswerte Erinnerungsgabe, sein Formgefühl und seine Berufung zu selbständigem wissenschaftlichem Arbeiten fiel zuerst in seinen dem Selbstbildungsverein des Lyzeums, der ‘ Magyar Társaság ‘, eingereichten Arbeiten auf. Nicht nach billigen Lorbeeren hat er getrachtet, nicht die leichte Seite der Fragenkomplexe hat ihn interessiert, vielmehr fesselten ihn die schwierigen Probleme.
Sein Vater wollte ihn zum Juristen machen, und der gehorsame Sohn bedankte sich ohne Wimperzucken für das Lehrbuch des römischen Rechts, welches er als Weihnachtsgeschenk erhielt. Später gestand er, daß er totunglücklich geworden wäre, wenn er diese seiner Natur vollkommen widerstrebende Laufbahn hätte einschlagen müssen. Erst im letzten Augenblick trat die glückliche Wendung ein : I. Fröhlich, der als Regierungsvertreter dem Abitur beiwohnte, gelang es, den Vater zu bewegen, daß er den sehr begabten und offensichtlich zum Gelehrten geborenen Sohn an die Philosophische Fakultät gab und seine Aufnahme in das Eötvös-Kollegium, das bald eröffnet werden sollte, beantragte.
Im September 1895 immatrikulierte er sich an der Budapester Philosophischen Fakultät und belegte die Fächer Ungarisch und Französisch. Auch im Eötvös-Kollegium wurde er auf Grund seines vorzüglichen Reifezeugnisses mit dreißig anderen aufgenommen. Die an der Universität und im Eötvös-Kollegium verbrachten vier Jahre waren eine Zeit fleißiger Weiterbildung und zielbewußter fachlicher Schulung. Er las auch weiterhin außerordentlich viel, machte große Fortschritte in der Vervollkommnung seiner Sprach- kenntnisse, mit Leichtigkeit verschaffte er sich gründliche Einblicke in die ungarische und französische Literatur, aber mit wirklichem Interesse und begeisterter Hingabe des Berufenen hat er sich doch nur der Sprachwissenschaft gewidmet. Er lernte Vámbéry kennen, hörte die ungarischen sprachwissenschaftlichen Vorlesungen von Simonyi, aber das Wesentlichste seiner philologischen und linguistisehen Studien bekam er, wie er selber sagte, von August Ph. Becker und Josef Szinnyei. Unter ihrer fachwissenschaftlichen und aufmerk- samen Führung lernte er einesteils die Elemente und Methodik der allgemeinen Sprachwissenschaft, andernteils die ganze Romanistik, sowie die vergleichende finnisch-ugrische und die historische un- garische Sprachwissenschaft kennen. Seinen Lehrern fiel alsbald die große Bildung auf, die ungeheuere Energie, die starke Auflas- sungs- und Erinnerungsgabe, sowie die Freimütigkeit seines treffenden Urteils, und miteinander wetteifernd versuchten sie, ihn an ihr Fachgebiet zu fesseln. Auf Grund seiner ausgezeichneten Vorbereitung hätte er sich mit gleichem Erfolge sowohl der Romanistik, als der finnisch-ugrischen Sprachwissenschaft zuwenden können, und es ist Szinnyeis Diplomatie zu verdanken, daß die Entscheidung des jungen Gelehrten auf die vom nationalen Standpunkt wichtigere nationale Wissenschaft fiel.
Im Frühling 1899 legte er die Fachprüfung fürs Lehrerdiplom ab, kurz darauf das Philosophische Rigorosum (Finnisch-Ugrisch-Ungarisch als Hauptfach, ungarische Literaturgeschichte und französische Philologie als Nebenfach), dann nach mühsamem pädagogischem Dienst wurde er im Mai 1900 zum Mittelschullehrer ernannt und promovierte am 1. Juni desselben Jahres als Abschluß seiner Universitätsstudien sub auspiciis regis zum Doktor phil. Das Eötvös-Kollegium, dessen Musterzögling er vier Jahre hindurch war, hat ihn gleich nach seinen Universitätsexamina am 3. Juli 1900 zum Professor berufen. Eine glücklichere, für beide Teile zufriedenstellendere Wahl hätte nicht getroffen werden können : Der junge Professor hatte großen Anteil daran, daß das neugegründete Institut mit einem Schlage auf die Höhe seiner Berufung gelangte, das Kollegium aber hat dem jungen Gelehrten das Milieu geboten, in welchem sich seine pädagogischen und schöpferischen Gaben voll entfalten konnten. So wie es verfehlt wäre, für das Aufblühen des Collegiums neben den Namen Baron Loránd Eötvös und Géza Bartoniek nicht auch den Namen Gombocz zu nennen, so wäre es auch nicht richtig, über die Tatsache hinwegzugehn, daß die produktivste Zeit für Gombocz die vierzehn Jahre seiner Lehrtätigkeit im Kollegium bilden.
Bevor wir auf die Würdigung Gombocz’ als wissenschaftlicher Persönlichkeit eingehen, scheint es geboten — wenn auch nur mit chronistischer Trockenheit — auf seine Auslandsstudien und die wichtigeren Veränderungen, die in seinem äußeren Leben eintraten, hinzuweisen. Den Sommer 1899 hat er in Paris verbracht, und bei dieser Gelegenheit lernte er im Laboratorium des Collége de France die phonetischen Versuche Rousselots kennen. Im Laufe des Jahres 1903/4 hat er in Leipzig, Paris, Upsala und Finnland phonetische und verschiedene sprachwissenschaftliche Untersuchungen ausgeführt. 1905 wurde er zum Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gewählt. 1906 hat ihn die Philosophische Fakultät der Budapester Universität zum Privatdozenten für ‘ Allgemeine Phonetik und finnischugrische Lautlehre ‘ ernannt. 1914 wurde ihm von der Universität Klausenburg der Lehrstuhl für Ural-altaisch und 1921 von der Budapester Universität der Lehrstuhl für ungarische Sprachwissenschaft angeboten. 1927/28 hat er Gastvorlesungen an der Berliner Universität gehalten. 1927 wurde er zum Direktor des Eötvös-Kollegiums ernannt. 1933 ist er zum Mitglied des Direktoriums der Akademie und zum Vorsitzenden der I. Abteilung, 1934 zum Dekan der Philosophischen Fakultät der Budapester Pázmány-Péter-Universitât gewählt worden, 1905/14 und nach seiner Rückkehr aus Klausenburg seit dem Jahre 1922 war er Redakteur der Zeitschrift ‘ Magyar Nyelv י (Ungarische Sprache) und 1930 übernahm er von Szinnyei die Redaktion der ‘Nyelvtudómányi Közlemények י (Sprachwissenschaftliche Mitteilungen). Vieles ist aus dieser Aufzählung weggeblieben : unerwähnt blieb die ganze Reihe seiner Verpflichtungen in Komitees, seine Oberhausmitglied- schaft und seine Ämter als Direktor und Präsident, mit denen unsere kulturellen, pädagogischen und wissenschaftlichen Gesellschaften ihn in dem letzten Jahrzehnt seines Lebens überhäuft haben, und obwohl er besorgt sah, daß ihm kaum Zeit und Energie bleiben würde, seine wissenschaftlichen Forschungen fortzusetzen und seine überaus wichtigen Pläne zu verwirklichen, so konnte er es doch nicht umgehen, die Pflichten, die in so ehrenvoller Weise an ihn herantreten, zu übernehmen.
Gombocz’ literarische Tätigkeit ... ist umfangreich, außeror- dentlich vielseitig und vom wissenschaftlichen Standpunkt aus unermeßlich. Sie erstreckt sich auf die allgemeine Sprachwissenschaft, Phonetik, finnisch-ugrische und altaische Sprachvergleichung, sowie auf alle Gebiete der im engeren Sinne verstandenen ungarischen Sprachwissenschaft. Diese vielgestaltige reiche Tätigkeit schließt sich aber zu einem geordneten Ganzen zusammen : sie wird nicht nur von dem Glänze Gombocz’ wissenschaftlicher Persönlichkeit überstrahlt, der ebenso auf den kleinen Artikeln wie auf den großen Monographien, auf den etymologischen Beiträgen wie auf den abstraktesten sprachphilosophischen Untersuchungen ruht, sondern auch durch die zusammenfassende Kraft seiner Betrachtungsweise zu einer Einheit verschmolzen, welche den inneren Zusammenhang zwischen den scheinbar voneinander unabhängigen Erscheinungen herstellt.
Doch halten wir es für nötig, Gombocz’ Wirksamkeit auf den einzelnen Gebieten der Sprachwissenschaft kurz zu skizzieren.
Schon seit seiner Jugend beobachtete er mit scharfer Aufmerksam- keit die Veränderungen, die auf dem Gebiete der Geisteswissen- schaften vor sich gingen : kein neuer Versuch, keine neue Methode entging ihm und wo er eine Entwicklung feststellte, die er für lebensfähig und von befruchtender Wirkung hielt, verwertete er sie auch für das ungarische Material. Es ist kein Zufall, daß er es war, der die ungarischen Fachkreise mit sämtlichen Sprachwissenschaftliehen Strömungen der letzten 50 Jahre bekannt machte : von der Junggrammatischen Schule bis zu Saussure.
Gombocz begnügte sich aber auch anfangs nicht mit der Rolle des Vermittlers allein, sondern mit der Vervollkommnung seiner sprach- wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen kam er immer mehr zur Abfassung selbständiger sprachphilosophischer und -psychologischer Studien, auch solcher, von denen manche, wenn sie nicht in ungarischer, sondern in einer der Weltsprachen erschienen wären, in einer Reihe mit den klassischen Schöpfungen der gesamten Fachliteratur genannt werden müßten. Lehrreich in dieser Beziehung sind folgende Aufsätze : ‘ Grundlagen der gegenwärtigen Sprach- wissenschaft — Sprachgeschichte und Psychologie — Die Einheit der Sprachen — Paul und Wundt, von dem Ursprung der Sprache — Assoziation und Bedeutungswandel — Tierlockrufe und Tiernamen — Lautnachahmungen und Sprachgeschichte — Sprachgeschichte, Psychologie und Völkerpsychologie — Veränderungen und Gesetze in der Sprachwissenschaft — Sprachhistorische Methodenlehre — Beschreibende und historische Sprachlehre — Was ist Satzlehre ? — Sprachrichtigkeit und Sprachwissenschaft — Funktionale Sprach- betrachtung.’
Über Phonetik hat er verhältnismäßig wenig geschrieben, trotzdem ist auch dieser Zweig seiner literarischen Tätigkeit außerordentlich beachtenswert, wenn man bedenkt, daß diese Hilfswissenschaft bei uns bis heute stiefmütterlich behandelt wurde. Gombocz’ Interesse ist durch das plötzliche Aufflammen der ausländischen Fachliteratur geweckt worden. Auf seinen Auslandsreisen hatte er Gelegenheit, mit den Elementen und Methoden der Sprachforschung bekannt zu werden, auf diesem Fachgebiet Studien zu machen und in bezug auf die ungarische Sprache lückenfüllende Untersuchungen, Messungen vorzunehmen. Abgesehen von den zur Aufklärung der ungarischen Sprachforscher und Pädagogen geschriebenen hervorragenden Artikein und den lehrreichen Abhandlungen über Geschichte der Phonetik seien nur die Arbeiten : ‘ Zur Phonetik der ungarischen Sprache ‘ und ‘ Ungarische Palatogramme ’ erwähnt, sowie die auf Grund seiner Vorlesungen herausgegebene beliebte Zusammen- fassung seiner ‘ Ungarischen Phonetik ‘.
Mit finnisch-ugrischen sprachwissenschaftlichen Forschungen hat er sich am Anfang seiner Laufbahn eindringlicher beschäftigt. Mit dem Wogulischen begann er (Der Infinitiv im Wogulischen — die fremden Elemente im Wogulischen — Beiträge zu den türkischen Elementen der wogulischen Sprache — Beiträge zum Ursprung des Wortschatzes der ob-ugrischen Sprache).
Auch von den übrigen verwandten Sprachen hat er sich solche Kenntnisse verschafft, daß er sich mit Leichtigkeit auf dem gesamten Gebiete der finnisch-ugrischen Sprachwissenschaft, sogar der samojedischen Lautlehre bewegen konnte. Seine bleibendste Schöpfung auf diesem Gebiete ist die Studie : ‘ Zur finnisch-ugrisch- samojedischen Lautgeschichte ’ (Festschrift Wilhelm Thomsen). Hier zeigt er, daß dem finnisch-ugrischen *i-Laut im Samojedischen t, dem finnisch-ugrischen *ś-Laut im Samojedischen s entspricht, d. h. daß die Zweiartigkeit der finnisch-ugrischen 5-Laute auf die uralische Grundsprache zurückreicht.
Ähnlich wie in der Phonetik und der finnisch-ugrischen Sprach- wissenschaft hat er auf dem Gebiete der altaischen Sprachver- gleichung in seinen jüngeren Jahren auf das ernsthafteste gearbeitet, und man kann sagen mit bahnbrechendem Erfolge. Obzwar er hier Autodidakt war, hat seine Fähigkeit, jede Sprache mit spielender Leichtigkeit zu erlernen, jedes Problem richtig zu erfassen, sein fein ausgebildetes kritisches Empfinden und seine systematische Schulung ihm von vornherein die Erfolge seiner Arbeit gesichert. Von den hierher gehörenden Arbeiten sind vom Standpunkt der Entwicklungs- geschichte vor allem hervorzuheben : ‘ Zur Lautgeschichte der altaischen Sprachen welche Arbeit mit einigen Veränderungen auch deutsch erschienen ist, deren erster Abschnitt die Frage des Rotazismus und Lambdazismus, der zweite die Doppelbedeutung des mongolischen d-Lautes im Türkischen und dessen vermutliche sprachgeschichtliche Voraussetzungen behandelt.
Obwohl Gombocz, wie aus allem diesen hervorgeht, auf dem Gebiete der Phonetik der finnisch-ugrischen Sprachgeschichte und der altaischen Sprachvergleichung sich ein vollkommenes Fachwissen aneignete und hier und da hervorragende Resultate erzielte, hat er sich doch sehr bald von diesen Gebieten der Sprachwissenschaft zurückgezogen. Es wäre verfehlt, den Grund hierfür in einer Enttäuschung oder Flatterhaftigkeit zu sehen : offensichtlich hat ihn Wissensdurst und der Drang nach Höherem immer weitergetrieben. Bis zu seinem Tode hat er mit wacher Aufmerksamkeit das Schicksal sowohl der Phonetik wie der finnisch-ugrischen und altaischen Sprachwissenschaft verfolgt, er kannte und vermehrte bei Gelegenheit auch die neueren Ergebnisse der Fachwissenschaft, aber der Schwer- punkt seines Interesses schob sich immer mehr auf das Gebiet der ungarischen Sprache. Hier erst war es ersichtlich, was das vielseitige Wissen und die Erfahrungen, die er sich erworben hatte, zu bedeuten hatten.
Wir können ohne Übertreibung behaupten, daß es in der ungarischen Sprachwissenschaft kein Gebiet gibt, das er nicht gründlich gekannt, gewissenhaft durchforscht und gleichzeitig mit neuen Beiträgen, Feststellungen und Beobachtungen vervollständigt hätte. Die Spur seines Geistes finden wir in jedem wichtigeren Kapitel der ungarischen Lautlehre, der Wortbildung, Flexions- und Satzlehre. Selbstverständlich ist es unmöglich, alle jene Artikel, Abhandlungen und Worterklärungen, an die wir hier denken, aufzuzählen, aber wir können die folgenden grundlegenden Studien nicht übergehen : ‘ Zur Geschichte der ungarischen a-Laute — Aus der Geschichte der ungarischen Selbstlaute — Die Endvokale — Ein unbekanntes Suffix — Zur Frage des ungarischen velaren і — Zur Geschichte der v-stämmigen Wörter — Ursprung des Oslu-Stammesnamens — Sömör — Ossetenspuren in Ungarn — Osseten und Jazygen — Ungarische historische Sprachlehre — Lautlehre II — Lautgeschichte — Formenlehre — Bedeutungslehre — Zur Frage der Endvokale — Geschichte der ur-ungarischen a-La ute — Satzlehre — Über die Haupttypen der ungarischen Verbalformen — Über die ungarischen reflexiven Verben — Ursprung der Suffixe ság-ség.’
Er sprach nicht gerne davon, aber es war zweifellos sein fester Vorsatz, aus dem Ergebnis seiner in Vorbereitung befindlichen Teilarbeiten und seinen nicht veröffentlichten Untersuchungen, die schon lange und gerade von ihm erwartete zeitgemäße systematische ungarische Sprachlehre herauszugeben. ‘ Ich hoffe — sagte er auf der Generalversammlung der Ungarischen Sprachwissenschaftlichen Gesellschaft vom 22. I. 1934 —, daß ich in einigen Jahren, der löblichen Gesellschaft von dem Abschluß meiner geplanten Arbeit Mitteilung machen kann.5 Es ist tragisch, daß diese Hoffnung sich nicht erfüllt hat. Der Plan des großangelegten Werkes ist uns nur aus den Vorlesungen und einigen Bruchstücken ersichtlich, aus welchen wir allerdings ersehen, wie berechtigt die Hoffnungen waren, die wir an das Erscheinen dieses Werkes geknüpft haben. Nur der Gedanke, daß es den glücklicheren Schülern, seinen Nachfolgern vielleicht gelingen wird, das als Erbe übernommene wissenschaftliche Gerüst im Sinne des Meisters auszubauen und so die ungarische Sprachwissenschaft zu bereichern, kann uns über den Verlust hinwegtrösten. Dieser Gedanke ist ein Trost, obwohl wir genau wissen, daß die Erziehung literarischer Waisen eine ungeheuer schwie- rige und mit restlosem Erfolg niemals zu erfüllende Aufgabe ist. Ja, wir müssen auch darüber im klaren sein, welch seltene außergewöhnliche Gabe des Himmels ein Gelehrter vom Format Gombocz’ ist, der gleicherweise unumschränkter Herr des Stoffes und Meister der höheren Synthese ist.
Das andere großangelegte Werk Gombocz’ ist das ‘ Ungarische Etymologische Wörterbuch *, welches er mit seinem Freund und Fachkollegen Johann Melich zusammen bearbeitet hatte. Dieses Werk ist in bezug auf seine Vollständigkeit und gewissenhafte Genauigkeit auch in der Fachliteratur Westeuropas einzigartig. Es bietet viel mehr, als die gewöhnlichen etymologischen Wörter- biicher zu geben pflegen. Seine Herausgeber begnügen sich nicht mit der Katalogisierung der bis jetzt zerstreuten Forschungser- gebnisse, sondern bemühen sich womöglich das ganze Material des ungarischen Wortschatzes aufzuarbeiten. Ihr Interesse erstreckt sich genau so auf die Eigennamen, Appellativa, Tierlockrufe, die lautnachahmenden und lautmalenden Wörter, die Besonderheiten der Klassensprache und die Primitivität der Kindersprache, wie auf die ernsten Bürger der Literatur- und Gemeinsprache, denn beide erkennen klar und veranschaulichen es überzeugend, daß diese gewöhnlich ungerechterweise vernachlässigten Elemente der Sprache unsere Kenntnis mit unschätzbaren kultur- und sprachgeschicht- liehen glottogonischen Tatsachen bereichern. Eine unausbleibliche Folge der planmäßigen Ausdehnung dieser Arbeit war es, daß die Verfasser gezwungen waren, auch eine umständliche Belegsammlung und bahnbrechende neue Untersuchungen anzustellen. Von ihren Vorgängern auf diesem Fachgebiet unterscheiden sie sich noch dadurch günstig, daß sie an ihre Artikel fast lückenlose Bibliographien anschließen und so die Arbeit späterer Forscher ungeheuer erleichtern. Es ist ein unersetzlicher Verlust für die ungarische Sprach- Wissenschaft, daß auch dieses Werk unvollständig blieb, und wir suchen vergeblich nach einem gleichwertigen Mitarbeiter für Melich, der wenn auch nur im entferntesten ein würdiger Nachfolger von Gombocz werden könnte.
Was ist natürlicher, als daß Gombocz über die engen Grenzen der Linguistik hinausstrebte. Er, der auch im kleinsten Teile das Ganze fühlte, auch in der Form die gestaltende Kraft suchte : er faßte die sprachlichen Gegebenheiten als Widerspiegelungen der Seele, als Begleiterscheinungen der Kultur und der Geschichte auf. Er wußte, daß man ohne psychologische Kenntnisse niemals in das Wesen der Sprache eindringen kann, er zeigte aber auch, daß die Sprach- wissenschaft umgekehrt für die Psychologie von unschätzbarem Wert ist, er verkündete, daß der Sprachforscher ohne geschichtlichen Hintergrund sich in einem luftleeren Räume bewegt, aber mit Jakob Grimm war er auch fest davon überzeugt, daß ‘ es ein lebendigeres Zeugnis gibt über die Völker als Knochen, Waffen und Gräber, und das sind ihre Sprachen Wer solche natürlichen Zusammenhänge, solche Perspektiven zu sehen verlangt, kann keinen würdigeren Führer als Gombocz finden. Welche psychologischen Überraschungen und kulturgeschichtlichen Erlebnisse bietet zum Beispiel die Studie über den ‘ Ursprung der alten ungarischen Speisenamen ‘, sowie die Artikelserie über den ‘ Wein ’ und das kleine Buch über die Bedeutungslehre. Hierher gehört dann auch jene hervorragende Gruppe von Gombocz’ Arbeiten, welche sich mit den türkisch-ungarischen sprachlichen und geschichtlichen Zusammenhängen befaßt. Diese überaus wichtige, aber ebenso heikle Frage hat seit Jahrhunderten die Gemüter erregt und, obwohl es feststeht, daß einige Forscher schon früher auf die Wahrheit gestoßen sind, gebührt doch Gombocz die Ehre und das Verdienst, die Zusammenhänge mit sicherer Hand aufgedeckt zu haben. Seine Arbeiten, vor allem die umfangreiche Studie über die türkischen Lehnwörter vor der Landnahme, das klassische Buch über die ‘ Bulgarisch-türkischen Lehnwörter in der ungarischen Sprache \ sowie sein bedeutender Artikel über ‘ Die bulgarische Frage und die ungarische Hunnensage ‘ haben endgültig den Ursprung der türki- sehen Lehnwörter vor der Landnahme, sowie den geschichtlichen Hintergrund und die kulturgeschichtliche Bedeutung der türkisch- ungarischen Beziehungen geklärt. Nehmen wir dazu noch die mustergültigen Studien über ‘ Die türkischen Personennamen der Arpadenzeit ‘ und ‘ Die ungarische Urheimat und das nationale Erbe so sind die wichtigsten Quellen genannt, aus welchen wir unsere heutige Kenntnis der Probleme ungarischer Vorgeschichte schöpfen.
Mit Befriedigung und Freude konnte Gombocz feststellen, daß die Ergebnisse seiner Arbeit zu den sichersten Stützen der ungarischen Urgeschichtsforschung wurden und seine Lehre sich zur wissen- schaftlichen Allgemeingeltung erhob.
Gombocz muß den grundlegenden Wert und die entwicklungs- geschichtliche Bedeutung seiner Arbeit gekannt haben. Er zeigte es jedoch niemals und ließ es niemand fühlen, denn sein menschliches Format war ebenso groß wie sein wissenschaftliches : großzügig, edel und zurückhaltend. Wie er wissenschaftliche Fragen immer aus der Perspektive großer Zusammenhänge sah, so betrachtete er auch das Leben, die Ereignisse mit der Ausgeglichenheit des philosophi- sehen Geistes. Er war natürlich, unmittelbar und von faszinierender Liebenswürdigkeit. Er liebte sein Volk, seine Kollegen, liebte seine Schüler, aber auf den Grund seiner Seele ließ er niemand blicken. Man hatte das Empfinden, daß er sich hinter einer Maske verbarg : hinter der Maske vornehmer Lässigkeit und gemachter Leiden- schaftslosigkeit ; heute wissen wir schon, was er dahinter verborgen hat : seine warme Güte.
Das Geschick sei gesegnet, daß wir ihn kennen lernten und ohne Rückhalt zeigen konnten, welch tiefe Verehrung wir für ihn hegen. Sein teures Andenken bewahren wir treu in unseren dankbaren Herzen.
Source : Nikolaus Zsirai, ‘ Zoltán von Gombocz, 1877-1935,’ Ungarische Jahrbücher 15.367-375 (1936).
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