“JACOB WACKERNAGEL (1852-1938)” in “Portraits of Linguists: A Biographical Source Book for the History of Western Linguistics, 1746-1963, V. 2”
JACOB WACKERNAGEL (1852-1938)
Jacob Wackernagel
Eduard Schwyzer
Vor bald einem Jahre durfte ich den verehrten Baseler Meister1 noch in voller geistiger Frische treffen, nach mehrstündigem Gespräch kaum ermüdet. Nun kommt die Nachricht, daß er am 22. Mai 1938 im 85. Lebensjahre von uns geschieden ist; der Nestor der Indogermanisten, war er durch seinen Vater Wilhelm Wackernagel, den Germanisten und Dichter, noch mit den Anfängen seiner Wissenschaft verbunden.
In Göttingen hatte sich der junge Philologe in die noch neuen Gebiete des Sanskrit und der Sprachvergleichung vertieft, die ihm die heimatliche Universität noch nicht hatte bieten können ; er war aber auch auf ein Semester nach Leipzig gegangen, zu August Leskien besonders, ohne dadurch ‘Junggrammatiker’ zu werden. Er suchte und fand früh seinen eigenen Weg.
Nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt, wurde er im 23. Lebensjahre 1876 Privatdozent an der dortigen Universität und wirkte daneben als Lehrer der klassischen Sprachen an der Schule, der er seine hervorragende humanistische Durchbildung zu danken hatte ; er hätte auch später diese Tätigkeit in seinem Leben nicht missen mögen. 1874 war an der Universität Basel eine Professur für Sanskrit und Sprachvergleichung begründet und mit dem bestens empfohlenen Solothurner Gymnasiallehrer Franz Misteli besetzt worden, der mehr und mehr die Indogermanistik als Teil der allgemeinen Sprachenkunde im Sinne Steinthals behandelte (bis 1896). So erhielt J. Wackernagel, als er 1881 vollständig zur Universität überging, eine Professur für griechische Sprache und Literatur. Seine Interpretationen griechischer und lateinischer Schriftsteller legten auf den ersten Teil des Lehrauftrages besonderes Gewicht und waren nicht nach dem Geschmack aller Hörer, dienten aber in hervorragendem Maße dem weiteren Ausbau von Wackernagels Sprachwissenschaft und erklären seine umfassende Belesenheit in den antiken Autoren. Auch die rein philologische Produktion hat er übrigens bis spät in staunenswertem Maße verfolgt.
Seit den Aufsätzen über den griechischen Verbalakzent von 1877 und über die epische Zerdehnung im Festband für Th. Benfey von 1878 hat fast jedes Jahr oft sehr wichtige Beiträge zur griechischen Grammatik aus Wackernagels Feder gebracht ; die teilweise umfangreichen ‘Miszellen’ wurden 1895 mit der 30. Nummer abgebrochen ; eine gewisse Zusammenfassung geben die sprachlichen Untersuchungen zu Homer (1916), die auch in die Homerphilologie gehören. Doch scheint Wackernagel nie daran gedacht zu haben, die Werkstücke, die er bereitstellte, deren Ergebnisse in die Lehrbücher übergingen, selbst in eine Gesamtdarstellung einzugliedern. Was ein solches Werk hätte werden können, davon gibt die tiefschürfende Skizze der Geschichte der griechischen Sprache einen Begriff, die er als Beigabe zur griechischen Literaturgeschichte von Wilamowitz zu Hinnebergs Kultur der Gegenwart beisteuerte (1905, 3. Aufl. 1912).
Inzwischen hatte schon längst das Werk ans Licht zu treten begonnen, das Wackernagels geschlossenste Lebensarbeit werden sollte. In aller Stille, nur durch einzelne Besprechungen und Miszellen dem rückblickenden Betrachter sich verratend, hatte Wackernagel im Anschluß an seinen indologischen Unterricht die Vorarbeiten für eine große, historisch-vergleichende Darstellung des Altindischen unternommen. 1896 erschien, allseitig freudigst begrüßt, der erste Band, die Lautlehre, der eine ausführliche ‘Einleitung’, im Grunde ein großzügiger ‘allgemeiner Teil’, voranging. Mit dem Scherze ‘Der Zürcher Professor für Sanskrit schreibt eine griechische Grammatik und der Basler Professor für Griechisch eine indische’ sandte damals ein dritter schweizerischer Indologe eine Besprechung an Adolf Kaegi in Zurich, den Verfasser der griechischen Schulgrammatik. Der ‘Meister der griechischen Grammatik’ hatte sich auch als Meister der indischen aller Stufen gezeigt. Nach beiden Richtungen hat Wackernagel Zeit seines Lebens seine ungewöhnliche Kraft und Begabung besonders angesetzt — abgesehen von der Lehrtätigkeit, die ihm innerstes Bedürfnis war, an der er so lange festhielt, wie der Körper es gestattete, bis vor wenigen Semestern.
Was Wackernagel als Lehrer bedeutete, zeigen seine ‘Vorlesungen über Syntax mit besonderer Berücksichtigung von Griechisch, Lateinisch und Deutsch’ (1920 und 1924), die sogar ein Wilamowitz gerne gehört haben wollte. Im Gegensatz zur Altindischen Grammatik ist das Syntax-Werk ein mitunter launiges und unterhaltendes Studentenbuch, aus dem freilich auch der erfahrene Lehrer und unterrichtete Fachmann immer wieder lernen kann, sei es auch nur für die Darbietung solchen Stoffes. Man bedauert nur, daß die versprochene dritte Reihe der Öffentlichkeit vorenthalten blieb. Von Wackernagels Aufgeschlossenheit für syntaktische Fragen wußte man seit seinem Dualaufsatz von 1877, dem später die grundlegende Abhandlung über eine Frage altindogermanischer Wortstellung, die Schrift über das Resultativperfectum und anderes gefolgt waren.
Verschiedene auswärtige Anfragen hatte Wackernagel abgelehnt, um 1902 doch dem Ruf an die Georgia Augusta [Augusta, Georgia] zu folgen, von wo er 1915 an die Universität Basel zurückkehrte. Göttingen bedeutete den Höhepunkt von Wackernagels Lehrtätigkeit, und außer zahlreichen kleineren und größeren Arbeiten gehört in diese Zeit auch eine Fortsetzung der altindischen Grammatik, die hier besonders wichtige Lehre von der Zusammensetzung (II 1, 1905). Die zweite Hälfte des Bandes, die Nominalsuffixe, hoffte er damals in kurzer Zeit folgen zu lassen. Statt dessen erschien erst 1930 der dritte Band, die Nominalflexion samt Zahlwort und Pronomen (diese beiden sind mit besonderer Liebe behandelt). Ein großer Teil der Nominalflexion war dabei auf Grund von Wackernagels Sammlungen und Weisungen von Albert Debrunner ausgearbeitet. Dem Berner Indogermanisten fällt jetzt restlos die verpflichtende Aufgabe zu, des Lehrers und Meisters Vermächtnis zu vollenden.
Wackernagel hat sich selbst einen ‘Sprachforscher philologischer Richtung’ genannt. Seine lateinisch geschriebene Baseler Dissertation über die Anfänge der Lautlehre bei den Alten von 1876 ist eine Art Programm für seine ganze Tätigkeit : Sprachgeschichte auf philologischer Grundlage. Es bereitete ihm besondere Freude, von der Sprachgeschichte her eine Textstelle zu deuten oder zu bessern, überhaupt ein philologisches Problem zu fördern. Auch vom Sprachforscher verlangte er ein lebendiges Verhältnis zu den Sprachquellen. Notkers Wort hie bin ich heime galt ihm auch in der Wissenschaft ; und er war zu Hause nicht nur in Hellas und in Indien, sondern auch im alten Italien und im iranischen Kreise, in den ihn in Göttingen die freundschaftliche Zusammenarbeit mit Andreas hineinzog. Aber es stand Wackernagel auch Vergleichsmaterial aus den anderen, meist aus jüngerer Zeit überlieferten Sprachen zu Gebote, so oft er es brauchte, und er war auch mit kühnen Vermutungen zur Stelle, wenn er solche ersprießlich fand. Die Vorlesungen über Syntax zeigen, daß er gegebenenfalls nicht verschmähte, über die indogermanischen Grenzpfähle hinauszuschauen. Von höherer Warte sprach er z. B. über Sprachmischung und Sprachtausch (Göttingen 1904).
Auch in der Sprachwissenschaft führt ein neuer Tag zu neuen Ufern, und eine neue Generation kann sich nicht mit dem begnügen, was die vorhergehende geschaffen hat. Man wird aber gut daran tun, neben dem Neuen das Alte und besonders das Bleibende nicht zu vergessen. Dazu gehört in besonderem Maße auch das Werk Jacob Wackernagels.
Source: Eduard Schwyzer, ‘Jacob Wackernagel,’ Forschungen und Fortschritte 14.227-228 (1938). By permission of Forschungen und Fortschritte, Nachrichtenblatt der deutschen Wissenschaft und Technik.
1 Vgl. Forsch, u. Fortschr. 4 (1928) S. 363.
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