“EDUARD SIEVERS (1850-1932)” in “Portraits of Linguists: A Biographical Source Book for the History of Western Linguistics, 1746-1963, V. 2”
EDUARD SIEVERS (1850-1932)
Eduard Sievers
Geboren zu Lippoldsberg a. d. Weser am 25. November 1850 Gestorben zu Leipzig am 30. März 19321
Theodor Frings
1870, im Alter von 20 Jahren, trat Eduard Sievers als Leipziger Doktor in die germanistische Wissenschaft ein. Am Ende der anschließenden 5 Jahre seines Jenenser Extraordinariats, bei der Ernennung zum Jenenser Ordinarius, steht der 26jährige schon so da, wie er geblieben ist und wie ihn die Geschichte der germanistischen Wissenschaft in aller Zukunft sehen und zeichnen wird : keines Mannes Schüler, ein Eigner, in dem lebensstarkes und charakterfestes hessisches Bauerntum und die peinliche Gewissenhaftigkeit und der zuverlässige Fleiß kleindeutschen Beamtentums sich mischten und die Möglichkeit und die Kraft erzeugten, von eignem, sorgfältig verwalteten und durchpflügten Boden Frucht zu ziehen, in entsagungsvoller, nie ermüdender Arbeit neues Feld zu gewinnen, endlich aus der Fülle zu schenken, so daß noch die kommenden Geschlechter von Saat und Ernte leben können. Er ist in einem Alter fertig, wo andere mühsam ihren Weg zu suchen beginnen. Kein Horizont scheint dem rastlos Vordringenden verschlossen. Und doch haben ihm gerade die Grundkräfte, aus denen er zehrte und wuchs, Schranken gesetzt. Es mußte wohl so sein, damit er bis zum Ende ein Eigner bleiben konnte.
Schon in den 5 Jahren seiner Anfänge schreitet er das Gesamtgebiet der germanischen Sprachen ab, wobei, was für ihn im Gegensatz zu dem neuphilologischen Betrieb rundum besonders bezeichnend ist, auch die Kenntnis der lebenden germanischen Sprachen gleichsam spielend und wie nebenher erworben wird. Er übersetzt aus dem Niederländischen und Dänischen, und die Übersetzungen aus dem Dänischen tragen ihn zugleich in Grundfragen des Urgermanischen und in die altnordische Grammatik hinein. Zu den Jenaer Lehrverpflichtungen gehörte auch die Vertretung des Englischen und Romanischen ; das Englische, die Muttersprache seiner Gattin, hat er, anders als die meisten Anglisten seiner Generation, vollendet beherrscht. Das Deutsche faßt er von den Fundamenten her. Den Text, die älteste deutsche Überlieferung, mustert er mit der Schärfe und Liebe, der nichts entgeht, und die alles, auch das scheinbar Unbedeutende, umfaßt : Überlieferung, Laute, Formen, das Wort. Die Glossen, darunter die ältesten, die Glossae Keronis und der Vocabularius Sancti Galli, das Hildebrandslied, die Merseburger Zaubersprüche und das fränkische Taufgelöbnis, die Murbacher Hymnen, Otfried finden sein besonderes Interesse, vor allem aber die Tatianübersetzung und der Heliand. Die Besuche deutscher und englischer Bibliotheken, die der älteren deutschen Überlieferung gelten, führen ihn auch zu späteren deutschen und zu angelsächsischen Texten, zu Segenssprüchen, zu Meister Eckart und zum mitteldeutschen Schachbuch des Pfarrers zum Hechte, zu sorgfältigen Kollationen angelsächsischer Gedichte. Die Paradigmen zur deutschen Grammatik von 1874 streben weit hinaus über die Enge und Unsicherheit ähnlicher Versuche. Sie umfassen alle altgermanischen Dialekte, verwerten auf Grund eigner Prüfung nur Sicheres und Belegbares und ordnen die Erscheinungen nach selbstgewonnener Einsicht. Im Zusammenhang mit dieser Arbeit wachsen die Beiträge zur deutschen Grammatik, die ihn im Kreise der Leipziger Generationsgenossen zeigen. Die grundlegenden Untersuchungen zur angelsächsischen Deklination, zu den reduplizierten Präterita und zur starken Adjektivdeklination stehen in den beiden ersten Bänden der Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, der Zeitschrift der Schüler Friedrich Zarnckes, insbesondere des Dreigestirns Wilhelm Braune, Hermann Paul und Eduard Sievers. Über zwei Generationen, von 1874-1932, hat E. Sievers dieser Leipziger Schöpfung gedient, als Herausgeber vom 16.-31. Band (1892-1906) und, nach W. Braunes Erkrankung und Tod, vom 49.-56. Band (1925-1932), als Mitarbeiter vom ersten bis zum letzten.
Den beiden Denkmälern, welche die germanistische Forschung durch ihre besondere sprachliche Gestalt bis heute in Atem halten, Tatian und Heliand, gilt die beste Kraft des jungen Forschers. Zwar erhielt die Tatianausgabe von 1872 erst in der zweiten Auflage von 1892 ihre mustergültige Form. Aber das Wesentliche, die saubere Beobachtung der sprachlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Händen, die betont konservative Textbehandlung, das Wörterbuch, zeichnen schon die Ausgabe des Anfängers aus ; und so konnte er aus besonderer Einsicht in die sprachlichen Feinheiten bei Gelegenheit der Ausgabe von 1892 (S. XXII) die weittragende Meinung formulieren, daß schon im Anfang des 9. Jh.s schriftsprachliche Strömungen in der deutschen Überlieferung hervortreten. Auf seinen und auf K. Müllenhoffs Spuren haben uns G. Baesecke und seine Schüler im letzten Jahrzehnt grundlegende Aufschlüsse über die Geschichte des ältesten althochdeutschen Schrifttums und seiner Sprache geschenkt; und so sehr er sich gegen die neueren Forschungsergebnisse im einzelnen wehren mochte : sie sind Geist von seinem Geiste. Auch vor einer zweiten Folge ist er zurückgeschreckt und dabei sogar von seinem Generationsgenossen, von W. Braune abgerückt. Die fortschreitende Arbeit am Tatianvokabular, die auf E. Sievers fußte, mußte sich naturgemäß kreuzen mit der neu entstehenden Sprach-, insbesondere mit der Wortgeographie. Das Rätsel der Tatiansprache, welche ausgesprochen hochdeutschen Laut- und Formenbestand mit einer großen Anzahl von Wörtern verbindet, die andern hochdeutschen Denkmälern fehlen und nur im Angelsächsischen ihre Entsprechung haben, löste sich in der neuen Blickrichtung dahin, daß es sich um eine Frage der westgermanischen Wortgeographie handelt, wobei jedes Wort unabhängig von der mundartlichen Entwicklung der Laute und Formen seine eigne Geschichte hat. Die zum Angelsächsischen stimmenden Wörter sind keine Entlehnungen, sondern bodenständiges Festlandsund Gemeinschaftsgut mannigfaltiger Geschichte ; nur daß der Bedeutungsgehalt dieses oder jenes Stückes durch die angelsächsische Mission eine besondere Prägung erhielt. Im kirchlichen deutschen Wortschatz kreuzen sich angelsächsische, süddeutsche, gotische Prägungen. Tatian und Heliand gehören vorzugsweise in den fuldisch-angelsächsischen Kreis. In seinem Nachruf auf W. Braune hat E. Sievers den Aufsatz Althochdeutsch und Angelsächsisch, eine der hervorragendsten Leistungen der germanischen Philologie, der, 1918 erschienen, an einem Wendepunkte unserer sprachlichen Betrachtungsweise steht, nicht behandelt, wohl aber Braunes Abhandlungen über das Fränkische und die hochdeutsche Lautverschiebung und über die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes hohes Lob gespendet. Das ist außerordentlich bezeichnend. Braunes entschlossenem Schritt von der Philologie zur Geschichte, vom Wort zu den geographischen und kulturgeschichtlichen Lebensbedingungen seines Körpers und seines Inhaltes hat er verständnislos, ja mit einer nicht zu verschweigenden Feindseligkeit gegenübergestanden. Hier tauchen die Schranken auf, von denen wir sprachen und die wir auch an anderer Stelle beobachten werden. Die an sich begrenztere Persönlichkeit hat die materiellen Leistungen ihrer Generation in den Fluß der Entwicklung hineingeleitet und damit an dieser Stelle den genial Eignen und Einseitigen überholt. Ich habe E. Sievers nie von der Bedeutung und Tragweite der Leistung Braunes überzeugen können ; er hat, bis zum Schluß, an unmittelbarer Entlehnung aus dem Angelsächsischen festgehalten. Der Heliand begleitet E. Sievers seit der Kollation des Cottonianus, 1871, bei Gelegenheit seiner Englandreise. Dem Einspruch gegen die Unzuverlässigkeit Moritz Heynes, der Neuuntersuchung der Quellenfrage, wobei E. Windischs Standpunkt verteidigt und erhärtet wird, endlich der vergleichenden Charakteristik des Monacensis und Cottonianus und einer vertieften Einsicht in den Bau des Alliterationsverses folgen die philologischen Glanzleistungen der Jenenser Zeit, der Heliand und die angelsächsische Genesis, 1875, die Heliandausgabe von 1878. Das Mühen um einen möglichst weiten Arbeits- und Erkenntniskreis feiert seine ersten Triumphe. Das angeborene sprachliche und metrische Feingefühl ist in der gleichzeitigen und vergleichenden Arbeit an altdeutscher und angelsächsischer Überlieferung so geschärft, daß es gelingt, die Darstellung des Falles der bösen Engel und der darauf folgenden Versuchungsgeschichte in der angelsächsischen Genesis als Übersetzung aus dem Altsächsischen zu erweisen. Über das Verhältnis des altsächsischen zum angelsächsischen Wortschatz fallen Bemerkungen, die in die Richtung von Braunes Aufsatz weisen ; und es ist zu verwundern, daß die Ansätze nicht entwickelt, ja abgebrochen worden sind. Die besondere Leistung des altsächsischen Genesisdichters in der Versuchungsgeschichte wird mit sicherem Empfinden für den eigentümlichen Charakter der altsächsischen Bibeldichtung überhaupt herausgearbeitet, was alle die beachten mögen, die über E. Sievers’ Verhältnis zu literarischen Fragen gering zu denken geneigt sind. Die Heliandausgabe betont gleich der Tatianausgabe die konservative Behandlung der Texte, die in zuverlässigen Abdrucken vorgelegt werden. Ihr wichtigster Teil ist das synonymische und systematische Formelverzeichnis, in dem der Formelhaftigkeit und dem Formelschatz altgermanischer Rede durch das Altsächsische, Angelsächsische und Skandinavische vergleichend und mit eindrucksvoller Belesenheit nachgespürt ist. Mit wenigen festen Strichen wird das literarische Bild des Helianddichters gezeichnet, so wie wir es bis heute sehen. Wie denn überhaupt die gesamte spätere Heliandforschung auf E. Sievers’ Schultern steht. Gegenüber Zweifel hat sich die Stellungnahme in der Quellenfrage in der neuern Untersuchung von C. A. Weber, ZfdA. 64 (1927), 1 ff., in allem Wesentlichen bewährt. Der überragende Wert des Monacensis steht fest. Bruchstücke der erschlossenen altsächsischen Genesisdichtung wurden 20 Jahre später im Vatikan gefunden, der kühne Schluß des 25jährigen glänzend bestätigt. Die früher vertretene Ansicht von der Einheit des Verfassers von Heliand und Genesis hat E. Sievers auf Grund des Fundes endgültig preisgegeben und damit auch in dieser Frage die Entscheidung gefällt. Was aber die jüngere und jüngste Forschung an Wertvollem zu sagen hatte, ist von dem jungen E. Sievers vorgefühlt, vorgedacht oder auch vorformuliert gewesen : Heuslers großzügige, eindrucksvolle Zeichnung von Heliand, Liedstil und Epenstil, ZfdA. 57 (1920), 1 ff, C. A. Webers Bild von der Bildung und dem Künstlertum des Helianddichters, L. Bertholds feinsinnige Neubehandlung der Versuchungsgeschichte der Genesis. Die Einleitung zur Heliandausgabe schließt mit dem selbstbewußten, für E. Sievers und überhaupt die ältere Generation bezeichnenden Satz : ‘Ich glaube durch die Mitteilung der benutzten Quellen unter dem Texte und die Zusammenstellungen über die sprachliche Technik des Dichters für den der zu lesen versteht eine sicherere Grundlage für eine richtige . . . Beurteilung der künstlerischen Individualität des Dichters gegeben zu haben, als dies durch die Wiederholung einiger allgemeiner Redensarten über seine volkstümliche Kunst hätte geschehen können.’ Auf Grund einer Quellen- und Sprachbeherrschung, die ihn als einzigen aller Späteren an die Seite von Jakob Grimm stellt, stand das Gerüst der altgermanischen Dichtung und Dichtersprache so klar vor seinen Augen, daß er es für überflüssig hielt, darüber viel Redens zu machen. Und mit der Liebe Jakob Grimms gewinnt er auch aus den ‘scheinbar unbedeutendsten Kleinigkeiten’ Typisches und feste Gesetze des Sprachgebrauchs, die ihn befähigen, das Künstlerische der Texte bis in alle Feinheiten zu durchkosten. Er und die Großen um ihn verlangten das gleiche Emporsteigen aus den Texten von denen, zu welchen sie redeten. Darum haben sie es verschmäht, ihre Einsicht in glänzenden und bestechenden Formulierungen weiterzureichen, woran sich die berauschen, die keine Texte mehr lesen können oder wollen. Unrecht und Überheblichkeit aber ist es, in der königlichen Sicherheit und Zurückhaltung dieser Großen philologische Beschränktheit zu sehen. Beim Vortrag altgermanischer Verse konnte E. Sievers gerade durch die zugleich ursprüngliche und am Text gebildete Tiefe des sprachlichen Erlebens erschüttern. Mit dem systemlosen Sammeln von Parallelstellen, wie es Erläuterungen wohl lieben, hat er sich nicht zufrieden gegeben. So schaute er in seinem stilistischen Wörterbuch die Sprache des Helianddichters als Stück eines germanischen Ganzen. Wir warten immer noch auf den, der von dieser Grundlage aus die Geschichte der altgermanischen Dichtersprache schreibt. Das Wörterbuch, das E. Sievers geplant hat, schenkte uns 1927 der Fleiß des Amerikaners E. H. Sehrt. Über eine kritische Ausgabe hat E. Sievers sich gelegentlich und dann sehr vorsichtig und zurückhaltend geäußert. Die Bemühungen, ein sprachlich geregeltes Original zu gewinnen, müssen an der Tatsache scheitern, daß der Helianddichter auf einer lebendigen Mundart aufbaute, die die Zeichen großer sprachlicher Erschütterungen und Umwälzungen an sich trug. So hat denn das sichere Sprachgefühl E. Sievers von allem Basteln an den handschriftlichen Sprachformen zurückgehalten, obgleich ihn die Lieblinge seiner jungen Jahre durch das ganze Leben begleitet haben. Nach gelegentlichen Bemerkungen zu Tatian und Heliand kehrt er 50 Jahre später noch einmal, und zwar mit Hilfe der Schallanalyse, zur Frage der Praefatio des Heliand und auch zum Tatian zurück. Als Verfasser der Praefatio erkennt er Hraban, und auch die Einschübe und die Versus will er auf Fulda festlegen. Hraban wächst ihm zum Mittelpunkt und tätigen Förderer hoch- und niederdeutschen Schrifttums des 9. Jh.s heran, und die Verzweigung der Heliand- und Genesisüberlieferung weiß er ansprechend an den Lebensweg und den fuldischen Kreis Hrabans anzuschließen. Seine Auffassung aber deckt sich in ihrer Richtung und in wesentlichen Punkten mit dem Wege, den gleichzeitige philologisch-historische Forschung beschritten hat : ein wertvolles und beruhigendes Zusammentreffen.
Die genannten ersten grammatischen Arbeiten von 1874. 75 leiten Aufsatzreihen ein, die sich bis zur Jahrhundertwende erstrecken. Sie tragen die Gesamttitel : Kleine Beiträge zur deutschen Grammatik (1874-1884), Zur Akzent- und Lautlehre der germanischen Sprachen (1877. 78), Grammatische Miszellen (1892-1902). Darum legt sich ein Kranz von kleineren und größeren Arbeiten gleicher Denkart. Die Entwicklungsrichtung, in die E. Sievers hineintritt und die er dann selber entscheidend bestimmt, ist klar übersehbar : Anknüpfung an J. Grimm, Auseinandersetzung mit W. Scherer, Gleichschritt mit der Indogermanistik, wobei die Namen A. Leskien, H. Osthoff, J. Schmidt, B. Delbrück zu erwähnen sind, Gleichschritt auch mit den germanistischen Generationsgenossen, vor allem mit W. Braune, H. Paul, F. Kluge, R. Kögel. In Anknüpfung an die Erkenntnisse der indogermanischen Sprachwissenschaft greift er die vielen ungeklärten Fragen der Laut- und Formengeschichte des Gesamtgermanischen und der germanischen Einzelsprachen an mit Fähigkeiten, deren Zusammenspiel ihn über alle hinaushebt : Schärfe des Blicks, sichere Beherrschung des Blickfeldes, die Gabe scheinbar weit Auseinanderliegendes und Unvereinbares zu verbinden und dann schlicht und überzeugend zu erklären. Er ist Indogermanist, Germanist im weiten und unverfälschten Sinne des Wortes und dazu Lautphysiologe aus begnadeter Natur, Sprachforscher und Phonetiker zugleich, was kein Gegensatz sein sollte, bis heute aber oft genug keine Einheit ist. Er meistert das weite Blickfeld nicht allein im Ausbau und im Verfolg von Methoden, die nun einmal am Schreibtisch wachsen müssen, sondern vor allem auch mit jener inneren Hellhörigkeit und jener Gabe des Durchlebens der Gegenstände, die alle Sprachforscher vor und nach ihm in den Schatten stellt. In dieser Hinsicht ist er eine einmalige Erscheinung, und die gelehrte Welt hat sein absolutes Königtum gern und willig anerkannt. Weil er aber von hoher Warte bis auf den Grund der Dinge schaute, sind seine Feststellungen und Erklärungen auch so verblüffend einfach. Sie gehören heute zum Gemeingut des germanistischen Lehrbetriebs. In den seltenen Fallen aber, wo spätere Forschung ihn verbessert hat, bleibt ihm das Verdienst, die Frage gestellt und die Lösung vorbereitet zu haben, bleibt die tadellose Darbietung des Materials.
Quellen, Grenzen und Formen der Feminindeklinationen legt er fest. Der sogenannte Instrumental des Angelsächsischen wird als alter Lokativ erkannt. Das Rätsel der starken Adjektivdeklination, einer hervorstechenden germanischen Sonderheit, erklärt er endgültig aus dem steigenden Einfluß des Pronomens auf das Adjektivum, wobei die Pronominaladjektiva als Brücke dienten. Die auffallende Berührung zwischen der dritten und ersten Klasse der schwachen Verben im Urgermanischen, zwischen der dritten und zweiten im Sächsisch-Friesisch-Englischen erscheint als Folge lautgerechten Zusammenfalls der Endungen gewisser Formen. Für eine Gruppe ursprünglich reduplizierter Präterita wird Kurzvokal erwiesen in einem weiten nordwestgermanisch-skandinavischen Gebiet, das sich dadurch vom deutschen Süden absondert. Eigenartige Formen des Verbums heißen im Nordischen und Angelsächsischen sind zusammengehörige Spuren alter Medialflexion. Schwierigkeiten der Verben wollen und sein werden aufgehellt. Aus vertiefter Einsicht in Wesen und Wirkungsmöglichkeit des Ablautes und in die lautgesetzlichen Möglichkeiten innerhalb des germanischen Vokalismus fallen Entscheidungen über die Verben kommen und tun, über Doppelformen wie worahta warahta, mohta mahta, über Beziehungen zwischen germanischen Diphthongen und Längen, wird das Pronomen jener wiederholt erörtert. Über Ablautsverhältnisse der Nebensilben ursprünglich verschiedener Namen wird auch der Doppelname Áli: Váli für Balders Rächer begreiflich gemacht. W. Streitberg hat bei Gelegenheit von E. Sievers’ 60. Geburtstag daran erinnert, daß Sievers das berühmte Vernersche Gesetz vom Jahre 1875, den Zusammenhang von Akzent und Konsonantenerweichung, schon 1874, in einem Briefe an W. Braune, angedeutet hat, ohne aus seiner Beobachtung die Folgerungen zu ziehen. Im Gefolge der Vernerschen Entdeckung ist E. Sievers’ Aufsatz über das Nominal- suffix tra in Germanischen entstanden. Die lautlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Konsonantismus der Ableitungssilbe werden klargelegt und die Fülle der Abschattungen aus gesetzmäßigem Spiel begriffen. In einer viel später veröffentlichten Nachblüte wird das Nebeneinander von dl und ll im Typus Stadel Stall nach einfachen Lautgesetzen erklärt. Was die Lautgeschichte auseinandergerissen hat, findet sich wieder zusammen ; die Etymologie kann eine Reihe von sicheren Gleichungen buchen. Bei der Fülle dessen, was der unaufhaltsam vorwärts Stürmende zu sagen hat, werden wichtige Erkenntnisse wie nebenher ausgestreut; so das Gesetz des indogermanisch-germanischen Wechsels von i und j, der sich nach der Quantität der vorhergehenden Silbe richtet, oder das Gesetz, nach dem sich der Inlautswechsel von hw and w regelt. Die Frage der westgermanischen Konsonantenlängung hat ihn nie zur Ruhe kommen lassen.
Die charakteristischste sprachwissenschaftliche Leistung des jungen E. Sievers scheint uns die Aufsatzreihe Zur Akzent- und Lautlehre der germanischen Sprachen. Gegen und um die Jahrhundertwende fließen die sprachgeschichtlichen Arbeiten dünner. In diesem oder jenem Beitrag hat man das Gefühl als würden die Methoden der jungen Zeit überspannt. Und so scharf der Phonetiker Methode und Gesetze von Anfang an überwacht, hier und da scheint das lebendige Nachfühlen doch in den Hintergrund gedrängt. Das bedeutete für den aus reicher Veranlagung Schaffenden keine Gefahr. Während der eine Strom versickerte, bereitete sich der Durchbruch eines anderen vor, der aus gleicher Tiefe kam. In der genannten Aufsatzreihe des 26.27jährigen fließen beide neben- und durcheinander. Es geht um Lachmanns Tieftongesetz und um den Vokalismus der Nebensilben in den germanischen Sprachen. Sievers scheidet klar zwischen der natürlichen Sprachbetonung der Prosarede und der metrischen Modelung. Für die altgermanische Prosabetonung hat Lachmanns rhythmisches Akzentgesetz keine Geltung. Im Gegenteil finden wir überall, ‘daß Vokale, die nach dem rhythmischen Tieftongesetz den Tiefton haben sollten, eher geschwächt oder ausgestoßen werden als solche, die danach unbetont sein sollten’. Von hier aus tritt er nun den gewohnten Marsch an durch das gesamtgermanische Sprachgebiet. In Verfolgung des Geschickes der zwischen Hoch- und Tiefton stehenden sogenannten Mittelvokale scheidet er die durchgreifenderen Synkopierungserscheinungen des Nordischen von der westgermanischen Tendenz, die am reinsten im Angelsächsischen hervortritt : Erhaltung des unbetonten Mittelvokals nach kurzer, Tilgung nach langer Wurzelsilbe. Angelsächsisch, Altsächsisch, Althochdeutsch bilden eine Stufenfolge, bei der das alte westgermanische Akzentgesetz im Althochdeutschen am ersten und am stärksten in Verfall geraten erscheint ; ein Wachsen von Sproßvokalen in der Richtung Nordsüd geht damit Hand in Hand. Grundströmungen wirken sich demnach in den Einzelsprachen verschieden aus. Auch bezüglich der vokalischen Auslautsgesetze scheidet sich das Westgermanische vom Nordgermanischen und Gotischen ; auslautende i, u bleiben gleich den Mittelvokalen nach kurzer, schwinden nach langer Wurzelsilbe. Auch in diesem Falle ist das Akzentgesetz gemeinsam gewesen, die Wirkung erst im Leben der Einzelsprachen eingetreten. In beiden Fällen aber ist die Quantität der Stammsilbe im Westgermanischen ausschlaggebend. Daß zwei- und dreisilbige Wörter in der Behandlung der End- bzw. der Mittelvokale übereinstimmen, ist aber schließlich nur aus dem Zusammenhang der lebendigen Rede zu begreifen, aus der das Sprachbewußtsein allmählich und nach langem Streit Normalformen aussonderte. Damit aber liegen die beiden Grundhaltungen der Sieversschen Sprachbetrachtung vor uns. Einmal das überlegene Ordnen der germanischen Gesamtüberlieferung, das Begreifen und Erklären auf weitem Hintergrund, das sich zu einfachster Formel spitzt, die Auflockerung des Germanischen, insbesondere des Westgermanischen, das bewegt und lebendig wird, die Aufllösung überkommener Dogmen ; anderseits die Ableitung des sprachlichen Geschehens aus den Gestaltungsmöglichkeiten, die das zusammenhängende Sprechen in sich trägt. Die Beobachtungen über die vielfach verästelten Zusammenhänge und Gegensätze im Leben der germanischen Sprachen sind bis heute noch nicht fruchtbar gemacht für eine germanische Sprachgeschichte, die von den sprachgeographischen Beziehungen ausgeht und die sich den Arbeiten und Leistungen der Romanisten an die Seite stellen könnte. Die Verschrumpfung unseres germanistisch-sprachlichen Lehr- und Forschungsbetriebes trägt die Schuld. Es ist zu hoffen, daß das kühne Buch H. Brinkmanns über Sprachwandel und Sprachbewegungen in althochdeutscher Zeit Nachfolge findet. Die geheimnisvollen Kräfte aber, die die Entwicklung der Laute und Formen und auch des Satzes, der Syntax, am Ende bestimmen, hat E. Sievers selbst in der zweiten Hälfte seiner Forschertätigkeit heraufgezaubert. Er hat sie in seinen Anfängen geahnt und angedeutet, aber die Eroberung und Ordnung des Materials und jene Denkrichtung, die wir die junggrammatische nennen, hielt ihn zunächst ganz gefangen.
Der nordischen und der angelsächsischen Grammatik gilt seine besondere Liebe. Aus dem Gebiete des Altnordischen sind, von kleineren Beiträgen abgesehen, drei größere Abhandlungen zu erwähnen. Die Untersuchung über die germanischen Nominalbildungen auf -aja-, -çja- (1894) erklärt schwierige Fälle der nordischen ia-Deklination. Diesseits der Jahrhundertwende liegen die Arbeiten Zur Technik der Worstellung in den Eddaliedern (1909) und Zur nordischen Verbalnegation (1912. 13). Es sind Ansätze zu großzügigen Forschungen auf der Grenze von Syntax, Stil und Metrum, die leider nicht zu Ende geführt worden sind. Beide Male handelt es sich um die Stellung des Verbs. Die Frage der Stellung des Verbum finitum in einfachen abhängigen Sätzen, die durch ein besonderes einleitendes Wort (Konjunktion, Relativ- oder Fragepronomen) als solche gekennzeichnet sind, wird für die eddischen Metren Ljóda- háttr, Málaháttr, Fornyrdislag auf Grund einer fein durchdachten Methode dahin beantwortet, daß zwar eine Normalform mit Endstellung anzuerkennen ist, im übrigen aber die besonderen metrischen Formen einen bemerkbaren Einfluß auf die Wortstellungen ausgeübt haben. Das mit -a, -at, -t negierte Verb neigt in Satz und Vers zur Eingangsstellung, während das mit einfachem né oder mit né + -(a)t usw. negierte Verb die Endstellung bevorzugt. Es ist bezeichnend, daß die Frage nach den Ursachen, nach Entstehung und Entwicklungsgeschichte, nach dem Verhältnis zur Prosarede und zu den vergleichbaren westgermanischen Dichtungen zwar gestellt, aber nicht beantwortet wird. In der melodischen Gliederung von Satz und Vers und in der Verschiedenheit der Stilisierung dieser Gliederung in Poesie und Prosa liege das, was alle Stellungsformen zugleich bindet und trennt. Mit dieser allgemeinen Formel werden wir entlassen. Der Versuch, Statistik und Regel nach der Seite des Historischen und des Künstlerisch-Stilistischen zu vertiefen und zu beleben, ist nicht unternommen. Bewährte positivistische Methode wird herangeführt an die neu entdeckte Welt der Sprachmelodie, von der aus feinste Regelungen germanischer Sprachfügung begriffen werden sollen. Aber über die Gesetze dieser Welt, die fähig sind, empirischen Regeln Leben und Bedeutung zu geben, verlautet nichts. Die Arbeiten wollen nach vorne, bleiben aber am Ende auf alter Bahn.
Die angelsächsische Grammatik hat E. Sievers das ganze Leben hindurch gefesselt. Nachdem er im Zusammenhang der grammatischen Forschungen der 70er Jahre wichtige Fragen der historischen angelsächsischen Grammatik beantwortet hatte, gibt er in den 80er und 90er Jahren der Darstellung der Laut- und Formenlehre in der ununterbrochenen Sorge um drei Auflagen die klassische junggrammatische Gestalt. 1900 beschließt der Fünfzigjährige mit der Abhandlung Zum angelsächsischen Vokalismus im Dekanatsprogramm der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig eine Arbeits- und Forschungszeit, die gerade auf seinem Lieblingsgebiete besonders scharf umgrenzt erscheint. Zu Anfang dieses Zeitabschnittes steht die Erklärung angelsächsischer Spracherscheinungen auf Grund vergleichender Sprachbetrachtung, am Ende die Festlegung und Ordnung feinster lautlicher Einzelheiten. Über die angelsächsischen poetischen Texte hinaus erschließt er die Schätze der Prosa für die zeitliche Abfolge der Sprachformen und die Einteilung und Geschichte der ältesten Mundarten ; und dann folgt der Ausbau in unermüdlicher Befragung der Quellen und in strenger Selbstkritik. Dabei werden Beobachtungen und Feststellungen gemacht, deren Bedeutung über den Rahmen der angelsächsischen Grammatik hinaus- und in die westgermanische und allgemeine Grammatik hineinragt, so die Scheidung prosaischer Kurz- und dichtersprachlicher Vollformen in der Verbalflexion, die phonetische Bestimmung der angelsächsischen Labiale, die feinen lautlichen Abschattungen, denen das aus dem Lateinischen übernommene Wortmaterial unterliegt. Bei Gelegenheit des Erscheinens von Bülbrings Altenglischem Elementarbuch wird kurz nach 1900 die Frage der Schicksale von Diphthongen in unbetonter Stellung noch einmal nach alter Art, phonetisch-spekulativ, behandelt, und E. Sievers selbst charakterisiert seine Betrachtungsweise in einem bezeichnenden Schlußsatz dahin : ‘Ich möchte glauben, daß der jetzt gebotene Erklärungsversuch dadurch an Wahrscheinlichkeit gewinnt, daß er eine Menge scheinbar divergierender Erscheinungen auf ein naheliegendes Grundprinzip zurückführt, die sonst einer ganzen Reihe von Einzelerklärungen bedürfen’. Das ist eine Geisteshaltung, auf die wir wiederholt stießen und der er überraschende und überzeugende Erklärungen verdankt. Aber unmittelbar darnach regt sich der Zweifel. In einem Nachtrag heißt es : ‘Auch meine ich, daß mit der Akzentlosigkeit allein die zwangsweise Akzentumsetzung der unechten Diphthonge noch nicht genügend erklärt ist. Es müssen da noch andere Dinge mit im Spiel sein, die ich freilich zur Zeit noch nicht mit Zuversicht zu bestimmen wage’ (1903). Das bezeichnet den Bruch. Seit diesem Satz ist keine Arbeit junggrammatischer Art mehr erschienen. Wo er in späteren Jahren zu lautlich-grammatischen Fragen Stellung nimmt, bleibt einerseits, wie in früheren Jahren, die Achtung vor der Überlieferung, die nicht zu regeln, sondern zu deuten ist; nur kommt die Deutung jetzt nicht mehr von der Seite der Lautphysiologie, sondern von sprachmelodischen Beobachtungen her, von einer neuen Einsicht in die Bedeutung des Klanglichen der Rede, damit aber auch der Satzdubletten, die der Akzent heraufführt, und die in den scheinbaren Unregelmäßigkeiten des Schriftbildes einen sinnvollen Niederschlag finden. Anderseits prägt er 1905 den Satz : ‘Weg mit dem Schriftbild für den, der phonetisch hören lernen will’, und darnach werden Sprachformen angesetzt gegen die handschriftliche Orthographie, so wie sie zu sprechen sind. So mußte es kommen, daß er die reifste Frucht seiner junggrammatischen Jugend- und Manneszeit, das Buch, das, auch ins Englische übersetzt, seinen Namen über die Universitäten der Alten und der Neuen Welt getragen hat, daß er die Angelsächsische Grammatik verleugnete. Seit der dritten Auflage von 1898 hat er sich gegen die Neubearbeitung gesperrt. Er mußte mit neuen Augen und einem neuen Gefühl von neuem beginnen. Die Masse der Texte, die er, wie kein zweiter, als Junggrammatiker und Lautphysiologe gemustert und verzettelt, sprachlich erklärt und in grammatische Schemata gefügt hatte, sollten aus der allmählich erstarrenden statistisch-phonetisch-historischen Betrachtungsweise — der Erstarrungsvorgang ist gerade an seinen Arbeiten deutlich zu beobachten — gelöst und in tiefstem und feinstem klanglich-melodischen Nacherleben des sprachlichen Gesamtablaufs von neuem befragt und zu einem von lebendigem Grunde aufsteigenden Neubau der Grammatik zurechtgelegt werden, wobei die Klangstruktur des Autors und die jüngerer Überschichtungen, die ursprüngliche und die spätere orthographisch-sprachliche Gestalt voneinander abzulösen wären. Das Ringen um diese Aufgabe hat die beste Manneskraft von E. Sievers verschlungen. Es führte ihn über das Angelsächsische und Germanische hinaus in die seit den Anfängen geliebten Weiten des Indogermanischen, ja auch in die semitischen Sprachen hinein. Wie beim ersten Aufbruch der jungen Jahre durchstürmt er noch einmal die alten Gefilde seines germanistischen Lehr- und Forschungsbereiches ; aber weil er nicht mehr auf die schriftgebundenen körperlichen Formen der Sprache schaute, vielmehr auf ihren Herzschlag lauschte, konnte er sich auch in Gebiete wagen, die ihm von Hause fremd waren. Kein Sprachforscher hat wie er vom Text und von den sprachlichen Zusammenhängen her die sprachlichen Welten überschaut und durchlebt von Britannien und von der Ultima Thule bis zum Heiligen Lande und bis nach Babylon und Indien. Aber bevor wir diese Weiten mit ihm zu durchwandern versuchen, kehren wir zu den Anfängen und zu der frühen Manneszeit zurück.
Mit den Geschicken der Angelsächsischen Grammatik hält die Sieverssche Phonetik gleichen Schritt. Die Grundzüge der Lautphysiologie erschienen 1876, entstanden also in jenen unendlich fruchtbaren jungen Jenenser Jahren, in denen auch die grundlegenden und bahnbrechenden grammatischen und textgeschichtlichen Arbeiten reiften. Die zweite Auflage mit dem Titel Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen wuchs und erschien zugleich mit der ersten Auflage der Angelsächsischen Grammatik. Auch im Falle der Phonetik hat er nach der fünften Auflage von 1901, also seit jenen Jahren der Krise und des Umbruches der Entwicklung, jede Neubearbeitung abgelehnt. Ausgangspunkt und geschichtliche Stellung des Buches liegen klar zutage. Auf die Bemühungen Rudolf v. Raumers um eine Vereinigung von Physiologie und Lautlehre, die J. Grimms Lehre von den Buchstaben überholten, folgten 1856 E. Brückes Grundzüge der Physiologie und Systematik der Sprachlaute. Diese gaben W. Scherer die Grundlage des Abschnitts Lautlehre seines Buches Zur Geschichte der deutschen Sprache (1868). Zugleich mit dem Buche von E. Sievers erschien die Darstellung der Kerenzer Mundart des Kantons Glarus von seinem Schüler J. Winteler.
In diesem Zusammenhang bedeutet die Leistung von E. Sievers einen unerhörten Fortschritt; und gerade an dieser Stelle tritt die Einmaligkeit der Begabung heraus, die ihn nie verlassen und in seinem zweiten Entwicklungsabschnitt auf neues, unbetretenes Land geführt hat. Als Textphilologen und Grammatiker haben auch andere, und nicht zuletzt seine Generationsgenossen, Großes geleistet, so sehr er sie auch durch die Weite seines Bereiches und die Sicherheit, mit der er sich darin bewegte, überragen mochte. Als Lautphysiologe und Phonetiker, der ein Geschenk der Natur auf dem Boden lebendiger Erfahrung und geschichtlicher Überlieferung spielen ließ, ist er schlechthin einzig. Von hier aus hat denn auch gerade er die neuere Sprachwissenschaft entscheidend bestimmt, und zwar in dem Teil, der schon im Titel der Lautphysiologie und dann auch aller weiteren Auflagen erscheint, auf dem Gebiete der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Er ist von Beginn an durchaus selbständig, geschult an der Physiologie, an Merkel und Brücke, aber Feind dem Dogma, dem Schema und der Aufstellung allgemeiner phonetischer Systeme ; eben weil er vom Selbstgehörten ausgeht, von der Beobachtung des lebendigen Sprechens, der deutschen Mundarten, des Englischen und Dänischen, auch der romanischen, slavischen und asiatischen Sprachen. Die Beobachtung des lebendigen Sprechens aber führte ihn über Laut und Lautsystem hinaus in das Gebiet der Kombinationslehre, in die Untersuchung des Silben-, Wort- und Satzbaues, des Lautwandels und vor allem des Akzentes, und im Akzent sieht er eine der wichtigsten Triebfedern der Lautgeschichte — Akzent freilich, wie er ihn hört und bestimmt, und das ist ein unendlich feines dynamisches und musikalisches Spiel. In einfacher und klarer Sprache fügen sich die Beobachtungen zu einem Gesamtbau von schönster Harmonie und Übersichtlichkeit. Die Abhängigkeit der älteren Grammatik vom Buchstaben, vom Zeichen, wird überwunden, der Mundart gegenüber der Sprache der Gebildeten ihr Recht bestätigt, ja der Vorrang eingeräumt, das allgemeine Lautsystem gestürzt zugunsten der Systeme einheitlicher Sprachgenossenschaften, die zum Zwecke der Feststellung von Ähnlichkeit und Unterschied und zur Erlangung letzter Einsichten miteinander zu vergleichen sind. Die Irrwege der rein buchstabenmäßigen und der rein physiologischen Lautbehandlung werden in einem einzigen kühnen Vorstoß verlassen, die Befangenheit J. Grimmscher Sprachbetrachtung gelöst, die empfindlichste Lücke seines Werkes ausgefüllt, der Lautforschung die Bahn gewiesen, auf der sie durch zwei Generationen vorwärts gegangen ist. Das folgenschwerste Kapitel, dessen Beobachtungen durch die Auflagen besonders gepflegt werden, die Akzentlehre, hat E. Sievers an einem Tage niedergeschrieben. Die vielen Fragen, die es berührt, haben ihn über seinen Entwicklungsbruch und über die letzte Auflage hinüber beschäftigt und nie zur Ruhe kommen lassen ; eben weil dies Kapitel des 25jährigen aus genialer Veranlagung quoll, sich aus stärkster und tiefster Wurzel nährte, und so immer wieder erblühen konnte. In den Wirrnissen und im Suchen der späteren Jahre hat E. Sievers gerade von dieser Seite seiner Anfänge her noch einmal sichere und dauernde Erkenntnisse gewonnen.
E. Sievers und den Junggrammatikern verdanken wir vor allem den Ausbau des Werkes, das J. Grimm begonnen, aber mit vielen Schwächen behaftet hinterlassen hatte. Sie haben zugleich das Verdienst die Gefahr gebannt zu haben, die von W. Scherers Geschichte der deutschen Sprache drohte. H. Paul hat über dies Buch hart geurteilt. Wir wundern uns heute, daß es auf die Zeitgenossen einen so tiefen Eindruck gemacht hat. Ein Beitrag zu einem ‘System der nationalen Ethik’ ist es nicht geworden und konnte es bei der damaligen Lage der Wissenschaft von der deutschen Sprache nicht sein. Gewiß hat es ‘das gelockerte Band zwischen deutscher Grammatik und vergleichender Sprachforschung aufs neue geknüpft’, ‘bewirkt, daß sich die Lautphysiologie gerade unserer Wissenschaft wie ein verwandter Seitentrieb angegliedert hat’, Fragen aufgeworfen, die bis heute der Lösung harren, und E. Schröder hat mit Recht die historische Stellung des Buches unterstrichen und betont, ‘daß das Streben, die sprachlichen Tatsachen als historisch begreifliche Prozesse zu erkennen, unserer Wissenschaft seitdem geblieben ist’. Aber das Buch hatte auch die lockende Fahne gezogen : ‘Wir sind es endlich müde, in der bloßen gedankenlosen Anhäufung wohl gesichteten Materials den höchsten Triumph der Forschung zu erblicken’, und darnach blendende und verheissungsvolle Phantasien entwickelt, die der Wissenschaft von der deutschen Sprache zum Verhängnis hätten werden können. Die Junggrammatiker, E. Sievers voran, haben das verhindert. E. Sievers hat immer und gerne zugegeben, wieviel er W. Scherer verdankt, und gerade er hat auf den guten Seiten des Schererschen Buches aufgebaut in Widerstreit und Fortsetzung. Aber unbeirrt durch die Stimme, die zur Beantwortung gleich der letzten Fragen rief, haben die Junggrammatiker und ihr Kreis — zu unserm Glück — Material gehäuft und gesichtet und in eine klassische Form grammatischer Darstellung gebracht, darüber hinaus aber auch, jeder in seiner Art, die geschichtliche Entwicklung verfolgt und erklärt und unsere Einsicht in das Werden der germanischen Sprachen großartig gefördert. Jedoch das Übergewicht des Lautlich-Phonetischen, dessen Bedeutung für die Erforschung lebendigen Sprechens durch J. Wintelers Kerenzer Mundart erwiesen und in den Anfängen mit Recht in den Vordergrund gerückt war, die Überschätzung des Lautgesetzes, endlich die Zwangsjacke des nun gewonnenen Schemas haben doch wieder hemmend gewirkt, ja man kann sagen Umschaltung und Fortentwicklung des sprachlichen Denkens behindert und jene verhängnisvolle Mißachtung der sprachlichen Studien heraufgeführt, unter der wir leiden. Weite Felder der deutschen Sprachgeschichte blieben unbeackert. H. Paul, der Sprachphilosoph, ist als Sprachdarsteller am ehesten erstarrt, E. Sievers ist auf dem Gebiete der Lautgeschichte und des Lautwandels immer lebendig geblieben, W. Braune hat die engste Fühlung behalten mit neuen Strömungen. Diese aber kamen zunächst von der Sprachgeographie, von G. Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs und H. Fischers Geographie der schwäbischen Mundart. Wir dürfen es nicht verschweigen : E. Sievers hat H. Fischers Werk mißtrauisch, dem Sprachatlas ausgesprochen feindlich und ablehnend gegenübergestanden, obgleich beide Werke am Ende von der junggrammatischen Schule ausgingen und in der Überbetonung des Lautlichen die Schulschranken zeigen. Beide Werke fußten eben nicht auf phonetischen Aufzeichnungen, sondern auf Materialien, die von Laien, vor allem von Lehrern und Pfarrern, nach hochdeutschen Vorlagen in die Mundart übersetzt worden waren ; beide Werke brachten die Hauptthese der Junggrammatiker, den Satz von der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze, auf Grund breiten Erfahrungsmaterials ins Schwanken, beide wiesen von der individualistischen auf die soziologische Sprachbetrachtung, auf die geschichtlich gewordene Sprachgemeinschaft, ihren Aufbau, ihre Geschicke und ihre Bindungen im Raum. Von der naturwissenschaftlich genauen Beschreibung drängte alles fort auf die Beobachtung der Dynamik im sprachlichen Geschehen, wodurch einmal der Sprachwissenschaft schlechthin, ein andermal der Vereinigung von Sprachwissenschaft und Kulturgeschichte ganz neue Erkenntnisse erstanden und neue Aufgaben gestellt wurden. Das haben die Junggrammatiker, hat insbesondere E. Sievers nicht gesehen, obgleich nach Kenntnis der deutschen Sprachgeschichte, insbesondere der deutschen Mundarten, kein zweiter so wie er imstande gewesen wäre, den beiden Unternehmungen den Weg zu bahnen. Bis zur Jahrhundertwende verfeinerte sich die Phonetik mehr und mehr, im Banne großer und starker Tradition häuften sich die Sprach-, insbesondere die Lautbeschreibungen einzelner Mundarten oder auch von Mundartgebieten, und unter der Führung vor allem von A. Bachmann und O. Bremer wurde ohne Zweifel Hervorragendes geleistet. Ja noch jüngst haben die Althochdeutsche Grammatik von J. Schatz (1927) und die Alemannische Grammatik seines Schülers L. Jutz (1931) nüchternster Sprachbeschreibung in heroischer Askese und in ängstlicher Scheu vor dem Schritt in das geschichtliche Leben das Wort geredet, nicht ausdrücklich, aber durch ihre gedankliche Stummheit. Die Althochdeutsche Grammatik von J. Schatz aber ist E. Sievers gewidmet.
In zähem Ringen gegen die Übermacht deutscher Schultradition hat sich dennoch das neue Denken durchgesetzt. In der Generation, die seit der Jahrhundertwende wächst, kreuzen sich die Zeiten. Die Leistungen der konservativen Germanisten des westlichen Alpengebietes fallen zusammen mit den Untersuchungen an der unteren und mittleren Rheinlinie, die die Wendung sicherten. Die deutsche Sprachwissenschaft aber ist durch die Übermacht ihrer Tradition im Verhältnis zu den Romanisten ins Hintertreffen geraten. Die Romanisten haben, unbelastet, eine Generation früher den Umschwung vollzogen und damit im internationalen Ansehen die alte Stellung der Germanistik eingenommen, voran, und dann ständig an der Spitze, die Schweizer Romanisten, die Nachbarn der konservativen Germanisten, eine bemerkenswerte Tatsache. Von den Junggrammatikern hat das W. Braune klar gesehen. Sein erwähnter Aufsatz Angelsächsisch und Althochdeutsch leitet sich in seiner Denkart von der Sprachgeographie her, nicht zuletzt von der französischen. Um E. Sievers aber standen die Schranken. Er vermochte nur vom eignen Acker zu leben, vom Material, das er selbst durchgepflügt hatte und sprachgeschichtlich im Sinne W. Scherers, physiologisch im Sinne seiner Phonetik und seiner besonderen Veranlagung durchleben und begreifen konnte. Die Sprachkarte, die von anderen bereitgestellt wurde, und die Deutung, die von der Sprache zu den Sprechern und ihren verwickelten politisch-geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Schicksalen, von hier aber wieder zur Sprache zurückführte, die Einbeziehung der sprachlichen Umwelt, das historisch-sprachliche Denken weitesten Sinnes also blieb ihm fern wie die Sprachphilosophie und der Wesenskern seines Freundes H. Paul. In seinem Nachruf auf W. Braune, 1927, hat E. Sievers die drei Leipziger Studenten und Freunde des Jahres 1870 trefflich charakterisiert, wenn man auch sagen darf, daß ein gut Stück späterer Entwicklung in die Studentenporträts hineingesehen ist : W. Braune, ‘die bei weitem ausgeglichenste Natur von uns dreien, ausgezeichnet durch die Sicherheit und Klarheit seines wesentlich auf induktivem Wege fortschreitenden Denkens’, H. Paul, ‘schon damals ein etwas schwer ringender Denker von stark deduktiv-theoretischer Veranlagung bei weitestem Interessenkreis’, ‘ich noch etwas geplagt von naturwissenschaftlichen Neigungen und daneben von vornherein mehr sprunghaft und instinktiv als vollbewußt auf allerhand Sprachliches und Lautliches eingestellt’. Im Laufe des letzten Gesprächs, das ich mit E. Sievers führte, bei Gelegenheit der Beratung über die Geschicke der ‘Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur’, der Gründung der Leipziger Studiengenossen, meinte er : Erst kam das Lautgesetz, dann die Schallanalyse, jetzt die Sprachgeographie, und es bewegte ihn schmerzlich, daß es ihm nicht vergönnt gewesen sei, die Schall- analyse zum Erfolg zu führen. Ich sagte ihm etwa, daß man nicht von sich ablösenden Schulen und Forschungsrichtungen sprechen sollte, daß alle Richtungen, und nicht nur diese drei, nebeneinander betrieben werden müßten, um das Phänomen Sprache und insbesondere die Grundlagen der Geschichte der deutschen Sprache zu begreifen ; obgleich wir von ganz verschiedenen Seiten kämen, hätten wir uns in wichtigen Punkten, so z. B. in der Frage der Doppelformen und sogar des Lautgesetzes weitgehend verstanden. Und wenn auch er wohl von der guten alten Zeit sprechen mochte und das Tun der Jüngeren ihm verdächtig vorkam, so war er doch anderseits groß genug offen zu sagen, daß er eben einseitig veranlagt sei und ihm wohl das Organ fehle, sie zu verstehen. Diese Einseitigkeit aber, die ihn und andere seiner Generation kennzeichnet, ist im Gange der Entwicklung unseres Erkenntnisvermögens wohl notwendig, damit breite Striche aufgeschlossen und Wege, auch wenn sie nicht weit genug oder gar in die Irre zu führen scheinen, entschlossen und mutig zu Ende gegangen werden. In diesem Sinne aber hat E. Sievers seine Sendung erfüllt. In seinem Schatten haben zwei Generationen gearbeitet, and er selbst hat das Phänomen der Laute in allen Verzweigungen von seinen Anfängen bis in seine letzten Stunden verfolgt. Was W. Scherer einst gewollt, aber nicht erreicht hat, steht heute erneut als Ziel am Horizont. L. Weisgerber hat es uns in seinem Buche Muttersprache und Geistesbildung (1929) eindringlich vor Augen geführt. Und dabei läßt er das Schlachtgetümmel wieder weit hinter sich, das um K. Vosslers Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft (1904) entstanden ist; er lenkt zu W. von Humboldt zurück. K. Vosslers Schlachtruf war nichts Neues ; er wiederholte, ohne es zu wissen, W. Scherers Ruf von 1868. 1870, 1900, 1930 wechseln die Generationen, wenn man runde Zahlen nimmt und die Überschneidungen außer Betracht läßt. Gleichzeitig mit L. Weisgerber hat Jost Trier in seinem Buche Der deutsche Wortschatz im Sinnbezirk des Verstandes (1931) verwandte Ziele gewiesen. Auch hier ist ein Schweizer, ist F. de Saussure vorangegangen. Bei L. Weisgerber aber stehen ruhige and überlegene Sätze. Sie sprechen von der Neueingliederung der Sprachwissenschaft in das Ganze der Geisteswissenschaften und von fruchtbarem Austausch mit den Nachbarwissenschaften im Geben und Nehmen ; die Leistung 100jähriger eifriger Facharbeit soll dabei für die gesamte Geisteswissenschaft lebendig gemacht werden. Die Kampfesrufe sind verhallt. Die Arbeit der Positivisten, der Sammler, Sichter, Ordner und Erklärer, wird ganz anders gewürdigt als bei den lauten Rufern, die an früheren Generationswenden standen. Die Einsicht, daß eins ohne das andere zu kurz schießt und der Idealismus doch immer nur vom Brote des Positivismus leben kann und wird, die Erkenntnis notwendiger Zusammengehörigkeit von Materialbearbeitung, Darstellung, Erklärung und Sinnbefragung sollte die wachsende Generation zu einem Zusammenspiel bringen, das über die früheren, die Arbeiter und die Rufer und ihrer beider Einseitigkeit hinausführt. Jost Trier hat ein sprachliches Wortfeld als Sammler, Ordner und Deuter mustergültig behandelt. Wortschatz und Redeform rückt L. Weisgerber in den Vordergrund, um Aufbau und Eigenart des Weltbildes der verschiedenen Sprachen zu erforschen. Aber da liegt eine neue Einseitigkeit. Nicht allein, daß die glücklich errungene soziologische und kulturgeschichtliche Betrachtungsweise in den Hintergrund gedrückt wird, sondern es fehlt auch die Gesamtdimension dessen, was G. Ipsen so glücklich als Lautung bezeichnet hat. Lautung, Bedeuten und Meinen sind die drei Dimensionen seines neuen Sprachbegriffs, wobei Bedeuten und Meinen sich in Wort und Satz verwirklichen. Die Lautung deckt sich etwa mit K. Vosslers weit gestecktem Akzentbegriff. Die Dimension der Lautung aber hat E. Sievers in der Schallanalyse der Sprachwissenschaft gewonnen. Durch die verschiedenen Auflagen der Phonetik and durch die erste und zweite Hälfte seines Lebenswerkes hindurch geht ein geradliniger Aufstieg vom Laut und vom Akzent zur Lautung. Und im Rücklauf wird bei der Untersuchung der Lautung die Verwirklichung in Silbe und Laut nie vergessen, und der Lautlehre erwachsen neue, zwar früh geahnte, aber doch erst in der Spätzeit endgültig gewonnene Erkenntnisse.
Bei der Phonetik verweilen wir noch einen Augenblick, den Anstieg zur Schallanalyse zu verfolgen. Die zweite Auflage von 1881 weckt die Keime der ersten Auflage zu vollem Leben. Schon in der ersten Auflage hatte sich das Eigne mit den wesentlichen Beobachtungen des Schülers und Freundes J. Winteler verbunden. Die zweite Auflage öffnet sich willig den Einflüssen der englisch-skandinavischen Phonetik ; aber nicht daß sie damit in Abhängigkeit geraten wäre, vielmehr wächst längst Gefühltes von hier und über die weiteren Auflagen, ja über die zweite Hälfte des Forscherlebens zwar langsam, aber in steter Entfaltung empor. Der Entwicklungsablauf wäre wert genauer dargelegt zu werden. Ich will nur einzelne wesentliche Punkte, und zunächst auch nur den Gang bis zur fünften Auflage, also die Entwicklung durch die erste Hälfte und bis zur Jahrhundertwende verfolgen. Wir bleiben im Akzentkapitel und seinem Umkreis, den wichtigsten Teilen des Kapitels Lautwandel oder Lautwechsel und Lautwandel, wie es seit der vierten Auflage heißt. Die Lautphysiologie von 1876 spricht beim Lautwandel von der Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Formen, die in Kollision treten, von einem zeitweiligen und unter Umständen langen Neben- und Durcheinander, von verschiedener Verwendung je nach der Stellung des Lautes, vom schließlichen Sieg der neuen über die ältere Lautform. Die zweite Auflage von 1881 bringt unter englischskandinavischem Einfluß die wichtigen Kapitel über den musikalischen oder tonischen Silben-, Wort- und Satzakzent und darin die folgenschweren Beobachtungen über Steigton und Fallton. Erst in der vierten Auflage von 1893 bekennt sich der Phonetiker ausdrücklich zum Lautgesetz und opfert dabei — notwendigerweise — die unbefangenen Beobachtungen von 1876. Dafür aber erscheint als Neues die Abhängigkeit des Vokalwechsels und der Diphthongierung von der Tonhöhe, von Steigton und Fallton, und die fünfte Auflage von 1901 endlich strebt dann der Erkenntnis der relativen Tonlagen und ihrer mechanischen oder historisch-formellen oder begrifflichen Ursachen zu, wobei zugleich die Umlegbarkeit der Tonlagen und demnach die Heraufführung von Tonkontrasten in ihrer begrifflichen und mundartlichen Bedeutung beobachtet wird. Damit aber ist der Weg zur Dimension der Lautung beschritten. In ihr wird sich das Gegensätzliche und das Schwanken der Phonetik lösen und harmonisieren und das Tonische in seiner umfassenden Bedeutung hervortreten. In die Schallanalyse verlagert sich auch noch ein weiteres Arbeitsfeld der ersten Lebenshälfte, die Metrik.
Da betreten wir freilich schwanken Boden ; und es wird uns bange, wenn wir in der Deutschen Versgeschichte von A. Heusler lesen, daß man die Zahl der Theorien zum altgermanischen Vers auf zehn schätzen kann, von denen vier oder fünf noch heute und in wechselnder Kunstsprache verfochten werden. Die Gegner der Sieversschen Theorie bejahen den Wert der statistischen Feststellungen. Die Wege trennen sich erst da, wo die letzte Frage nach Kunst und Rhythmus auftaucht. Lehrreich ist es, auf der einen Seite W. Streitberg, auf der andern A. Heusler zu hören. Mit K. Luick preist W. Streitberg die Anwendung der induktiven Methode der Sprachwissenschaft auf die Metrik. Das Sieverssche Fünftypensystem habe volle Gewißheit über den Bau der Alliterationsverse gegeben, demnach iiber das, was im Verse moglich ist und was nicht. Uber das Metrische hinaus sei es auch fur die Grammatik und Textkritik von hoher Bedeutung. In der Tat, E. Sievers selbst konnte auf Grund seiner Statistik und ihrer metrischen Ergebnisse lange Listen sprachlicher Ergebnisse buchen. Auch der Gegner, A. Heusler, gibt den Wert fur Grammatik und Textkritik unumwunden zu, raumt sogar ein, darj auch Verfasser- und Einheitsfragen mit dem statistischen Riistzeug angegriffen werden konnten ; ja er nimmt E. Sievers in Schutz gegen die geist- oder sinnlose Anwendung seines Systems, gegen die, die die fiinf Typen als bequem verwendbaren Kanon auch dann noch aufrecht erhielten, als der Begrunder davon abgeruckt war, insbesondere auch gegen die Auswiichse der Eddakritik, die gelegentlich sogar den aufbauenden jungen gegen den zerstorenden alten Sievers meinte verteidigen zu miissen. ‘Die genaue sprachliche Zergliederung grorjer Versmassen, die planvolle Statistik der Silbengruppen, war auf germanischem Boden etwas Neues und hat auch andere Versgebiete befruchtet. Dank diesem Verfahren hat Sievers eine Menge prosodischer Tatsachen entdeckt. Man wurjte nun, welche Silbengruppen im Verse haufig oder selten oder gemieden sind. Die Schriften, die Tausende von .Zeilen in Facher ordnen, haben auch denen gedient, die andre Wege gingen ; sie werden ihren Nutzen behalten’.
Das ist eine ritterliche Anerkennung. Aber sie legt zugleich den Finger auf einen wesentlichen Punkt. Denn nach A. Heuslerb elehren die Sieversschen Typen zwar iiber den Sprachstoff, aber nicht iiber seine vershafte Messung. Prosaperioden konnen wir in ebensolche Typen fassen. Wir erhalten Bilder von der Beschaffenheit der Silben, keine Rhythmenbilder. Das Grammatische und Rechnerisch- Statistische iiberwuchere, ja tote das Geschichtliche und das Kiinstlerische. Dazu Iarjt sich sagen : die friihen metrischen Studien und ihr Abschlurj in der Altgermanischen Metrik entwickeln und vollenden sich von 1878 bis 1893, sie fallen zusammen rnit den Gewaltmarschen durch die germanischen Sprachen, mit dem Wachsen der Angelsachsischen Grammatik, mit dem Wandel der Lautphysiologie zur Phonetik, mit dem immer feineren Beobachten der Silbe und mit der ausdrucklichen Anerkennung des Lautgesetzes. Und so enthiillt auch die Sieverssche Metrik vor der Jahrhundertwende im Grunde und zunachst ein Stuck germanischer Sprachgeschichte, feine und feinste Abschattungen des germanischen Sprachstoffes. Lautgesetz und metrischer Kanon, grammatisches Schema und Fiinftypensystem entspringen eben der gleichen, der junggrammatischen induktiven, auf Gesetz und Regel gehenden Denkform. Daher auch die bedingungslose Zustimmung und Bewunderung der Sprachforscher. Daher das gleiche Haften der nachfahrenden Sprachdarstellung und Metrik an der einmal gefundenen Etikette und Formel. Denn es ist im Grunde dasselbe, wenn man die Edda in metrische und eine lebende Mundart in sprachliche Kastchen packt, Kastchen fur Ausnahmen bereithalt und schlieljlich allzu Widerspenstiges umdichtet oder aus der Grammatik weglaljt. So ist es auch ganz natiirlich, dalj K. Vosslers Schlachtruf an die positivistische Sprachwissenschaft und die positivistische Verslehre zugleich gerichtet war.
Ein zweiter Punkt der Heuslerschen Kritik ist zu beachten. Die Sieverssche Theorie hangt ab von der Geschichte des Arbeitsganges. Dieser aber fuhrte von den Skalden zur Edda und erst von hier zum westgermanischen Vers, insbesondere zum Vers des Beowulf und des Angelsachsischen iiberhaupt, und erst zuletzt zum Heliand und zum Hildebrandslied. Die Theorie rechnet demnach mit Bindung an Zahl und Dauer der Silben, mit Norm, Korrektur, Verstolj und Lizenz ; die Unbandigkeiten von Hildebrandslied und Heliand gelten als Entartung. Der Arbeitsgang machte E. Sievers zum Dogmatiker wider Willen. ' Lachmann wie Sievers taten den folgenschweren Schritt, dalj sie nicht von dem urwuchsigen formenreichen Verse den Umrilj holen und von da den Kreis enger ziehen bis zur glattesten Kunstform, sondern von dieser ausgehen, in unserem Falle von den Skalden mit ihrer ungermanischen, lateinisch-irischen Silbenzahlung '. Und so sind nach A. Heusler die funf Typen Mindestformen, die als Normalformen gesetzt werden. ' Die Funfzahl hatte sich niemals aus dem Beowulf, geschweige dem Hildebrandslied ergeben : sie ergab sich daraus, dalj Sievers mit den silbenzahlenden Skalden anfing.' Gegenuber anderer Anschauung von zwei- oder viertaktiger Messung erklarte E. Sievers den Stabreimvers fur taktfrei. Beim ubergang vom vierteiligen Gesang- zum Sprechvers habe sich ein Neues entwickelt, das zwei Hebungen behalt, bei dem aber die Versgruppen aufhoren eine fortlaufende Reihe gleichartiger Takte zu bilden. Damit schlolj sich E. Sievers an die freie Zweihebungslehre von Rieger und Vetter an, die er aber durch Regeln, eben durch die funf Typen, natiirliche Betonungsformen, bandigte. Wie die Angelsachsische Grammatik und die Phonetik hat E. Sievers spater auch seine Metrik verleugnet, der Korrektur der überlieferten Texte Einhalt geboten und den Takt in seine Rechte eingesetzt. Die Zweitaktlehre, die neben ihm wuchs und im Augenblick im Vordergrund steht, hat er nicht beachtet ; das ist um so bedauerlicher, als sie sich anheischig macht, alle Füllungsformen, also auch die fünf Typen zu umfassen, und alles rhythmische und künstlerische Wollen lebendig werden zu lassen. Die Gesichtspunkte der Zweitaktlehre ‘erlauben erst eine unschulmeisterliche, eine geschichtlich schmiegsame Beurteilung der altgermanischen Versmasse. Sie zügeln die regelsüchtige Änderungslust; sie ersetzen die starre Scheidung von “richtig” und “falsch” durch ein Abwägen der wechselnden Kunstrichtungen. Was sprach- und versrhythmisch möglich war, zeigt erst der Überblick über die ganze Dichtung, die strengere und die freiere. Engte man den Blick auf einzelne Gruppen ein, so kam man zu voreiligen Akzentgesetzen — und zu einer Unmenge widerspenstiger Verse.’ Es ist schade, daß E. Sievers den Gegner nicht gewürdigt, A. Heusler die Sieverssche Lehre nur bis zur Altgermanischen Metrik verfolgt hat. Man hat oft das Empfinden, daß sie sich hätten verständigen können. Oder aber die Metrik ist etwas so ganz vom Menschen und von der Persönlichkeit Bestimmtes, daß es keine Verständigung gibt. Dann wehe ihr als Wissenschaft. Ich habe Tatsächliches, Geschichtliches, Meinungen neben- und gegeneinander gestellt. Zu einem Urteil fühle ich mich um so weniger berufen, als E. Sievers selbst uns keine Neufassung seiner Lehre hinterlassen hat. Drei wichtige Entdeckungen des jüngeren E. Sievers aber werden sich für immer behaupten : einmal die fünf Typen als sprachliche Tatsache ; ein andermal die Feststellung, daß die Westgermanen die Neigung entwickelt haben, ‘neue Gedanken oder Sätze mit dem zweiten Halbvers einsetzen und nur seltener Satz- und Versschluß zusammenfallen zu lassen’ ; endlich die Erklärung des altdeutschen Reimverses als Kreuzung von Alliterationsvers und Hymnenvers.
Im Leipziger Dekanatsprogramm des Jahres 1900 legt der Fünfzigjährige, wie wir sahen, die letzte größere Probe junggrammatischer Sprachbehandlung vor. Am 31. Oktober 1901 führt sich der Leipziger Rektor ein mit einer Rede Über Sprachmelodisches in der deutschen Dichtung. Der ehemalige Leipziger Student, der noch nicht 21 Jahre alt Professor in Jena wurde, war über Tübingen (1883) and Halle (1887) als 42 jähriger nach Leipzig (1892) zurückgekehrt, in einem in der Geschichte der Germanistik beispiellosen Aufstieg. Junggrammatische Sprachforschung im Sinne Leskiens und Philologie im Sinne F. Zarnckes, seines Lehrers und Vorgängers, war durch seinen gewissenhaften Fleiß, seine leidenschaftlich vorwärts treibende Arbeitskraft, vor allem aber durch seine geniale Veranlagung zu Erfolgen geführt, denen keine Dauer gesetzt ist. Es ist etwas Wundersames zu sehen, wie der Jüngere dem schlicht-strengen Denken und Wollen der Älteren mit gleichen Grundkräften zwar entgegenkommt, aber die Keime, die ihn treffen, doch in einer nur ihm eignen Art und Fülle aufgehen, keines Mannes Schüler, wie wir an dieser Stelle noch einmal sagen. Wir verstehen, daß K. Müllenhoff diesen jungen Mann, der auch bei ihm kurze Zeit studierte, geliebt hat, daß in der Jenenser Zeit die vornehm wägende Natur B. Delbrücks in sprachlichen Grundfragen Spuren hinterlassen konnte. Ganz aus eigner Kraft sind E. Sievers die alles andere überragenden Leistungen, die Angelsächsische Grammatik, die Phonetik, die Metrik gewachsen, Werke, die in erster Linie den internationalen Ruhm und Ruf der Leipziger Junggrammatik begründet haben. Was in ihnen einem ungeheuren Material und einer Welt der feinsten Regungen an Gesetzmäßigkeit und Möglichkeiten des sprachlichen Spiels abgerungen ist, wird bestehen bleiben, unabhängig vom Wandel der Grundanschauungen über Fragen des Sprachlebens. Die Bezeichnung Junggrammatiker stammt, wie mir E. Sievers wiederholt erzählte, von G. Curtius. Dieser meinte damit jene Leipziger Gruppe junger Grammatiker unter Führung A. Leskiens, die gegenüber seinen freieren Anschauungen das Lautgesetz zum Dogma erhoben. 30 Jahre hat E. Sievers unter dieser Fahne sicher gefochten. Dann kommt über den Fünfzigjährigen die Unruhe, wie wenn er die Grenzen und Fesseln der Junggrammatik, ja die eigne Erstarrung fühlte und nach einem Ausweg suchte. Wir haben die Unruhe in Äußerungen zur angelsächsischen Grammatik beobachtet, in der fünften Auflage der Phonetik, 1901, ringt sie nach neuer Festigkeit. Die Werke, die höchste Leistung und vollendeter Ausdruck einer Generation sind, die über die Generationen hinweg eine neue, eine zweite Epoche in der Geschichte unserer Wissenschaft einleiten, an deren Anfang der Name E. Sievers steht wie der Name J. Grimm zu Beginn der ersten, die stößt endlich der Mann, der auf der Höhe des Lebens und der geistigen und menschlichen Erfolge angelangt ist, von sich und verweist sie in den Hintergrund. Aber immer wieder und oft genug gegen den Willen des Meisters hat eine zweite Generation sie hervorgeholt, aus ihnen gelernt und gezehrt und mit ihren Erkenntnissen gearbeitet und geforscht, während ringsum neue Gebiete und neue Arten sprachlicher Forschung auftauchten und wuchsen und der Meister selber aufbricht, eine neue Welt zu entdecken, wie ein Eroberer, der die Schiffe verbrennt, die ihn getragen haben, und für den es kein Zurück mehr gibt. Es ist der Aufbruch des Genies, das muß, wenn es auch nicht weiß, wohin es geht. Man hat den Aufbruch oft genug als den Beginn einer Tragödie betrachtet. Und in der Tat ist es schmerzlich zu sehen, was alles aufgegeben wird. Denn nicht allein der Junggrammatiker, auch der Philologe und Schüler F. Zarnckes verschwindet oder besser taucht unter und kommt wieder in völlig gewandelter Gestalt, ähnlich wie frühe Ahnungen des Junggrammatikers erst in der neuen Welt Umriß und Form gewinnen. Es verstummt der Rezensent. In dem jungen Vorwärtsstürmen der Jenenser Jahre hat E. Sievers regelmäßig unter den Neuerscheinungen auf dem Gebiete der germanischen Philologie weitesten Umfanges Umschau gehalten, gerne anerkennend, wo er Zuverlässigkeit begegnete, hart und rücksichtslos gegenüber allem Mittelmäßigen und Unzulänglichen, sicher und überlegen im Angriff wie in der Verteidigung, immer der Sieger und immer voller fruchtbarer Gedanken und Beobachtungen. Über seine Lieblinge, über den Heliand, die Edda, den Beowulf, hat er ständig treu gewacht. Seine letzte große Besprechung von 1895 galt jenem vatikanischen Funde, der dem 45jährigen den Schluß des 25jährigen bestätigte. Kaum daß die Freude anklingt über das seltene Glück, das ihm widerfahren ; vielmehr tritt er gleich mit scharfem Blick an die neuen Fragen heran, die die Bruchstücke stellen, und wie nebenher wird über das Verhältnis der Genesis zum Heliand Entscheidendes gesagt. Es verstummt der Philologe, der da Freude hatte an Fund und Ausgabe, an einleitender Beschreibung und Aufhellung der Sprachformen, an klarer und einleuchtender Texterklärung, an Beantwortung philologischer Fragen der Literaturgeschichte, der junge Meister eines alten Handwerks. Wir kennen ihn von der Sorge um die Althochdeutschen Glossen, zu denen er 1922, nach dem Tode von Elias Steinmeyer, noch einmal zurückkehrt, um das hinterlassene Manuskript des 5. Bandes mit der ihm eignen Treue gegen den Freund und die Wissenschaft zu Ende zu drucken ; und viele haben es bedauert, daß er, statt auf dem Wege der Schallanalyse weiterzugehen, sich nicht der von E. Steinmeyer hinterlassenen Vorarbeiten zu einem Althochdeutschen Wörterbuch angenommen hat, das wir bis heute schmerzlich vermissen. Wir kennen ihn von so manchem archivalisehen Beitrag, von den Tübinger Bruchstücken der Frostuþingslog und von der Oxforder Benediktinerregel mit ihrer viel zitierten sprachlichen Einleitung, von den gelegentlichen Erklärungen schwieriger mittelhochdeutscher Textstellen, u. a. im Parzival und in des Minnesangs Frühling, und wir bedauern nur, daß die großartige Belesenheit in der mittelhochdeutschen Überlieferung, die bis in die Leipziger Studentenzeit und bis auf das frühe Zusammenleben mit H. Paul zurückgeht, daß die an dieser Belesenheit geschulte nüchtern-scharfe Erklärungsart, die mit sicherem Sprachgefühl immer auf das Einfachste und Nächstliegende geht, nur so selten an die weitere Öffentlichkeit getreten ist ; Sieverssche Texterklärungen in Vorlesungen und Übungen sind allen Teilnehmern unvergessen geblieben. In lebendiger Erinnerung steht vor mir die Erklärung von Hartmanns Gregorius, und als wir gelegentlich im Leipziger Seminar des Minnesangs Frühling behandelten, wußte eine Studentin beim Suchen nach der besten Übersetzung immer wieder uns alle zu übertreffen ; am Ende der Stunde aber erklärte sie, schelmisch, daß sie ihres Vaters Text vor sich habe mit Übersetzungen, die von E. Sievers stammten. Besonders viel verdankt wiederum das Angelsächsische dem Philologen, so die Glossen, der Text des Beowulf und die Beowulfsage, die Heimats- und Altersbestimmung von Denkmälern, wobei der überlegene Kenner der angelsächsischen Mundarten mit entscheidenden Kriterien zu arbeiten vermag; oder er greift auf Grund der durch Akrostichon gesicherten Namensform des Dichters Cynewulf und deren sprachlich-zeitlicher Fixierung in die Verfasser- und Zeitfragen der angelsächsischen Literaturgeschichte ein. Gelegentlich beobachten wir ihn im Bereich der frühneuhochdeutschen Literaturgeschichte, bei Johann von Morsheim, Thomas Birck, Martin Opitz, dann wieder bei Fragen der Mythologie und Heldensage. Die nordischen Fassungen der Geschlechtsreihe Wóden-Scéaf sind nach seinem Nachweis auf gelehrtem Wege aus einer angelsächsischen Handschrift ins Nordische gelangt. Die angebliche Göttin Ricen = Diana entpuppt sich seinem scharfen Blick als eine versetzte Glosse zu lat. turificare. Er deutet die Dienstleutnamen Byggvir und Beyla der Lokasenna als ‘Herr Gerstenkorn’ und ‘Frau Bohne’, den sonargoltr des Eberopfers als ‘Leiteber’, erkennt in dem ersten Glied des Siegmundsohnes Sintarfizzilo-Sinfjotli eine Farbbezeichnung ‘strahlend gelb’ und bereitet damit R. Muchs glänzender Deutung ‘der mit der sinterfarbigen, strahlend gelben Fessel’, ein Deck- und Schmeichelname für den Wolf, den Weg. Den nordischen Sigurþr endlich erweist er als heimischen Ersatz für das fremdländisch-fränkische Sigifrid. Nur ein einziges Mal, und dann in jüngeren Jahren und im Streit um den Beowulf, klingt die großartige Sicherheit auf, mit der er die Lagerung des germanischen Wortschatzes überschaute ; nur gelegentlich bringt er Etymologien und Wortinterpretationen, und an seinen Darlegungen fesselt dann weniger die gewohnte Klarheit der formalen, als die Feinheit der bedeutungsgeschichtlichen Behandlung, die sich vor allem im Abtasten der Bedeutungsspannen in lebendigen Zusammenhängen zeigt; man denke z. B. an die Abhandlungen über ahd. antlengen ‘antworten’, über die altnordischen Zahlwörter tvenn(i)r, þrem(i)r, fernir. In den seltenen Fällen aber, wo er, gleichzeitig mit jenem Marsch durch germanische Wortzusammenhänge, auf Fragen der Syntax kommt, stehen wir vor eindrucksvollen Entdeckungen. Verben, die heute Ruheverben sind, so ‘sehen’ z. B., waren ursprünglich Richtungsverben, und die verschiedenen räumlichen Beziehungsmöglichkeiten zwischen Subjekt und Objekt erscheinen durch ein feines Spiel der Adverbien geregelt. Eine Reihe von Schülerarbeiten hat darnach den Ausdruck germanischer Raumanschauung, die von der unsrigen wesentlich abweicht, untersucht vom Gotischen bis in die klassische mittelhochdeutsche Zeit. Durch die Schülerarbeiten hindurch aber vermeinen wir allerorts den interpretierenden Lehrer zu hören, der gerade in dem Nachfühlen und Verlebendigen der Verbal- und Partikelgehalte seine Texte so nahe zu rücken vermochte. Das mittelhochdeutsche Nebeneinander von sus und sô wird nicht allein aus der alten Doppelung thus und sô begriffen, die im Anlaut vereinheitlicht wurde, sondern auch aus alter Funktionsverschiedenheit ; sus ist nachdrücklich und bestimmt und untrennbar von einer entsprechenden begleitenden Geste. Im übrigen sind Wort und Syntax außerhalb seines Interessen- und Arbeitsgebietes geblieben, ja wir haben seine ausgesprochene Abneigung gegen die neue Richtung, die die Wortforschung nahm, wiederholt betont. Auch den Arbeiten, die auf eine neue zugleich tiefere und breitere Erforschung der Syntax zielten, und die einen Höhepunkt in O. Behaghels vierbändiger Deutscher Syntax erlebten, hat er, man darf sagen, teilnahmelos zugeschaut. Gerade die beiden Forschungsgebiete also, von denen aus die Jüngeren und die Jüngsten der Sprachwissenschaft einer neuen Sinn und eine neue Bestimmung geben wollen, all die Fragen, die da kreisen um den Paarbegriff Sprache und Volk, haben ihn nicht beschwert, ja er würde vieles von dem, was uns heute am Herzen liegt, als überflüssig oder gar als unwissenschaftlich bezeichnet haben. Und dennoch hat er nicht außerhalb der Entwicklung gestanden. Denn der Bruch, der sich in dem Fünfzigjährigen vollzieht, fällt zusammen mit dem Generationswechsel um 1900 ; nur wechselte er auf seine Art, einsam und aus sich, und aus Kräften heraus, die von Beginn an in ihm waren. Das erste Jahrzehnt des Leipziger Ordinariats, das mit dem Rektorat abschließt, ist wie ein gewaltiges Zusammenfassen und Abschiednehmen : die Angelsächsische Grammatik, die Phonetik, die Metrik erhalten ihre letzte Form ; es erscheint der seitdem immer wieder aufgelegte Abriß der angelsächsischen Grammatik (1895). In den Beginn dieser Zeit fällt die Veröffentlichung des von H. Paul geleiteten Grundriss der germanischen Philologie, der das Wissen der junggrammatischen Generation kodifizierte ; E. Sievers ist beteiligt mit den Kapiteln Runen und Runeninschriften, Phonetik, Geschichte der gotischen Sprache, Gotische Literatur, Altgermanische Metrik. Auch am Plan dieses Grundrisses hat er mitgearbeitet, und ihm, als dem anerkannten Führer seiner Generation, war ursprünglich sogar die Leitung zugedacht. Im Vorwort der zweiten Auflage von 1901 aber berichtet H. Paul, daß E. Sievers nicht zu bewegen gewesen sei, seine Abschnitte, abgesehen von den beiden ersten, neu zu bearbeiten. In seinen jungen Jahren hatte er, in englischer Sprache übrigens, an der Encyclopaedia Britannica mitgearbeitet ; 1899 faßt er in der protestantischen Realencyclopädie das Wissen um den Heliand und die altsächsische Bibeldichtung in seiner ruhigen und überlegenen Art zusammen. Wir stehen am Ende einer Entwicklung. Auf die Verabschiedung von Junggrammatik und Philologie hätte ein Anstieg des Wortforschers und Syntaktikers folgen können, wozu kaum einer gleich E. Sievers Wissen, Übersicht und Arbeitskraft mitbrachte. Wenn er die Ansätze-der jungen Zeit absterben ließ, so geschah das aus dem gleichen Grunde, der ihn behinderte, den Weg der geographisch-soziologischen Sprachbetrachtung zu gehen. Er hätte die Verbindung mit Arbeitsgebieten suchen müssen, die seiner Art und seinem Wesen fernlagen, und der individualistische Arbeiter wäre angewiesen gewesen auf die Hilfe und Mitarbeit anderer oder gar auf Einordnung in ein Kollektiv, wie es die Arbeiter an den großen kulturgeographischen Unternehmungen und Wörterbüchern nun einmal sind. Wörter und Sachen, Kulturgeographie, Sprachpsychologie und Sprachphilosophie — wer E. Sievers gekannt hat, weiß, daß von ihm kein Weg zu diesen Feldern führte. Um so eindrucksvoller aber ist es, daß er dennoch, aus der unendlichen Fruchtbarkeit seines Wesenskerns heraus, im Gleichschritt mit der Umwelt, einen Wandel vollzieht, der ihn — vielleicht — über alle hinaus und gleich zu letzten Fragen vorgetragen hat, ohne daß er selbst es ahnte. Der Junggrammatiker formte sich als Leipziger Student, der Schallanalytiker in den Anfängen des Leipziger Ordinariats. Zweimal hat E. Sievers den Namen seiner Universität durch die Welt getragen. Aber während der Junggrammatiker nur zu Sprachforschern und Philologen sprechen konnte, lauschten auf den Schallanalytiker alle Fakultäten, die Gelehrten und die Künstler, und darüber hinaus weite Kreise der gebildeten Welt, am Ende auch der Richter und der Staatsanwalt. Theologen und Mediziner haben ihm den Ehrendoktor verliehen.
Die Keime der Schallanalyse liegen in der Phonetik. Das Ansteigen der musikalisch-tonischen Beobachtungen haben wir von 1881 bis 1901 durch die verschiedenen Auflagen hindurch verfolgt. In demselben Jahre 1893, in dem die Altgermanische Metrik ihre endgültige Gestalt erlangt, wachsen Steigton und Fallton in der vierten Auflage der Phonetik zu entscheidender Bedeutung. Die neue Empfindsamkeit gegenüber dem Tonischen springt sofort auf die Metrik zurück. Wie wenn E. Sievers die Starrheit gefühlt habe, auf die A. Heusler den Finger legt, greift er die Metrik nunmehr als Phonetiker an, dessen sowieso empfindliches Ohr feiner und feiner geworden ist. Noch in dem gleichen Jahre 1893 erscheinen die Abhandlungen über Wernhers Marienlieder und Zur Rhythmik und Melodik des neuhochdeutschen Sprechverses. Sie bilden den Auftakt. An Hand der Überlieferung eines Denkmals des 12. Jh.s werden neben der Abstufung des Nachdrucks auch die Abstufung der Tonhöhe und der Dauer, das Musikalische und das Tempo also geprüft, um so von der atomistischen Versbetrachtung zum Komplexen, zur Ganzheit, zum Ethos von Dichter und Dichtgattung vorzudringen. Der herkömmliche Begriff der Metrik ist also zu erweitern und auf die lautliche Totalität des dichterischen Kunstwerkes auszurichten, wobei der Melodie des Sprechverses eine führende Rolle zuerkannt wird. Die fünfte und letzte Auflage der Phonetik von 1901 bringt die Erkenntnis der relativen Tonlagen ihrer Umlegbarkeit und der Tonkontraste, und damit ist die Grundlage der Rektoratsrede des gleichen Jahres gewonnen : Über Sprachmelodisches in der deutschen Dichtung. Die Sprachmelodie ist grundverschieden von der musikalischen Melodie. Gegenüber den festen Verhältnissen der Musik kennt die Dichtung nur relative Tonverhältnisse, ‘ungefähr bestimmte Tonlagen, und ihre Tonschritte sind zwar meist der Richtung nach (ob Steigschritt oder Fallschritt) fest gegeben, aber nicht auch der Größe nach, vielmehr kann diese nach den verschiedensten Gesichtspunkten wechseln’. Die dichterische Konzeption und Ausgestaltung ist, wie uns die Dichter selbst bezeugen, von einem musikalischen Erlebnis begleitet, eben der Sprachmelodie, die bei richtiger Einstellung nicht allein reproduziert, sondern auch nach ihren einzelnen Bestandteilen und deren Formwirkung im Gesamtwerk oder in einzelnen Abschnitten beschrieben werden kann. Umlegung der Melodie, Tonkontraste sind besondere Formmittel. Die Formwirkung hängt vor allem ab von der Wortwahl, die aufs engste mit dem musikalischen Erlebnis, mit der Sprachmelodie, verknüpft ist. Die Wortwahl bestimmt das Ethos, das durch die Überlieferung eines Dichtwerks, durch Änderung des Wortlautes, gestört oder gar aufgehoben wird. Mit dem Finden und Nacherleben der Sprachmelodie und ihrer Wirkung ist zugleich die Möglichkeit der Besserung gestörter Überlieferung gegeben, ein neuer Weg der Textkritik, ein ‘Neues Hülfsmittel philologischer Kritik’ (1903) überhaupt entdeckt. An Goethe und an Dichtern aus des Minnesangs Frühling, an Hartmann von Aue und am Nibelungenlied, an Ilias und Odyssee, und besonders eindringlich an dem frühmittelhochdeutschen Spielmannsgedicht von der Judith (1908) wird die neue Methode erprobt. Der niederen wie der höheren Kritik entstehen gleichermaßen neue Erkenntnisse und neue Aussichten. Der Phonetiker, Metriker und Philologe, die in der ersten Lebenshälfte mehr oder weniger nebeneinander hergingen, wachsen in einem neuen komplexen Beobachten und Denken zusammen. Was alles in den Anfängen des Leipziger Ordinariats überhaupt an neuen metrischen Einsichten, zumal über das Wesen des Rhythmus gewonnen ist, faßt E. Sievers ebenfalls im Jahre 1901 im ersten Bande seiner Metrischen Studien, in der Einleitung der Studien zur hebräischen Metrik zusammen. Ein gewaltiger Neubau, eine Darstellung von Wesen und Wirkungsmöglichkeiten des kunstmäßigen, wortgebundenen Schalles mag ihm vor Augen gestanden haben. So ist es natürlich, daß er das Erfahrungsgebiet des Germanischen und Indogermanischen zunächst einmal überschreitet, um seine Einsichten an einem ganz anders gearteten Sprachmaterial sich bewähren zu sehen. In einer langen Reihe von Arbeiten hat er zugleich die Folgerungen für die Quellenscheidung und Textkritik des Alten Testamentes gezogen.
Bis zur Abhandlung von 1908 über die Judith geht der Philologe älterer, bewährter Methode willig mit. Das Zusammenspiel von Dynamik, Melodik, Rhythmik ist im Dienste der Textkritik und mit dem Ergebnis eines wohlgefälligen Textes fein belauscht. Da stößt E. Sievers noch im gleichen Jahre auf die Lehre des Musikpädagogen O. Rutz, und viel später, 1920, auf die Typenunterscheidung des Musikhistorikers G. Becking, der von H. Nohl und W. Dilthey kam. Und wie einst der Einfluß der englisch-skandina- vischen Phonetik den wachen und empfänglichen jungen Lautphysiologen zum Phonetiker machte und jenen ununterbrochenen Anstieg bis zur Jahrhundertwende, ja bis zu den zusammengefaßten Rhythmisch-melodischen Studien von 1912 einleitete, so führte die Berührung mit O. Rutz und G. Becking aus den Jahren der neuen Empfindsamkeit über Jahre des Suchens zu dem System von 1924, das niedergelegt ist in den Zielen und Wegen der Schallanalyse. Rund 25 Jahre hat E. Sievers an der Phonetik, rund weitere 25 Jahre an der Entwicklung der Schallanalyse gearbeitet. Die Lautphysiologie steht am Anfang, die Schallanalyse am Ende seiner Tätigkeit als akademischer Lehrer. Rutz führte E. Sievers auf den Zusammenhang zwischen Klang und Einstellung der Körpermuskulatur. ‘Stimmart und spezifische Muskeltätigkeit (Muskelspannung) außerhalb des Stimmorgans, oder kürzer gesagt, Stimmart und Körpereinstellung sind psychisch-physiologisch zu einem unauflösbaren Komplex verjocht. ... Es gibt vor allem keine freie Stimmgebung spezifischer Art ohne gleichzeitige Mitwirkung dessen, was wir “Körpereinstellung” nennen.’ In Erweiterung des Rutzschen Systems erkennt E. Sievers am Ende sechs körperliche Hauptaktionen, denen sechs Stimmtypen entsprechen, von Nebenaktionen und Unterarten abgesehen. Mit Hilfe optischer Signale aus glänzenden Messingdrähten, auch durch das Schlagen bestimmter Kurven, wird ein motorisch veranlagter Reproduzent zwangsmäßig in die Aktion und in den Typus des produzierenden Dichters oder Musikers eingestellt. War E. Sievers in folgerichtigem Wachsen aus seiner Phonetik zur Sprachmelodie vorgedrungen, so bedeutete die Entwicklung der Rutzschen Lehre etwas Anderes und ganz Neues. Von der Beobachtung der Tonlage und Tonschritte, also der Melodie und Melodieführung, rückt er ab zur Bestimmung der individuell gebundenen Stimmen und Schallformen, also zum Klang oder Schall schlechthin, vom Sprachmelodischen zur Schallanalyse. Die Vereinigung der beiden Wege hat ihm von Beginn an vorgeschwebt. Aber in der ersten Probe, in der Behandlung der Altschwedischen Upplandslagh, 1918, laufen sie nebeneinander her. Ermutigt von den Psychologen, vor allem von F. Krueger, der die Bedeutung der neuen physisch-psychischen Ganzheitsforschung gleich erkannte, überspannte er seinerseits das Neue. Er setzte an Stelle der Rutzschen Lehre, daß das Individuum in der Klanggebung normalerweise an einen Haupttypus gebunden sei, die Lehre vom Klangwechsel, der sich aber in Werken von zweifellos einheitlichem Charakter nach bestimmten Gesetzen, also systematisch regele. Störung des gesetzmäßigen Wechsels weise auf Klangbruch, demnach auf Autorwechsel. So übernimmt statt des Rhythmisch-Melodischen die Schallanalyse die Führung in der Textkritik, das Rhythmisch- Melodische selbst aber wird auf den Ausgangspunkt, auf Phonetisches und Metrisches zurückgeworfen, das komplexe Beobachten und Denken der Rhythmisch-melodischen Studien, der große Fortschritt also, zersplittert ; ein nicht genügend durchdachter, zudem komplizierter Teilgehalt tritt als Konstanz und demnach als entscheidendes Kriterium in den Vordergrund. So mußte E. Sievers in der Auseinandersetzung mit H. Lietzmann nicht allein an der Art des zurechtgemachten Textes, sondern vor allem auch an der Schwäche seiner eignen Methode scheitern. Der Siebzigjährige erfuhr die erste Niederlage. Den Ausweg aus der Wirrnis wies G. Becking. Er führte E. Sievers auf die lang gesuchte Konstante, die aber nunmehr abseits von den beiden bisherigen Wegen, abseits also von der Sprachmelodie der Sieversschen Anfänge, abseits auch von der Rutz-Sieversschen Lehre bezüglich Körper und Stimme oder Schallform gefunden wurde. Diese Konstante aber ist ein dem Individuum anhaftender, unveräußerlicher Ablauf der psychischen Spannung, der sich nach E. Sievers nach außen in eine körperliche Begleitkurve, in eine sogenannte Personalkurve projizieren läßt. Drei Typen des Ablaufs, drei Personalkurven, drei Menschentypen sind darnach zu scheiden. Zu den beiden früheren Wegen stößt damit ein dritter, und wie in einer letzten verzweifelten Anstrengung sucht er sie zusammenzuleiten, um über die neue Welt, durch die er zieht, Ordnung und Klarheit zu bringen. Das geschieht in den Zielen und Wegen der Schallanalyse von 1924. Gegenüber der vorausgehenden Zersplitterung steht ein neues Komplexsystem mit einem beherrschenden Grundfaktor, eben der Personalkurve, und modifizierenden Nebenfaktoren, nämlich Takt, Tonkontrastierung, Tonrichtung, Tonablauf, die zur Taktfüllkurve zusammentreten. In die Taktfüllkurve ist das Rhythmisch-Melodische der Anfänge aufgegangen, der ursprünglich beherrschende Faktor also zum Nebenfaktor geworden, immerhin aus der zeitweiligen Zurückdrängung wieder nach vorne geholt. Zu Personalkurve und Taktfüllkurve tritt als drittes die von Rutz kommende, durch Signale objektivierbare Signalkurve, das Symbol für qualitative Abstufungen des Klanges. Die Prosa kennt nur Personalkurve and Signalkurve, in der Poesie und Musik tritt die Taktfüllkurve hinzu. Es wird ausdrücklich betont, daß taktmäßige Gliederung das einzige Merkmal ist, welches die Poesie eindeutig von der Prosa abhebt. Das neue scheinbar so geschlossene Komplexsystem enthält einen Bruch. Wir vermissen eine endgültige Klarstellung über das Zusammenspiel der drei Kurven. Personalkurve und Taktfüllkurve sind als Haupt- und Nebenfaktor aneinander gebunden ; aber über das Verhältnis von Taktfüllkurve und Signalkurve wird nur nebenher gehandelt. Das System ist eben nicht aus einer einzigen Wurzel gewachsen ; es ist das Ergebnis eines gestörten, uneinheitlichen Arbeitsgangs, demnach mit ähnlichen Mängeln behaftet wie die Altgermanische Metrik, die es überwinden sollte. Man hat das Empfinden, daß der Weg des Rhythmisch-Melodischen, der mit instinktiver Sicherheit aus ursprünglicher und lang und sorgsam gepflegter Empfindsamkeit beschritten worden war, zur Unzeit verlassen wurde. So ist es auch nicht zu verwundern, daß E. Sievers selbst in seinen letzten Jahren immer wieder an seinem System geflickt und gebessert hat, und daß seine Schüler mit natürlicher und gesunder Sicherheit Wege gegangen sind, die an die Sieversschen Anfänge, nicht aber an die Schallanalyse Rutzschen Einschlages anknüpfen. Damit aber regt sich der Zweifel an der Verwendbarkeit des Sieversschen Systems, nicht der tonischklanglichen Forschung, wie ich vorsichtig sage, überhaupt. Ja wir müssen, um gerecht zu bleiben, die Frage stellen, ob nicht in denjenigen Ergebnissen der Schallanalyse, die von dem rhythmischmelodischen Ursprungsherde kommen, wertvolle, endgültige Erkenntnisse gewonnen sind, die im Kampf gegen das System von dem, der seine Geschichte nicht kennt, allzu leicht übersehen werden können. Wir verfolgen vier Stränge : die letzte Arbeit am System ; die neuen metrischen Einsichten ; die textkritischen Ergebnisse ; die Ergebnisse für die Grammatik. Die drei letzten werden seit den Untersuchungen zu den Upplandslagh, 1918, wichtig.
Durch zwei Beobachtungen wird das System ergänzt, durch den Querindex und den Stimmsprung. Unentwickelt und zweifelbehaftet bleibt der Querindex. Hatte E. Sievers 1928 vorsichtig Beziehungen zwischen äußerer Körperbeschaffenheit und schriftlichem Produkt erwogen, so meint er ein Jahr später über die muskulare ‘Körpereinstellung’ der Schallanalyse hinaus konstante Einwirkung allgemein-körperlicher Faktoren wie Größe, Gestalt, Haltung, typische Art der Bewegung auf die Klangformung des Sprechers oder Autors feststellen zu können. Am wichtigsten scheint ihm das zwangsweise Auftreten einer unterbewußten Breitenvorstellung. Änderungen der Breite des Autors vermag der Repro- duzent der Texte in einem Querindex festzulegen, der dann zugleich die Reihenfolge der schriftstellerischen Leistungen ergibt. Briefe Goethes wie die Werke des Hucbald von St. Amand des 9. Jh.s, Erlösung und Elisabeth eines hessisch-marburgischen Dichters des 13. Jh.s, auch die Werke Hartmanns von Aue ordnen sich so zu einer Entwicklungsreihe. Den Stimmsprung beobachtet er seit 1925, aber erst 1929 kommt er zu einer Bestimmung seines Wesens und Bereiches. Die Erscheinung ‘besteht darin, daß ein Sprecher oder ein Text aus laufender sogenannter Umlegstimme plötzlich in sogenannte Normalstimme umspringt und dann wieder zurück, oder umgekehrt’: ein oder mehrere Wörter können so als Umsprungspartie heraustreten. Ausgangspunkt ist die klangliche Auszeichnung bestimmter Einzelstellen, woraus der Stimmsprung als Begleiter ganzer Kategorien gleichartiger Fälle allmählich erwuchs. Diese Kategorien lassen sich wieder ordnen unter den Gesichtspunkten der sinnesbedingten und stellungsbedingten Stimmsprünge. Die Erscheinung ist von Bedeutung für die Metrik, Textkritik, Grammatik. Sie ist demnach in jedem der folgenden Abschnitte besonders zu berücksichtigen.
Die Abhandlung Die altschwedischen Upplandslagh nebst Proben formverwandter germanischer Sagdichtung bringt schon im Titel die neuentdeckte Gattung der Sagdichtung, die in dem neuentdeckten Sagvers abgefaßt ist. Der Sagvers ist im Germanischen vor allem der Sag- oder Sprechdichtung eigen, obgleich gelegentlich die Ablösung aus einer noch älteren Gesangsform erwogen wird. Nähere Bestimmungen des Sagverses hat E. Sievers wiederholt gegeben. Größte Strenge nach innen verbindet sich mit größter Freiheit nach außen, strengster Takt und strengste Melodisierung der einzelnen Versarten mit freier Behandlung der Silbenzahl im Fuß und wechselnder Verslänge. Abweichungen vom normalen Wort- und Satzakzent regelt die Deklamation mit Hilfe der schwebenden Betonung, in der Melodie und Dynamik sich zu akzentuellen Stilisierungen zusammenfinden. Sagverse verschiedenster Länge treten zu kürzeren laissenartigen Absätzen zusammen. Die Pausen zwischen den einzelnen Zeilen sind deutlich einzuhalten, besonders da, wo kürzere Verse vor oder zwischen längeren stehen. Versspitze und Versende bieten die Möglichkeit besonderer Auszeichnung ; dabei fällt dem Stimmsprung eine wichtige Rolle zu. Der Sagvers ist altsemitischen Ursprungs. Er begegnet in altbabylonischer Dichtung der Zeit um 2000 v. Chr., im althebräischen Deboralied des 13. Jh.s v. Chr., auch unter den arabischen Metren. Von den Semiten verbreitete er sich über Asien, wo er in nordarischen Texten, im jüngeren Avesta, in den persischen Keilinschriften erscheint, und über Europa, wo er bei den Griechen und Italikern, bei den Slaven und Germanen auftritt. Im Slavischen ist er festzustellen in der altrussischen Nestorchronik, in den altslavischen Verstexten von Kiew und Freising, in den litauischen Dainos. Die Germanen kennen ihn seit den Zeiten des Wulfila, gleich den Runen sei er vom Schwarzen Meer gekommen. ‘Eine Sonderentwicklung ist daneben vom Alten Testament ausgegangen. Dessen Formen wurden nämlich von den hellenistischen Juden zunächst u. a. auch in das Neue Testament übertragen, und sind dann von dort aus mit dem Christentum zunächst zu den Lateinern und deren Abkömmlingen gewandert, dann weiter zu den übrigen Völkern, die sich des Lateins als Kirchensprache zu bedienen lernten. Durch die Kirche hindurch konnte dann auch ein neuer Zustrom zu den christlichen Nationalliteraturen stattfinden, ohne daß jedoch durch das neue lateinische Vorbild eine Nachwirkung der älteren bereits heimisch gewordenen Vorformen prinzipiell ausgeschlossen gewesen wäre.’ Jeder altsemitische Sagvers hatte einen stellungsbedingten Stimmsprung auf der letzten Hebung als formelles Versabschlußzeichen. Dies hält sich in den Sagversen aller indogermanischen Sprachen und wird in Italien sogar auf die späteren Versmaße ausgedehnt, woher es bis heute für jeden französischen Vers gilt. Nur im Germanischen entbehrt der Sagvers des Endsprunges. Statt dessen erscheint im auftaktlosen Sagvers, und nur hier, Spitzensprung, also eine Verlegung von der hinteren Auszeichnungsstelle am Versende auf die vordere Auszeichnungsstelle an der Versspitze, was mit der Revolution des germanischen Akzentwesens zusammenhängen mag. Im Veda, in den ursprünglichen griechischen Versmaßen und in der germanischen Alliterationsdichtung, die nicht im Sagvers geht, fehlt der stellungsbedingte Stimmsprung. Insbesondere wird das Auftreten des Sagverses durch zahlreiche Denkmäler des mittleren, nördlichen und westlichen Europa verfolgt. Er erscheint in vielen Denkmälern der altdeutschen Literatur, im Hildebrandslied, in Sprüchen und Segen und in geistlicher Dichtung, die zum Teil als Prosa galt, in altgermanischen Gesetzen, in der Saga, in Urkundlichem, Geschichtlichem, Geistlich-Gelehrtem und Didaktischem des anglofriesischnordischen Bereiches, in der Edda und im Widsith, im Latein der mittelalterlichen Geistlichen, bei Venantius Fortunatus, Fredegar, im Liber historiae, bei Einhard, Hrabanus Maurus, in der St. Galler Paulussequenz des Ekkehard, in der Vita Faronis, im Haager Fragment, in den Viten und Sequenzen des Hucbald von St. Amand, der auch die altfranzösische Eulalia und das deutsche Ludwigslied in Sagversen gedichtet hat. Das Haager Fragment hat den französischen Endsprung, der Germane Hucbald von St. Amand aber dichtet auch seine lateinischen und altfranzösischen Verse mit germanisch-fränkischem Spitzensprung. Mit der Entdeckung des Sagverses war zugleich die Frage nach dem Wesen des altgermanischen Alliterationsverses neu gestellt. Der früher geleugnete Takt tritt in seine Rechte. Das Fünftypensystem gilt nur noch als bequeme Übersicht über die Art der Wortfüllung nach ihren Prosaakzenten, nicht mehr für den Vortrag. Die alliterierenden Silben werden nicht durch dynamische, sondern durch melodische Beziehungen gebunden. Schwebende Betonung wird weitgehend angewandt. Die Vers- und Strophenausmaße sind für die innere Struktur eines Passus von entscheidender Bedeutung. Zum Sagvers und Alliterationsvers tritt der alliterierende Sagvers. An der Edda und am angelsächsischen Widsith wird die neue Lehre erläutert. Die Eddaausgabe von 1923 widerruft in allem Wesentlichen die eigne Jugendleistung. Die Kritik lehnt ab, bestreitet den Sagvers und sucht das Fünftypensystem zu retten. E. Sievers hat es den Gegnern leicht gemacht. Er hat kein neues metrisches Lehrgebäude hinterlassen. Wohl weil er zu tief in das Wesen des kunstmäßig gebundenen Schalles hineingeschaut und die Grenzen des rational-wissenschaftlichen Zugriffs auf letzte Fragen künstlerischer Formgebung gefühlt hat. Alle letzten Arbeiten hinterlassen den Eindruck eines gigantischen Ringens mit einem immer wieder entfliehenden Phantom. Der menschliche und ethische Einsatz eines Großen aber verpflichtet. Es geht nicht an, ihn beiseite zu schieben. Wer das Glück gehabt hat E. Sievers germanische Gesetze und isländische Sagas, Edda und Hildebrandslied, frühmittelhochdeutsche Dichtung oder gar aus Goethe, dem Weltgenie der Taktfüllkurve, vortragen zu hören, der ging erschüttert oder ergriffen von dannen. Vermag ihm die Wissenschaft nicht zu folgen in dem, was er zum Wesen des Klanges und seiner sprachlichen Bindungen gesagt hat, so spricht das nicht gegen ihn und seine letzten Einsichten ; wir stehen dann eben an den Grenzen des rationalen Erkenntnisvermögens.
Aber gerade weil wir glauben, daß E. Sievers Letztes geschaut hat da wo es um das Klangliche schlechthin geht, gerade darum zweifeln wir an vielem, was er zum Text und zur Textgeschichte insbesondere germanischer Literaturdenkmäler gesagt hat. Das Recht dazu nehmen aus unserem Einblick in die Entstehungsgeschichte der Schallanalyse und aus der Tatsache, daß die jeweiligen Urteile abhängen vom jeweiligen Stand der unermüdlich vorwärtsstoßenden, sich ändernden und sich erweiternden Erkenntnis ; und oft genug hat E. Sievers, ehrlich wie er war, sich selbst verbessert. Nur wenig von dem, was er textkritisch bearbeitet hat, ist veröffentlicht. Die Veröffentlichungen aber bestreichen nicht allein ein gewaltiges Feld, sondern zeigen fast alle die gleiche komplexe Betrachtungsform, die auf Textgeschichte, Metrik und Sprachform zugleich geht. Denn diese drei Dinge sind so untereinander verjocht, daß die Textanalyse sie bei der Beantwortung der Autorenfrage und der Textschichtung immer wieder einzeln und nebeneinander heraustreten läßt. Auf die systematische Arbeit am Alten und Neuen Testament gehen wir nicht ein. Textscheidungen in babylonischer Überlieferung sind gelungen, vor einer Analyse des altrussischen Igorliedes ist E. Sievers zurückgeschreckt. Innerhalb des Germanischen arbeitet er an allen Sprachen und an Denkmälern der verschiedensten Gattungen und Zeiten. Es ist zwecklos ihm bei der Aufdeckung der stimmlichen Gliederung der Texte und demnach der Abfolge der Autoren und Schichten, bei der Frage nach Echt und Unecht im einzelnen zu folgen, so durch die Sagdichtung, die Edda, durch alt- und frühmittelhochdeutsche Denkmäler, durch die Angelsachsen Cynewulf und Caedmon, durch des Minnesangs Frühling und die Liederdichter überhaupt, durch die Kudrun, das Nibelungenlied und die Klage, endlich durch Shakespeares King Lear und die Sonette. Bezweifeln wir die unbedingte textkritische Zuverlässigkeit der Schallanalyse nach ihrem jeweiligen Entwicklungsstande wie nach ihrer endgültigen Systematisierung, so hat anderseits gerade das Mühen um die Textgeschichte Beobachtungen und Gedanken gezeitigt, die die Forschung zu berücksichtigen hat. Der angelsächsische Widsith wird in ein altes Lied und drei Heldenkataloge zerlegt, von kleineren Zusätzen abgesehen. Hinter dem stichischen Gewände angelsächsischer Epik verbirgt sich eine ältere Technik, die in Kleinstrophen verschiedenen Umfanges arbeitete und die an die altfranzösische Laissentechnik erinnert. Solche Kleinstrophentechnik begegnet in weitem Umfange noch im Frühmittelhochdeutschen. Bei der Eddakritik sieht E. Sievers die klanglich-lautliche Scheidung zwischen Norwegisch und Isländisch mit dem Wechsel der Personalkurven zusammentreffen. Die Hauptproduktion beider Länder schiebt sich in die zwei Jahrhunderte von 950 bis 1150 zusammen, nur wenig Altnorwegisches fällt vor 950, wenig mehr Jungisländisches nach 1150. Den vorliegenden Eddatext verdanken wir einem gelehrten Redaktor, der gesammelt, ausgezogen, zusammengestellt hat. Er übernahm Gedichte einheitlicher Grundlage, aber verschiedener Schwellung, er verschmolz Parallelversionen, die ihrerseits eine Geschichte haben konnten, er überstreute seine Sammlung mit flottierendem Kleingut, so daß zwischen Liedgut und Einlagsgut zu scheiden wäre. Der Mosaikzustand der Edda vergleicht sich dem aller epischer Überlieferung vom Alten Testament über die angelsächsische und frühdeutsche Uberlieferung bis zum Nibelungenlied. In Übereinstimmung mit W. Braunes Forschungen zu den Handschriftenverhältnissen des Nibelungenliedes wird aus dem B-Zweige der Überlieferung ein klangrichtiger Text gewonnen, während A und C da, wo sie von diesem Text abweichen, überall auch klangliche Störungen aufweisen. Die Vorstellung des geschlossenen Buchepos lehnt E. Sievers ab zugunsten der Anschwellungshypothese. Beowulf, Nibelungenlied, Kudrun sind ‘aus kleineren Anfängen heraus erst durch einen zwar allmählich fortschreitenden, aber tief eingreifenden Umgestaltungs- und Erweiterungsprozeß zu der Endgestalt aufgeschwellt, in der sie uns vorliegen’. Schon der erste Dichter wollte den Gesamtstoff des Nibelungenliedes darstellen. Einzellieder und Teilgedichte hat er in den Gesamtplan aufgenommen, gelegentlich auch die Technik des Liedeinsatzes zum Neueinsatz innerhalb des Epos verwandt. Die drei einander ablösenden französisch-lateinischen Autoren und Schreiber des Haager Fragmentes, die H. Suchier annahm, werden von E. Sievers bestätigt. Sie sollen aus einer fränkischen Vorlage in Sagversen, einem Verwandten des Hildebrandsliedes, übersetzt haben, gleichwie die ‘altnorwegische Thidrekssaga in der Hauptsache durch drei einander oft ablösende Versifikatoren aus einer bereits vorliegenden gesammelten und geordneten Stoffmasse (vermutlich also aus einer Sammlung der deutschen Lieder, auf die die Saga sich beruft) in norwegische Sagverse umgesetzt, d. h. also vermutlich übersetzt worden ist’. Den Ursprungsort und ersten Streuungspunkt der althochdeutschen Isidorgruppe verlegt er nach Neustrien, und zwar nach Tours, in Verbindung mit dem Nachweis eines westfränkischen Deutsch, das im Sprach- und Orthographietypus der Isidorgruppe vorliege. Die Gruppe sei das Ergebnis kollektiver Arbeit von Männern verschiedenster Herkunft, die an gleicher Bildungsstätte gleichen Bildungseinflüssen unterlagen. Der althochdeutsche Psalm 138, das lateinisch-deutsche Mischgedicht De Heinrico, das Georgslied sind alte Responsorientexte ; die Kunstform des hebräischen Psalmengesanges, des Wechselgesanges von Chor gegen Chor, von Tenor gegen Baß, habe die althochdeutsche Dichtung aus dem christlichen Kultgesang übernommen. Das Georgslied tritt vor Otfried von Weißenburg, steht somit am Anfang des Reimverses, und liegt auch in seiner strengen, vom lateinischen Hymnus kommenden Monopodie dem Abstufungstypus Otfrieds voraus. Tanzlieder endlich durchziehen die mittelhochdeutsche Lyrik in einem bisher kaum geahnten Umfang ; gebrochene Töne und Stimmsprünge heben sie von allem übrigen ab. Bei fruchtbaren Dichtern wie Walther von der Vogelweide und Konrad von Würzburg lassen sie sich nach dem Querindex ordnen.
Bei einer Menge von Texten ist E. Sievers über das handschriftliche Herrichten nicht hinausgekommen. Sie ruhen im Nachlaß als stumme Zeugen eines leidenschaftlichen Suchens in Orient und Okzident, des Drängens nach Weite, Tiefe und Sicherheit. Was ihm dabei an irgendeiner Stelle aufging und zur Gewißheit wurde, legte er oft an anderer Stelle nieder, wie um es zu prüfen, sich bewähren zu sehen und dann immer fester und klarer zu handhaben. Daher die Fülle der immer wieder eingestreuten, aber nie zusammenhanglosen Beobachtungen und Bemerkungen, die dann gelegentlich aufgenommen und weitergeführt werden. In den letzten Jahren wachsen sie zu einer kaum übersehbaren Zahl von Rinnsalen, wie wenn alles gesagt sein sollte, was nicht mehr aus der Fülle bewiesen werden konnte. Dahin gehört das Gesetz von Grad und Ungrad, das er schon 1918 formuliert : ‘Sprachliche oder rhythmische Gruppen von grader Silbenzahl liegen, ceteris paribus, in der Tonhöhe prinzipiell konträr zu solchen von ungrader Silbenzahl’. Bei nachträglicher Störung der Überlieferung, also bei Änderung einer gradzahligen Gruppe in eine ungradzahlige oder einer ungradzahligen in eine gradzahlige, wird die Sprachmelodie gestört ; der Textkritiker hat sie neu zu erlauschen und durch Verwendung der klanggemäßen Sprachform richtig zur Geltung zu bringen. In seiner letzten Arbeit hat E. Sievers an Hartmann von Aue durch Einsetzung zahlreicher Kurzformen die Probe gemacht und ein ungehemmt fließendes Musterstück des mittelhochdeutschen Erzählverses vor uns hingestellt. Die Personalkurve, der konstanteste Faktor der Schallanalyse, hat streckenweise seine besondere Aufmerksamkeit, und mit ihrer Hilfe scheidet er nicht allein, wie wir schon sahen, Norwegisch- Nordbritisches und Isländisch-Grönländisches, sondern auch lateinische Texte des alten Frankreich je nach ihrer Herkunft von eigentlichen Franzosen, Franken und Burgundern. Da alle kritischen Schlußfolgerungen vom klangreinen Vortrag aus gezogen werden, so läßt er nichts unversucht, an alle Vorbedingungen heranzukommen, erörtert also die Frage ob Linkser oder Rechtser, ob weiblich oder männlich, ob Germane oder Jude ebenso wie die nach Zusammenarbeit und Vereinigung mehrerer zum Vortrag, ja müht sich um die Technik der besten Druckanordnung der Texte, damit den Reproduzenten nach Möglichkeit alle Hemmungen genommen werden. Der Lügner verrät sich durch einen stimmlichen Befangenheitskoefhzienten, so Wolfram im literarischen Schwindel vom Provenzalen Kyot, so ein frommer Fälscher gelegentlich im Neuen Testament. Die Rechtsprechung hat sich die Beobachtung nicht entgehen lassen. In der klaren Scheidung von singstimmigem Tanzlied und sprechstimmigem Nichttanzlied steht Walther von der Vogelweide für seine Zeit einzig da. Wolfram von Eschenbach besaß gleich Goethe die Gabe, ‘ sich in das Stimmliche anderer Persönlichkeiten derart einzufühlen, daß er unwillkürlich in deren Stimmart verfällt, wenn er lebhaft ihrer gedenkt’ ; so in die Stimme Heinrichs von Veldeke, Walthers von der Vogelweide, Gottfrieds von Straßburg, des Nibelungenliedes, aus dem darnach Wolfram entlehnt haben muß. Unter den Satz ‘Funktionsverschiebung führt zu Klangverschiebung’ fallen die Ortsnamen, zu denen der Sprechende eine persönliche Beziehung unterhält, und die somit klanglich ausgezeichnet werden. Solche Ortsnamen sind dann Zeugen für die Heimat der Autoren. Nur vom klanglichen Ablauf endlich stößt E. Sievers auch auf die einzelne verderbte oder schwierige Textstelle vor, und es gelingen ihm in der Tat einleuchtende Besserungen und Erklärungen, so besonders überzeugend bei Gelegenheit einer Stelle der altsächsischen Genesis. Wir fragen freilich, und nicht nur hier, ob da nicht am Ende der geniale Philologe den Schallanalytiker geführt hat. Die Fülle der Vortragsfaktoren und der daraus zu gewinnenden textkritischen Einsichten hat er am Text der Kudrun dargelegt, und der Zweifler beachte wohl, daß im Textaufbau der griechischen Evangelien stimmlich getrennte Quellen sich auch im Gebrauch von Wortformen, Wörtern und Wendungen unterscheiden. Anderseits wachsen die Vortragsformen zu so verwickelten Gebilden, daß auch der Willige kaum noch zu folgen vermag. Die sowieso verwickelte und von Rissen durchsetzte Schallanalyse von 1924 erweitert sich schrittweise um Beobachtungen, deren Bedeutung man fühlt, aber die nicht immer klar dastehen in sich und in ihren Beziehungen zum Gesamtsystem. So bleibt das Verhältnis der Tonschritte zum Stimmsprung ungeklärt. Das Melodische drängt derartig in den Vordergrund, daß man meint, die Schallanalyse müsse zerspringen und zu ihrem Ausgangspunkt, eben dem Rhyth- misch-Melodischen zurückbiegen. War E. Sievers im Begriff wieder einmal zu widerrufen und sich am Ende mit seinen Schülern zusammenzufinden, die von diesen Anfängen kommen ? Mit F. Karg und G. Ipsen und ihren Schallanalytischen Versuchen, oder mit den schlichten Grundtatsachen, auf denen die Parzivalstudien von E. Karg-Gasterstädt aufbauen ? Wir wissen es nicht, und so sind wir verurteilt, Zweifler zu bleiben, vor allem da, wo die textlichen Folgerungen anfangen. Weder die Schallanalyse noch ihre späteren Engänzungen entlassen uns mit einem Gefühl der Sicherheit, so tief und gewaltig der Eindruck sein mochte, unter dem man stand, wenn E. Sievers persönlich erläuterte. Unvergessen bleibt mir die letzte Abendvorlesung über das Nibelungenlied, die der Achtzigjährige vor überfülltem Auditorium und vor begeisterten Studierenden gehalten hat. Oft genug bin ich vor mir besonders vertrauten Texten des deutschen Westens mit ihm zusammengetroffen. Wir pochen stolz auf alte, bewährte philologische Methode. Aber trägt sie nicht ebensoviele Risse und Unvollkommenheiten an sich wie die Schallanalyse und ihre Ausläufer ? Und kommen die Risse und Unvollkommenheiten nicht aus gleicher Quelle ? G. Ipsen hat mir einmal gesprächsweise dargelegt, daß die philologische Methode und die Schallanalyse als textkritisches Forschungsinstrument dem gleichen frühpositivistischen Denkschema entspringen, wonach Formunterschiede in Autorenwechsel begründet seien. Das wäre dann richtig, wenn literarische Formen nichts anderes wären als aktueller psychischer Ausdruck, ohne Eigengesetzlichkeit. Die Theorie der Geisteswissenschaften habe dieses Schema inzwischen als Kurzschluß erkannt und Wege zur Erkenntnis und Beschreibung der Formstruktur gewiesen. Diesen Weg habe auch E. Sievers instinktiv beschritten, ohne sich aber von dem alten Denkschema befreien zu können. Zu unserem Zweifel, der aus der Geschichte der Schallanalyse kommt, tritt demnach ein grundsätzliches Bedenken. Anderseits tritt die Bedeutung der Schallanalyse als Wegbereiterin einer neuen Formerkenntnis um so klarer heraus. Auch von hier aus gesehen können demnach die Sieversschen Feststellungen zu literarischen Formfragen Beachtung und Wert beanspruchen.
Eins wird bleiben und ist unserer Wissenschaft als fester und dauernder Besitz einzuverleiben : die Neueroberung des Lautes auf dem Wege über die Sprachmelodie. Die um die Jahrhundertwende aus der Phonetik erwachsene sprachmelodische Forschung fügt Phonetik, Metrik und Philologie zu einem Komplexssytem, wie wir sahen. Obgleich Steigton und Fallton und deren grundlegende Bedeutung für die Entwickling und die Geschichte des Vokalismus längst erkannt sind, wird der Schritt von der neuen Dimension der Lautung zum Laut doch zunächst nicht getan. Erst nach einer Zeit des Suchens und Tastens und nach der Erprobung des neuen Beobachtens und Denkens am Hebräischen sondert sich der Laut aus dem komplexen Zugriff bei der daraus fließenden Textanalyse neu ab, in engerer Beziehung bald zu diesem bald zu jenem Element der Schallanalyse, aber nur selten systematisch erforscht. Die Folgen des Umschwungs für das junggrammatische Lehrgebäude der Angelsächsischen Grammatik haben wir dargestellt und dabei schon im Groben den neuen Weg gezeichnet, um begreiflich zu machen, wie es möglich war, daß ein Lieblingskind so erbarmungslos verstoßen werden konnte. Auch die wesentlichen Stränge des neuen Weges haben wir schon aufgedeckt : einmal die ehrfürchtige Deutung der Orthographiesysteme klangempfindlicher Autoren, so kraus sie scheinen mögen, ein andermal Lautansatz ohne Rücksicht auf das überlieferte Schriftbild. Nur der rücksichtslose Schnitt durch die Fäden, die ihn bis zum 50. Lebensjahr mit der Vergangenheit verknüpften, gab E. Sievers die souveräne Freiheit, die Lautsysteme europäischer und asiatischer Sprachen zu deuten oder gar heraufzuzaubern, nur schwach hörbare Klänge zu verstärken, Verklungenes zu neuem Leben zu erwecken. Er bestimmt die Lautformen von Sprachen, Dialekten und Autoren, durchmißt die Lautlehre des skandinavischen Nordens, des Alt- und Mittelhochdeutschen, des Alt- und Mittelenglischen, dazu die des mittelalterlichen Lateins und des Altromanischen, des Altslavischen und Altrussischen, des Hebräischen und Babylonischen. Er entdeckt das neustrische Deutsch. Wie im Norden geht auch in Frankreich mit den unterschiedlichen Personalkurven Hand in Hand ein Jahrhunderte alter Gegensatz zwischen französischem und fränkischem Latein; den zwei stark verschiedenen Aussprachesystemen des Lateinischen entsprechen zwei Arten des Französischen, das der alten Romanen und das germanisch-fränkischer Färbung. Die St. Galler Denkmäler sind mit irischer Aussprache des Lateins zu lesen. Die alte Liebe zum Nordischen und Angelsächsischen bricht mit neuer Gewalt hervor. Bis in letzte Feinheiten wird der Unterschied zwischen Norwegisch und Isländisch, die Lautform und Betonungsweise altschwedischer und angelsächsischer Überlieferung, die Dialektgeschichte des Angelsächsischen dargelegt. Zu den Lieblingsgebieten früherer Zeit tritt nun auch die Aufhellung der alt- und mittelhochdeutschen Lautgeschichte, und an zwei klassischen, gut überlieferten und auf ein sorgfältiges Orthographiesystem bedachten althochdeutschen Denkmälern, aber auch an anderer althoch- und altniederdeutscher Überlieferung erweist er das Auf und Ab der Tonschritte, das Spiel der lautlichen Dubletten und Tripletten, das sie heraufführen, und deren Spiegelung in der Orthographie, die von hellhörigen Autoren und Schreibern so gut wie möglich ausgenützt erscheint, deren Klangwerte von den schwerhörigen Grammatikern aber überhört worden sind. Aus scheinbarer Willkürlichkeit, aus orthographischem Gemisch tritt ein reiner Gang der Melodie heraus, ein gefälliges ununterbrochenes Steigen und Fallen. Die Akzentzeichen germanischer wie slavischer Überlieferung aber gewinnen in diesen Zusammenhängen einen neuen Sinn. Gewiß dienen sie hier und da zur Bezeichnung von Quantitäten, ihr erster Sinn aber ist die Bezeichnung von Tonschritten. Scheinbare Mischtexte aller germanischen Überlieferung von den Goten bis zu den Nordländern treten uns so, wie E. Sievers sie liest, als satzphonetische Kunstwerke allerersten Ranges entgegen. Er bleibt kritisch gegenüber schlechter Überlieferung, ist also weit entfernt, seine Entdeckung zu überspannen ; gerade darum aber glaubt er sagen zu dürfen, ‘daß in weitaus den meisten Fällen die Texte, auf die wir mit Vorliebe unsere grammatischen Regeln stützen, weil sie sich durch Regelmäßigkeit der Formgebung auszeichnen, nicht den Anspruch erheben können, ein auch nur leidlich klanggetreues Abbild gesprochener Sprache zu geben ; echte Sprache im eigentlichen Sinne des Wortes finden wir viel öfter in Texten mit starkem Wechsel der äußeren Form abgebildet.’ Köstlich ist sein letzter Spott über die nur gesehenen, nicht gehörten Schriftbilder und die Edikte der Metriker und historisierenden Grammatiker, die nichts von Sprache verstehen und von einem ‘noblen’ Idealmittelhochdeutsch träumen, das nie bestanden hat. Seinerseits aber geht er daran den mittelhochdeutschen Texten ihre rechte Farbe zu geben, das Mitteldeutsch des Heinrich von Morungen, das Schwäbisch des Kaiser Heinrich, die Ablösung des Mittel- durch das Oberdeutsche bei Konrad von Würzburg zu bestimmen. Wobei uns freilich Bedenken kommen, wenn Textstücke, die wir nicht missen möchten, für unecht erklärt werden auf Grund zugleich schallanalytischer und klanglich-lautlicher Kriterien. Er hatte Respekt vor Lachmanns Wolfram, verurteilte seinen Iwein und warnte vor dem mißverstandenen Vorbild der großen alemannischen Sammelhandschriften. Aus den lebenden Mundarten holte er sich die Bestätigung seiner Lehren, und hier ist die Stelle, wo wir uns immer wieder trafen und verstanden. Das Dubletten- und Triplettenspiel ist in ihnen in der Tat allerorts zu belauschen, in den einen mehr, in anderen weniger, weil sie nach einer Form ausgeglichen haben. Die ungeheueren lautlichen Unterschiede der heutigen deutschen Mundarten sind in mittelhochdeutscher Zeit in allem Wesentlichen bereits vorhanden gewesen ; nur war vielerorts noch nicht die Ausgeglichenheit da, die wir heute beobachten. Der junge E. Sievers hatte in der Aufsatzreihe Zur Akzent- und Lautlehre der germanischen Sprachen seine Entdeckungen gemacht aus der Fähigkeit, lebendige Rede und Sprachvorgänge nachzuerleben und aus einfachsten Grundkräften zu begreifen. Als letzte Grundkraft erkennt er am Ende die Sprachmelodie. Aus ihr wachsen und in ihr harmonisieren sich alle lautlichen Varianten, und alles scheinbar Ungesetzliche hat eine letzte melodische Gesetzlichkeit. Damit aber ist der Streit der Generationen um das Lautgesetz beendet. Man hat ihn, aus Mangel an letzter Einsicht in lautliches Leben und Werden, umsonst geführt. Die Hartnäckigkeit aber, mit der er immer wieder aufgenommen wird, erklärt sich aus der Befangenheit des sprachlichen Denkens, das am regulierten Schriftbild, nicht an der Lautung erzogen wird. Am schlimmsten ist es da um die Germanisten bestellt, deren sprachliche Vorstellungen an regelmäßigen Handschriften oder an geregelten Texten oder gar an der sogenannten Grammatik der Blütezeit erzogen werden. Das mundartliche, nicht das ‘schriftsprachliche’ Problem ist das Wichtigste und Erste, und erst von ihm aus ist die Frage nach einem überlandschaftlichen Ideal und am Ende auch jener Fragenkreis der Literaturgeschichte, der mit der Sprache zusammenhängt, zu erörtern. Das haben im Gegensatz zur herrschenden Meinung gerade die letzten Arbeiten von E. Sievers durch ihre zugleich sprachlichmundartlichen und literarischen Ergebnisse gezeigt. Alles andere überragend aber steht auf dem neuen Wege die Abhandlung Zur englischen Lautgeschichte (1928), die das Alt- und das Mittelenglische mit der gleichen jugendlichen Frische durchschreitet, die auch die früheren Arbeiten zum Angelsächsischen und vor allem die Angelsächsische Grammatik selbst auszeichnet. Eine englische Arbeit des Fünfzigjährigen beschließt die junggrammatische Arbeitsperiode, eine englische Arbeit des fast Achtzigjährigen ist die reifste Frucht der sprachmelodischlautlichen Forschung. In einem geraden, ungebrochenen Aufstieg ist der Weg zurückgelegt vom Buchstaben über den am Buchstaben spekulierenden Lautphysiologen und Phonetiker zum Entdecker der Lautung, von Jakob Grimm über den jungen zum alten E. Sievers. Ein Schade bleibt. Das alte Gebäude der germanischen Lautgeschichte hat E. Sievers eingerissen ; Grundriß und Steine zum Neubau hat er zurechtgelegt ; den Neubau selbst hat er nicht errichtet. Und dennoch hat er den Erforscher insbesondere der deutschen Lautgeschichte nicht im Stich gelassen. War er auch nicht zu bewegen, die Lautgeschichte des Mittelhochdeutschen systematisch neu zu behandeln, so hat er doch aus einem Brennpunkt heraus, eben vom Deutsch der mittelhochdeutschen Zeit her den neuen Weg gewiesen. Schließlich schenkte er auch der Sprachgeographie mehr und mehr Beachtung, als er sah, daß sie an wesentlichen Punkten mit ihm zusammenstieß. Hat er als der Führer der Junggrammatiker einmal das sprachliche Denken zum Schaden der Sprachwissenschaft in allzu stramme Fesseln gelegt, so hat er es im hohen Alter wieder zu letzter Freiheit gelöst. Über die fehlende Gefolgschaft gerade der Germanisten hat er sich dann heftig beklagt; wobei er freilich übersah, daß die Schultradition, in der sie sich behaglich fühlen, gerade durch ihn entscheidend bestimmt worden ist. Dennoch blieb er einseitig, wenn wir ihn mit Maßstäben messen, die von der herkömmlichen Grammatik genommen sind. Nur die Lautlehre hat er auf einen neuen Plan gestellt ; aber von der Dimension der Lautung her, auf die seine Art des komplexen Forschens ging, und in diesem Sinne ist die neue Lautlehre dann wieder das Stück eines alles überspannenden neuen Begreifens. Und wenn er sich zuletzt damit quälte, von der Lautung her zu der Scheidung von Denksprache, Sprechsprache, Niederschrift, Abschrift, von Mundart und kultureller Norm vorzudringen, so mag man daran die Tiefe und Weite seines neuen Sprachbegriffs ermessen.
Nach G. Ipsen ist im Sinngefüge der Sprache die Dimension der Lautung das Erste und Führende, und erst aus ihr heraus entfalten sich die beiden andern, die des Bedeutens und Meinens. Einen Vorstoß aus der Dimension der Lautung auf die des Meinens hat E. Sievers unternommen in den beiden Arbeiten über Fragen der Stellung des Verbs in der Edda. Er ist, wie wir sahen, stecken geblieben. Erst seine Schüler haben ihn weitergetragen, vor allem F. Karg in seinen Syntaktischen Studien. Anders der spätere Vorstoß auf die Dimension des Bedeutens. Er nimmt, wie das für E. Sievers typisch ist, seinen Ausgang von einer begrenzten, aber empirisch feststehenden Tatsache, diesmal von der vergleichenden indogermanischen Grammatik ; und zwar von Fällen des Lautschwundes in Anlaut und Inlaut. Als Folge beobachtet er Druckverstärkung und Dehnung bei bleibenden Konsonanten, Tonhöhenverschiebung bei bleibenden Vokalen. Wesentliche Bestandteile ältester Morphologie leben also fort in Druck und Ton, und zwar bis in die neuern Sprachen. Von hier aus gelangt er im dritten Teil der Studien über Vedisches und Indogermanisches, in dem Abschnitt Intonation und Ablaut, zu der Feststellung von Kontrastgefühlen für bestimmte Formkategorien, die sich dann im Gegensatz von Steigton und Fallton gegeneinanderstellen, so z. B. die Grundmodi Indikativ, Konjunktiv, Optativ gegen die Gegenmodi Imperativ, Injunktiv, so Maskulinum und Femininum gegen Neutrum. Besonders verwickelt ist die Intonationsart der Aoriste. An die Stelle von Allgemeinformeln für indogermanische Betonung haben Klassenformeln zu treten. Klassenformeln durchziehen das Gesamtgebäude der indogermanischen Kasus; sie sind differenziert nach den Stammklassen und nach der Scheidung der Kasus in Grundkasus, nämlich Nominativ, Akkusativ, Vokativ, und Gegenkasus, nämlich Genitiv, Dativ, Instrumental, Lokativ, Ablativ. Die Entwicklung geht diesen Weg. Aus der Emotion als dem Primären wächst die Lautgebärde, die wörtlich zu nehmen ist als eine Gleichzeitigkeit von Gebärde und Laut; Hand in Hand mit ihr geht die akzentische Differenzierung weitesten Sinnes, einschließlich der Intonation und des Quantitativen ; daraus wächst nach der Seite des rein Lautlichen das Spiel des Ablauts, der also in das Gebiet der Sprechdubletten gehört, anderseits die Klassenformel bestimmter Formkategorien. Das Intonationssystem und seine Ordnungen bestimmt somit die Satzbedeutung der Kasus. Mit der Entdeckung des Stimmsprungs verwickelt sich das System, aber gerade der Stimmsprung zeigt dessen enge Verbundenheit mit der Dimension des Bedeutens. Denn er trifft Form- und Wortkategorien zugleich, Vokative, Imperative, finite Verbalformen mit deutlich perfektivischem Sinn, Wortformen mit dehnstufigen Vokalen, so Schwager gegen Schwäher, Fremdwörter und Fremdnamen, und endlich alles, was sich nach geltendem Sprachgebrauch greifbar von der Grundbedeutung seines Wortes abzweigt. Auch hier hat E. Sievers nur einen Anfang gemacht. Aber gerade an dieser Stelle trifft er mit dem neuen Sprachbegriff zusammen ; gerade im Anschluß an die Sieverssche Kasusintonation kommt G. Ipsen zu diesen Sätzen : ‘Wo immer man die Sache anfaßt, zeigt sich . . . , daß jeder konkret bestimmten Form ein sprachlicher Sinngehalt eindeutig zugeordnet ist, daß darum jeder Formänderung eine Bedeutungsänderung entspricht und umgekehrt. Die eindeutige Entsprechung von Form und Bedeutung kann so der Forschung geradezu als methodisches Prinzip dienen.’ Aber die Lautung ist auch in sich sinnhaft. Sie ‘ist als Form unmittelbar Ausdruck einer eigenen Dimension des Sinnes, physiognomischer Ausdruck des sprechenden Menschen. Es ist vor allem diese Dimension des Sinnes die von der Schallanalyse und ihrer Begriffsbildung erfaßt wird. Die Lautung ist physiognomischer Ausdruck wie die Gebärde Ausdruck einer Gemütsbewegung ist ; aber zugleich begründet sie darin den sprachlichen Bedeutungsgehalt, der was in ihr beschlossen liegt zum Logos entfaltet...’
E. Sievers hat sich nie um die Philosophie gekümmert, und am Ende steht er in einem Kreis von Philosophen, die ihn bald nach der Seite der physiologischen Psychologie, bald nach der Seite der Ganzheitsphilosophie, bald nach der Seite des Ästhetischen verfolgen, oder die ihren neuen Sprachbegriff von seiner Art Sprachform zu sehen, eben von der Dimension der Lautung her entwickeln. Ihm fehlte das historisch-sprachliche Denken weitesten Sinnes, und am Ende steht er, bei der Wiedererweckung der Lautformen des Mittelhochdeutschen, vor den Toren der soziologischen Sprachbetrachtung. Er bezichtigte sich selbst des Mangels an Begabung für literargeschichtliche Forschung, und hat doch von der Sprachform her der Literaturgeschichte mehr Fragen grundsätzlicher und weittragender Art gestellt und beantwortet als manch zünftiger Literarhistoriker ; eben weil er die Texte beherrschte und durchfühlte. Gleichzeitig mit dem Buche von A. Heusler ist seine Auffassung des Nibelungenliedes gewachsen ; im Grundsätzlichen wie im Einzelnen berühren sich beide vielfach. E. Sievers hat sich als Naturwissenschaftler gefühlt. Die durch äußere Umstände unterdrückten naturwissenschaftlichen Neigungen der Jugendzeit haben sich umgesetzt in das Streben, die ‘Kräfte auf exakte Formbeobachtung und Formanalyse zu konzentrieren’, wie er selber einmal gesagt hat. Immer geht er von der Beobachtung aus, auf die er oftmals wie zufällig stößt oder im Widerspruch zu andern gestoßen wird, und immer nur von genauester Materialbeherrschung und scharf gesichteten Belegen ; sie durchziehen zu Tausenden seine Schriften. Auch die Schallanalyse war ihm exakte naturwissenschaftliche Beobachtung, und da, wo es um feinste Beschreibung und Zergliederung von Lautung und Laut geht, müssen wir ihm folgen, so zurückhaltend wir gegenüber dem System und allen Folgerungen bleiben. Lautung und Laut sind das ihm angemessene Beobachtungsfeld, die Beobachtung also der Sprachphysiognomie und der Kräfte, die sie modellieren. Dazu aber bedurfte er nicht des Experiments. Die Experimentalphonetik hat er abgelehnt, und er meinte sagen zu dürfen, daß sie kaum etwas zu bringen hätte, was nicht auch ein feines und geschultes Ohr erlauschen könnte. Sein Feld aber hat er mit der Treue und Zähigkeit bestellt, die ihm mit seinem Blute und seiner Scholle gegeben waren. Nur auf ihm konnte er wachsen, wie er selber wußte ; und so wuchs die geniale Veranlagung in strengster Selbstzucht denn auch zu jenem monumentalen Lebenswerk, vor dem wir in ehrfürchtiger Bewunderung stehen.
Von der Beobachtung des lebendigen Sprechens und der germanischen Sprachen ist er zu einem neuen Sprachbegriff vorgestoßen, hat darnach das Indogermanische überhaupt und das Semitische durchwandert, Texte zerschlagen oder zusammengestellt, Autoren bestimmt und verworfen, viel bestaunt, aber auch gescholten und abgelehnt. Man hat wohl gemeint, dem großen Sprachforscher und Philologen die Schallanalyse nachsehen zu müssen ; neue Einsichten, die mit der Entwicklung der Schallanalyse hervortreten, seien am Ende nur Nachklänge der besseren Frühzeit. Das ist falsch. Denn trotz des Entwicklungsbruches des Fünfzigjährigen erscheint das Gesamtleben als eine einzige Entfaltung aus alten Grundkräften, ja nach einer Übergangszeit auf der Lebenshöhe ballen sie sich, vielfach gewandelt und verfeinert, zu einem neuen geschlossenen Kräftespiel zusammen. Der 21jährige Professor der germanischen und romanischen Philologie weist sich noch als Achtzigjähriger aus in den Elnonensia, die von Altfranzösisch, Althochdeutsch und Mittellatein desselben Autors handeln ; Sprachforscher und Philologe können nicht genialer zusammenarbeiten als in der Erklärung der Duenosinschrift. Beide Male aber sind die alten Sinne durch die Schallanalyse geschärft und geführt. E. Sievers besaß die Fähigkeit der Dialektreproduktion wie kaum ein anderer ; berühmt waren seine Vorlesungen über Phonetik. Sollte aber der, der die feinsten Regungen lebendigen Lebens spürte, nicht auch imstande gewesen sein, stumm Gewordenes zum Tönen zu bringen ? Zwei große Triumphe hat er erlebt : die Entdeckung der altsächsischen Genesis und die Bestätigung der von ihm geforderten grammatischen Abweichungen vom masoretischen Text in späteren Funden. Bei der Aufteilung des Fredegar an zwei Burgunder und einen Franken ist er mit B. Krusch zusammengetroffen, ohne daß der eine vom andern wußte. Sollten wir ihm dann nicht auch da trauen dürfen, wo keine Bestätigungen von anderer Seite zu erwarten sind ? Er, der sich immer wandeln konnte, der Werke widerrief, deren jedes seinen Ruhm für alle Zeiten sichert, der Traditionen schuf und zerbrach, hat den ablehnenden Fachgenossen einmal zugerufen : ‘Daß das ... so ist, nimmt mich auch nicht einmal besonders Wunder, denn die Geschichte unserer Gewohnheitsphilologie lehrt ja jeden, der sehen will, wie der Glaube an einmal Gelerntes und Gelehrtes bei den meisten Fachgenossen stärker wirkt als Tatsachen, die noch nicht in den offiziellen Kanon des Herkömmlichen aufgenommen sind’. Ein leider allzu wahres Wort, wahr vor allem im klassischen Lande der Schultraditionen, bei uns ; wahr insbesondere auch in der Geschichte der deutschen Philologie, die allzulange von ihrer erlauchten Großmutter, der klassischen Philologie, gegängelt worden ist. Wir verdanken ihr die straffe philologische Erziehung, was aber nicht sagt, daß ihre Denk- und Forschungsschemata auch auf die Philologien passen, die an die lebendige Sprache heranreichen und bis in ihre frühesten Forschungsgegenstände vom lebendigen Sprechen her erforscht werden können. E. Sievers war klassischer und neuerer Philologe zugleich, so war er besonders berufen die Denkenge und die Fesseln zu sprengen, die K. Lachmann unserer Wissenschaft umgelegt hat. Seine eigne Herkunft von J. Grimm hat der Achtzigjährige klar gesehen. Gleich ihm ist er schlicht und gerade immer von den Tatsachen, nie vom Dogma ausgegangen, unabhängig von allen geistigen Modeströmungen, ein Aufrechter und Eigner vom ersten bis zum letzten Tag, Positivist und Naturwissenschaftler gewiß, aber dann einer von der Art, die ganze Generationen ernährt. Die voreiligen Kritiker seiner letzten Werke mögen an der Täuschung gewarnt sein, der einst W. Scherer erlag, als er schrieb (1878) : ‘Unter dem Titel zur Akzent- und Lautlehre der germanischen Sprachen hat Herr Sievers drei Aufsätze geschrieben, auf die ich im Text keine Rücksicht nahm, weil sie mich nirgends überzeugt haben’. Wir rechnen diese Aufsätze heute zu den kostbarsten Stücken unserer Wissenschaft. Gerade in ihnen aber liegen auch die Keime des späteren E. Sievers.
Der Diener der Form ist am Ende vor dem Logos gestanden, und leidenschaftlich, oft genug zum Überdruß seiner Umgebung, und nicht ohne ungerecht zu werden, hat er ihm gedient. Das Verständnis, das er für sich beanspruchte, hat er andern nicht immer in gleichem Maße geschenkt. Aber das ist das Recht der Großen. Der ethischen Kraft, die von ihm ausging, konnte sich auch der schärfste Gegner nicht entziehen. Tausende von Germanisten haben dem glänzenden Lehrer gelauscht, aus aller Welt sind die Schüler zu ihm gezogen. In der großartigen Abhandlung Zur englischen Lautgeschichte hat er seine Arbeit selber von J. Grimm hergeleitet und ihr dessen Wort vorangestellt : ‘Allgemein logischen Begriffen bin ich in der Grammatik feind ; sie führen scheinbare Strenge und Geschlossenheit der Bestimmungen mit sich, hemmen aber die Beobachtung, welche ich als die Seele der Sprachforschung betrachte. Wer nichts auf Wahrnehmungen hält, die mit ihrer faktischen Gewißheit anfangs aller Theorie spotten, wird dem unergründlichen Sprachgeiste nie nähertreten.’ Er hat mit dem Sprachgeist gerungen wie kein anderer, er hat ihn zu halten gemeint und er ist ihm doch immer wieder entflohen. Unter Einsatz des ganzen Menschen ist er auf seine Art weiter vorgedrungen als je ein Sprachforscher vor ihm. Der Beginn seiner ersten wie seiner zweiten Arbeitsperiode werden in der Geschichte der Germanistik wie der Sprachforschung überhaupt einmal als Einschnitte und Wendepunkte dastehen.
Source: Theodor Frings, ‘Eduard Sievers, geboren zu Lippoldsberg a. d. Weser am 25. November 1850, gestorben zu Leipzig am 30. März 1932,’ in Berichte über die Verhandlungen der sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig 85.1-56 (1934). By permission of S. Hirzel Verlag, Leipzig, German Democratic Republic, and the author.
1 Gesprochen in gekürzter Fassung am 1. Juli 1933.
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