“KARL VOSSLER (1872-1949)” in “Portraits of Linguists: A Biographical Source Book for the History of Western Linguistics, 1746-1963, V. 2”
KARL VOSSLER (1872-1949)
Karl Vossler
Ernst Gamillscheg
Karl Vossler wurde am 6. September 1872 in Hohenheim bei Stuttgart geboren. Als echter Sohn des Schwabenlandes bezog er zunächst die Landesuniversität in Tübingen, studierte dann in Straßburg und Genf und zog schließlich nach Rom, wo er in Ernesto Monaci einen Lehrer fand, dem er auch in seinen späteren Jahren ein dankbares Andenken bewahrte.1 Italien ist Vossler nun zu einer Art zweiter Heimat geworden, besonders als er sich dort mit einer Angehörigen des italienischen Hochadels vermählte.2
Vossler hat nicht den normalen Bildungsgang des deutschen Romanisten des Endes des 19. Jahrhunderts mitgemacht. Trotz Gustav Gröber, den er in Straßburg hörte, und Monaci in Rom hat er seinen Weg selbst gefunden. Während es zur Zeit, als er in das akademische Leben eintrat, als unerläßlich galt, durch die Bearbeitung eines altfranzösischen Textes einen wissenschaftlichen Befähigungsnachweis zu erbringen, hat Vossler zunächst mit einer Dissertation über das deutsche Madrigal seinen Doktorgrad erworben. Seine wissenschaftlichen Interessen, die alles umfaßten, was zur Geistesgeschichte gehört, gestatteten ihm nicht, sich in kleine Kärrnerarbeit zu vertiefen. Wenn bei ihm überhaupt von einem Lehrer gesprochen werden kann, der auf seine Entwicklung von Einfluß wurde, so war es höchstens, später in Heidelberg, sein junger Kollege, der Literarhistoriker Freiherr von Waldberg.
Im Sommersemester 1898 begann Vossler seine akademische Tätigkeit an der Universität Heidelberg, zunächst als Assistent am Romanischen Seminar, wo er mit der Abhaltung von italienischen Sprachkursen betraut wurde. Diese Tätigkeit behielt er über zehn Jahre, bis zu seiner Berufung an die Universität Würzburg, bei. Im Jahre 1900, also 28 Jahre alt, habilitierte er sich, nunmehr für das Fach der romanischen Philologie, und eröffnete seine Lehrtätigkeit mit einer Vorlesung über das ‘ Blütezeitalter der italienischen Litera- tur von Ariost bis Tasso ‘.3
Als Vossler seine Tätigkeit an der Universität Heidelberg begann, war der Vertreter des ordentlichen Lehrstuhls für romanische Philologie Fritz Neumann, der der Tradition entsprechend Jahr für Jahr Vorlesungen über Altfranzösisch und historische französische Grammatik hielt. Über französische Literatur las gleichzeitig, zuerst als Privatdozent, später als außerordentlicher Professor, der Elsässer Schneegans, der sich auch das Gebiet der französischen Syntax und Stilistik vorbehielt. So wurde Vossler während der neun Jahre seiner Dozententätigkeit an der Universität Heidelberg auf die Gebiete verwiesen, die in den Hauptvorlesungen nicht berührt wurden : Italienische Literatur, dann, von 1903 an, die provenzalische Troubadourdichtung. In diesen Vorlesungen legte er den Grund nicht nur für seine schon erwähnte Schrift über den ‘dolce stil nuovo , auch sein späteres großes Buch über Dante mag durch diese Vorlesungen angeregt worden sein. Zwei seiner späteren Akademieschriften : ‘ Der Trabador Marcabru und die Anfänge des gekünstelten Stils’, S. Α., München 1913, und ‘Der Minnesang Bernhard von Ventadorns’, S. Α., München 1918, fallen in diese Studienrichtung Vosslers. Als reifer Forscher auf dem Höhepunkt seines Schaffens kehrte Vossler in zwei Vorträgen : ‘ Die Dichtung der Trobadors und ihre europäische Wirkung ‘, gehalten 1937 an der Université méditerranéenne, zu dem gleichen Kreis von Probemen zurück.
Die Beschäftigung mit Spanien, in dessen Geistesleben sich Vossler in seinen späteren Jahren mit besonderer Liebe vertiefte, zeigt sich in dieser ersten Zeit seiner Dozententätigkeit noch nicht. Immerhin kündigte er 1907 eine Vorlesung ‘ Einführung in das Studium des Spanischen (Grammatik und Lektüre)’ an. Einen einheimischen Lektor für spanische Sprache gab es damals in Heidelberg ebensowenig wie an anderen deutschen Universitäten.
Auch die eigentliche Sprachgeschichte beschäftigte Vossler in seiner Heidelberger Zeit nur wenig. Er hielt zwar 1902 eine Vorlesung über ‘ Historische Grammatik des Italienischen ‘, in zwei Wochenstunden, ist aber später auf dieses Gebiet nicht mehr zurückgekommen. Seine Beschäftigung mit der Sprache ging auch nicht von der Sprachgeschichte aus, sondern von der Philosophie. So stark auch sein Interesse für die Sprachtheorie und in der Folge seine Wirkung auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft war, so hat er doch meines Wissens kein einziges Problem der Sprachgeschichte aus erster Hand bearbeitet.4
Als Sprachtheoretiker stand Vossler unter dem Einfluß seines italienischen Freundes Benedetto Croce, der 1900 in seinem Buch Estetica come scienza dell՝espressione e linguistica generale die auf den ersten Blick paradoxal erscheinende These aufstellte, daß Sprache = Poesie und Ästhetik allgemeine Sprachwissenschaft sei. In einem kleinen Aufsatz ‘ Benedetto Croces Sprachphilosophie ‘ (Aus der romanischen Welt IV, 1941) hat Vossler die Grundgedanken dieses Buches selbst charakterisiert : ‘ Da Croce die menschliche Sprache als Dichtung begreift, und damit als etwas Künstlerisches, so darf er mit Recht seine Kunstphilosophie oder Ästhetik als allgemeine Sprachwissenschaft bezeichnen.’ Der natürliche Weg gehe also von der Sprache als künstlerische Schöpfung zur Sprache als Lautung, nicht umgekehrt. Jede sprachliche Äußerung sei ein Schöpfungsakt, und wie der sprechende, daher immer wieder sprachschöpfende Mensch ein an seine Zeit und Umgebung gebundenes Individuum sei, so sei auch die Sprachentwicklung nur aus dem Zeitgeist heraus zu verstehen. Die Sprachwissenschaft müsse bei der Stilistik beginnen und bei den Lautelementen enden.
Mit diesen Anschauungen trat nun Vossler, 1903 zum außerordentlichen Professor ernannt, in zwei Schriften an die Öffentlichkeit, die nun auch die Aufmerksamkeit der zunftmäßigen Romanistik auf den jungen Revolutionär lenkten. 1904 erschien seine Schrift ‘ Positivismus und Idealismus in der Sprachforschung ‘ und unmittelbar nachher, 1905, ‘ Sprache als Schöpfung und Entwicklung ‘. Namentlich die erste Schrift ist im Gegensatz zu seinen späteren Werken stark polemisch gehalten. Positivismus ist alle Forschung, die in der Sprache nur die Materie, nicht den Geist sieht. Die Sprachwissenschaft müsse wahrer Idealismus werden. Wie dies zu machen sei, wird in der zweiten Schrift angedeutet. Da werden bisher nur registrierte Erscheinungen der französischen Lautgeschichte als Folgeerscheinungen des allgemeinen Zeitgeistes erklärt.
Der Kampf gegen den Positivismus in der sprachwissenschaftlichen Forschung war zum Teil ein Kampf gegen nur vorgestellte Gegner. Denn die namentlich in der ersten Schrift als Vertreter des Positivismus genannten Forscher verkannten gewiß nicht die Wichtigkeit der Frage nach dem Warum und Woher der sprachlichen Entwicklung. Aber Vossler ging in der Annahme kausaler Beziehungen zwischen Sprachveränderung und Zeitgeist viel weiter. Als er nach einem kurzen Wirken in Würzburg (1910-1911) im Jahre 1911 nach München berufen wurde und nun selbst die Hauptvorlesungen über französische Sprach- und Literaturgeschichte zu halten hatte, setzte er seine theoretischen Anschauungen in dem Buch ‘ Frankreichs Kultur im Spiegel seiner Sprachentwicklung’ (Heidelberg 1913) in die Praxis um. Das Werk wurde von der Kritik ebenso leidenschaftlich abgelehnt wie bejaht. Daß nicht alles ernster Kritik standhielt, hat Vossler selbst anerkannt. Eine gewisse Wandlung in seinen Anschauungen zeigt sich auch darin, daß er das Buch in 2. Auflage mit dem geänderten Titel ‘ Frankreichs Kultur und Sprache ‘ herausgab (1923). Eine gewisse Gefahr lag zweifelhaft in dem Buch, da bei Leuten, denem der kritische Geist und die nötige Sachkenntnis fehlten, die in dem Buch niedergelegten Grundsätze leicht zu wüsten Phantasien ausarten konnten und ausarteten. In der sprachwissenschaftlichen Entwicklung bedeutet es aber entschieden einen Fortschritt. Geläutert treten die neuen Ideen in einem Aufsatz ‘ Neue Denkformen im Vulgärlatein ‘ zutage,5 wo nun der Einfluß der sich auflösenden römischen Kultur auf die Entwicklung der Vulgärsprache nicht so sehr in den Vordergrund tritt wie das Verhältnis der neuen Sprachformen zu dem allgemeinen Denksystem.
Auch sonst zeigt sich in den späteren sprachtheoretischen Schriften Vosslers eine gewisse Wandlung seiner Anschauungen. Während er in ‘ Sprache als Schöpfung ’ usf. die Bedeutung der Psychologie für die Sprachforschung entschieden ablehnt, hat er später z. B. die Frage des Verhältnisses zwischen den sprachlichen und den psychischen Kategorien mit der ihm eigenen Kunst der überzeugenden Formulierung wesentlich gefördert.
Wenn auch die wahre Bedeutung Vosslers sicherlich nicht auf dem Gebiet der Sprachtheorie liegt, so zeigt sich doch auch hier der Urgrund seiner wissenschaftlichen Größe : überall Probleme zu sehen, den Hintergründen nachzuspüren, auch dort, wo die Forschung schon längst glaubte, am Ziel angelangt zu sein.6 Seine eigentliche Liebe aber gehörte der Geistesgeschichte im weitesten Umfang. ‘ Wo ... reine Dichtung blüht, da ist er zur Stelle. Hier weiß er alles zu würdigen, das Monumentale ebenso wie das glühend Religiöse, aber auch das Verspielte, Verträumte, bloß Ornamentale, wenn es nur aus dem Quell der Phantasie und der schöpferischen Freiheit kommt ‘ (H. Friedrich7). Es fesseln ihn überall die großen Zusammenhänge, nicht das biographische Beiwerk, so schon in den ersten Schriften die Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche, Glauben und Wissen im frühen Mittelalter, die zweite, die italienische Renaissance, Aufklärung und Romantik. Seine Überschau über diese Gebiete, seine Erkenntnis der Zusammenhänge sind unübertroffen. Aber auch wo er sich in die Dichtung eines der großen Geister der Vergangenheit vertieft, gleich, ob es sich um Frankreich oder Italien und Spanien handelt, wird der alte Stoff neu belebt, es entstehen gewaltige Visionen, wie sie nur ein Gelehrter, der selbst Künstler ist, schaffen kann. Vossler behandelt aber nur, was ihm auch innerlich nahe steht, dem er seine wissenschaftliche Liebe ohne Vorbehalte entgegenbringen kann.
So stand seinem Herzen zunächst seine zweite Heimat, Italien, am nächsten. Dieser gelten seine ersten großen literarhistorischen Untersuchungen, so vor allem sein großes, vierbändiges Dantewerk (1907-1910), in 2. Auflage 1925.8 Schon im Jahre 1901/1902 hielt er eine Vorlesung über Dantes Leben und Werke, und Dante steht auch am Endpunkt seiner Schrift über die Philosophischen Grundlagen etc., s. o. Auch später kam Vossler noch wiederholt in Vorträgen auf Dantes Dichtung und Weltanschauung zurück.9 Neben diesem war es namentlich Leopardi, zu dessen Skeptizismus und Gefühl der menschlichen Vereinsamung sich Vossler besonders hingezogen fühlte. Diesem Dichter des Weltschmerzes widmete er 1923 eine Monographie und 1937, anläßlich der 100. Wiederkehr des Todestages des Dichters, eine zusammenfassende Würdigung.10
Das Eintreten Italiens in den ersten Weltkrieg auf der Seite der Gegner seiner ehemaligen Verbündeten versetzte Vosslers Zuneigung zur Heimat Dantes einen schweren Stoß, und auch die Wendung Italiens zum Faschismus Mussolinis war für Vossler, den Vorkämpfer der geistigen Freiheit, eine Versündigung an der Mission des Italienertums.11
Vossler hat zwar auch in späteren Jahren die Liebe zu dem echten Italien nicht verleugnet, ist auch noch wiederholt in sein zweites Vaterland gereist ; seine wissenschaftliche Liebe wendete sich aber immer mehr denjenigen Ländern zu, deren politische Entwicklung ihm weniger Enttäuschungen bereitete. Zu diesen gehörte Frankreich gewiß nicht. Vossler anerkannte bei sich wie bei den Nachbarn das ‘ warme Nationalgefühl verurteilte aber ebenso entschieden, was er als י kalten Nationalismus ’ bezeichnete.12 Er war Europäer, aber unter der Voraussetzung, daß die Glieder der europäischen Gemeinschaft ihre besondere Tradition aufrechterhielten, aber nicht den anderen aufdrängten. Er hat als Mann, der mit visionärer Klarheit die Geschichte miterlebte, die Notwendigkeit eines deutsch- französischen Ausgleichs erkartnt,13 sah darin aber ausschließlich eine Angelegenheit der politischen Vernunft, nicht der gefühls- mäßigen Überzeugung. Seine Einstellung Frankreich gegenüber hat Vossler selbst mit gutmütiger Selbstironie in die Worte gekleidet:14 ‘ Nach einem so lebendigen, tüchtigen und nützlichen Nachbarn (wie Frankreich), der nicht müde wird, uns an eine Pflicht, eine Versäumnis, eine Schwäche, eine Sendung zu erinnern, pflegt man wenig Sehnsucht zu empfinden. Für mich hat sich diese Sachlage dahin ausgewirkt, daß ich das französische Geistesleben in meiner Lehrtätigkeit als Romanist so regelmäßig wie das tägliche Brot meinen Schülern zu vermitteln bemüht war. In meiner Freizeit aber trieb mich das Verlangen . . . über die Alpen, über die Pyrenäen und über den Ozean zu einer ferneren, farbigeren, südlichen Romania.’
So wendete sich denn auch Vosslers wissenschaftliches Interesse von Jahr zu Jahr immer mehr den iberoromanischen Kulturen zu. Von der französischen Literatur interessierte ihn zunächst das Kulturproblem des Minnesanges, s.o. Seelisch nahe stand Vossler ferner der Aristokrat Racine, auf dessen Sprache er sich schon in seiner sprachtheoretischen Schrift ‘ Der Einzelne und die Sprache 1915, bezog. Ihm hat er auch später (1926, in 2. Auflage 1948) eines seiner reifsten Werke, sein Racinebuch gewidmet. Zu Lafontaine, dessen Fabel ‘ Le Corbeau et le Renard י er schon in ‘ Sprache als Schöpfung ’ etc., S. 83, als ein Beispiel ästhetischer Stilanalyse zerlegte und über den er 1919 gleichfalls eine Monographie veröffentlichte, mag ihn die spöttische Überlegenheit, mit der er seiner Umwelt gegenübertrat, hingezogen haben. Ihm fühlte er sich geistig ver- wandt. Bei besonderen Anlässen hielt er auch über Größen der französischen Literatur, die ihm innerlich fremd blieben, Vorträge, so 1935 über Victor Hugo, 1938 über Mallarmé, und in einem weiteren Vortrag ‘ Symbolische Denkart und Dichtung im Mittelalter und heute 1934) ’, Aus der rom. Welt IV) kommt er, von Dante ausgehend, auch auf das französische 19. Jhdt. und weiter bis auf Claudel zu sprechen. Das war aber für ihn nur das ‘ tägliche Brot ‘. Was ihn aber innerlich ergreift, das zeigt sich in seinen meisterhaften Übersetzungen — denn Vossler war auch ein wahrer Dichter. In seinem Band ‘ Romanische Dichter München 1936, in dem er gesammelt herausgab, was im Laufe von dreißig Jahren am Rand seiner wissenschaftlichen Tätigkeit entstanden war, finden wir die alten Lieblinge wider ; die Troubadoure Bernhard von Ventadorn und Peire Cardinal, die Vertreter des Dolce stil nuovo, Dante in zahlreichen Proben, vor allem aber die Iberoromanen, denen nun, in der dritten Periode seines Lebens, sein Hauptinteresse galt.
Mit dem künstlerischen Einfühlungsvermögen, das Vossler erst zu dem wahren Literarhistoriker macht, vertieft er sich in die Schätze der spanischen Literatur, sucht die Zeit zu verstehen, in der die Dichter wirken, und macht diese selbst seinen Lesern wieder lebendig. Er erkennt das Große, Notwendige selbst in der spanischen Inquisition und beseitigt so Fehlurteile, die sich durch Jahr- hunderte festgesetzt haben. So entstehen in rascher Folge seine großen Werke : ‘ Lope de Vega und sein Zeitalter , München 1932, ‘ Die Poesie der Einsamkeit ‘, 1935-1938 (auch in spanischer Übersetzung), Luis de León, S. Α., München 1934. Aber auch kleinere Schriften, Gesamtschau und Einzelvorträge, umspannen das Gesamt- gebiet des spanischen Geisteslebens. 1939 erscheint in deutscher und in spanischer Sprache eine ‘ Einführung in die spanische Dich- tung des goldenen Zeitalters \ Sechs Vorträge, Hamburg. Ein in ‘ Aus der rom. Welt ‘ II abgedruckter Vortrag vom Jahre 1938 über ‘ Spaniens große Dichter ’ führt vom Cid über die Romanzen zu Cervantes, Lope und Tirso. In einer schon 1929 erschienenen Schrift, ‘ Die Bedeutung der spanischen Kultur für Europa ‘, verfolgt er die Bewegung des Averroismus, in dem er den Beginn einer mittelalterlichen Aufklärung sieht und seine Ausläufer bei Spinoza. Selbstverständlich gehört sein ständiges Interesse dem spanischen Existenzproblem des Don Quijote. Daß Vossler diesem mythischen Vorkämpfer der geistigen Freiheit kein eigenes Buch widmete, mag sich vielleicht aus seiner Abneigung erklären, zu Fragen, die im augenblicklichen Brennpunkt des Interesses standen, an die Öffentlichkeit zu treten.15
Als in den letzten Jahren Vossler Gelegenheit hatte, auch die Ableger des spanischen Geisteslebens in Übersee kennenzulernen, vertiefte er sich auch in die geistigen Probleme Südamerikas.16 Auch Portugal gerät gelegentlich in den Bereich seiner Forschungen,17 und mit besonderer Liebe versenkt er sich in die Ideenwelt der Katalanen Raimon Lull (13./14. Jhdt.) und Auslas March (15. Jhdt.), von denen er in seinem Übersetzungsband Proben ihrer Poesie der Einsamkeit und Entsagung dem deutschen Publikum zum erstenmal zugänglich macht.
Vossler war jede Überspitzung und Übertreibung im Innersten zuwider. Das zeigt sich auch den Versuchen gegenüber, Vorstellungen der Kuntsgeschichte auf die literarhistorische Kritik zu übertragen. Daß ihm, der selbst ebenso Künstler wie Gelehrter war, auch diese Probleme nahegingen, versteht sich fast von selbst.18
Die große Wirkung, die Vossler auf seine Zuhörer und Leser ausübte, ist nicht nur seiner wissenschaftlichen Größe zuzuschreiben ; er sicherte sich ebenso durch seine ganze Persönlichkeit die Achtung seiner Mitwelt. Er kannte kein Lavieren aus Nützlichkeitsrücksichten. Wie er im italienischen Faschismus einen Verrat an der Mission Italiens sah und aus seiner Überzeugung kein Hehl machte, so verurteilte er von allem Anfang an die Knebelung der Gedanken- freiheit und die nationalistische Unduldsamkeit des National Sozialismus. Da es ihm nicht gegeben war, seine Überzeugung zu verleugnen, wurde er vorzeitig, mit 66 Jahren, in den Ruhestand versetzt. Als dann die Katastrophe, die Vossler voraussah, da war, wurde er, nunmehr 73jährig, nochmals an die Spitze seiner Universität berufen, um diese durch die Macht seiner Persönlichkeit vor dem endgültigen Untergang zu bewahren.
Im Gegensatz zu anderen großen Gelehrten war Vossler auch ein Meister des Vortrags. Er besaß eine große Kunst der Formulierung, scheute auch gelegentlich nicht davor zurück, scheinbar disparate Elemente miteinander in Verbindung zu bringen, dadurch den Widerspruch herauszufordern, um dann in geschulter Dialektik seine Überzeugung um so deutlicher hervortreten zu lassen. Er wollte aber vor allem auch verstanden werden und hielt es daher auch durchaus für vereinbar mit der Stellung eines Gelehrten, wenn das Publikum nicht die nötige Sachkenntnis besitzen konnte, statt eines gelehrten Vortrages eine Causerie zu bringen. Das erklärt den ungewöhnlichen Anklang, den seine Vorträge in der ganzen Welt fanden.
Vossler hat zur Charakterisierung seines Freundes Croce die folgenden Worte geschrieben : ‘ Das hohe Beispiel dieser persönliehen Bereitschaft hat Croce ohne Prahlerei und kriegerische Gebärde sein Leben lang in der schlichtesten Form gegeben, in einer Tonart, die sein Gesamtwerk durchzieht und die ich als Heiterkeit bezeichnen möchte : Heiterkeit in dem doppelten Sinn von ‘serenitas’ und ‘alacritas’ (Aus der rom. Welt IV, 128). Er hat damit, ohne es zu wollen, den Grundcharakter seines eigenen Lebens beschrieben. Diese Serenitas, verbunden mit Alacritas, zieht sich durch alle seine Schriften hindurch, ob sie sich nun polemisch geben wie seine sprachtheoretischen Jugendschriften oder ob sie in die Dichtung der Einsamkeit der vergangenen Jahrhunderte zurückgehen. Auch die verstehende ‘ Ironie des Sokrates, die Vossler seinem Freunde zuschreibt, ist in seinem Wesen nicht zu verkennen. Die zahlreichen Ehrungen, die Vossler in der zweiten Hälfte seines Lebens zuteil wurden, nahm er denn auch mit der ihm eigenen Gelassenheit entgegen. Besondere Genugtuung aber empfand er, als ihm im Kriegsjahr 1943 die Universität Madrid in Anerkennung seiner Bedeutung für die Erhellung des spanischen Geisteslebens die stolzeste Auszeichnung verlieh, die einem Wissenschaftler zuteil werden kann, das Doktorat honoris causa.
Am 18. Mai 1949 ist Vossler aus dem Leben geschieden.
Source : Ernst Gamillscheg, ‘ Karl Vossler,’ K. Akademie der Wissenschaften, Vienna Almanach 99.263-277 (1949). By permission of the author.
1 Eine seiner ersten Schriften, 'Die philosophischen Grundlagen zum " siiBen neuen Stil " des Guido Guinicelli, Guido Cavalcanti und Dante Alighieri ', Heidelberg 1904, ist diesem seinem Lehrer gewidmet.
2 In seiner 1905 veroffentlichten Schrift ' Sprache als Schopfung und Entwicklung ' spricht er, nachdem er sich in Heidelberg niedergelassen hatte, von seiner aus vier Personen bestehenden italienischen Sprachinsel inmitten des deutschen Volksbodens.
3 Eine Studie über Tassos Aminta und die Hirtendichtung, 1906, abgedruckt in ‘ Aus der romanischen Welt Bd. 1, eröffnet später die lange Reihe seiner der italienischen Literatur gewidmeten Untersuchungen.
4 In einer Besprechung von Benedetto Croces Sprachphilosophie (Aus der romanischen Welt IV) schreibt Vossler : ' Dam kommt, daB Croce seinerseits nur selten und voriibergehend auf sprachwissenschaftliche Einzelfragen sich einlal3t, und daB er mit der ausubenden Linguistik keine engeren Beziehungen pflegt, wie dies etwa W. v. Humboldt tat.' Das gilt von Vossler selbst, aber nur im ersten Teil. Er zeigt in seinen sprachtheoretischen Studien eine reiche Belesenheit auch auf abgelegenen Gebieten. So hat er die Schriften des Erforschers des Spatlateins E. Lofstedt genau verfolgt, greift gelegentlich selbst zu Dialektuntersuchungen, trotz seiner zur Schau getragenen geringen Einschatzung der wissenschaftlichen Beschaftigung mit sprachlichen Problemen, die nicht in das Gebiet des Geisteswissenschaftlichen hinuberreichen.
5 Zuerst erschienen in Festschrift für Phil. August Becker, 1921, abgedruckt in ‘ Geist und Kultur in der Sprache ‘, Heidelberg 1925.
6 Das hat Vossler selbst ‘ Phil. Grundlagen ‘ etc. VII ausgesprochen : ‘ Wenn auch mir diese seine (d. i. E. Monacis) skeptische Art, an allen Orten noch Probleme zu wittern, einigermaßen zur Gewißheit wurde . . .’
7 Die romanischen Kulturen und der deutsche Geist.’ Mit einer Ein- führung von Benedetto Croce (nachgedruckt nach Critica 1925) und einem Nachwort von Hugo Friedrich, Stuttgart (1949), S. 74.
8 Voran ging eine kleinere Untersuchung, ' Tassos Aminta und die Hirtendichtung', 1906, abgedruckt in ' Aus der rornanischen Welt ' I.
9 1921 Dante als religioser Dichter ; 1921 Dante und die Sprache ; 1940 Dante lesen, heute, usf.
10 Aus der rornanischen Welt IV.
11 'Das heutige Italien.' Offentlicher Vortrag, Januar 31, 1923, Munchen : '. . . denn alles, was seit 1910 in Italien als Kunst hervortritt, bleibt . . . fur die ubrige Welt und wahrscheinlich fur die Italiener selbst belanglos oder geringfugig, wo nicht gar beschamend' ; und spater : ' Heute fahrt (Italien) irn Schlepptau des gallischen Panzerschiffes. Der Tag, an dem es dieses Seil zerschneidet, kann uns ein Zeichen sein, daB der Franzosc ein Leck hat ' . . . ' Der Fascisrnus lebt von der Gedankenwelt der Carbonari, der franzosischen Aufklarung, besonders Mazzinis '. ebd.
12 Die romanischen Kulturen, etc. S. 49.
13 ‘Deutsch-französischer Gedankenaustausch.' Aus der rom. Welt IV, 1936.
14 ‘ Südliche Romania‘, 1940, Vorwort.
15 Weitere Vortrage und Aufsatze aus dern Gebiet des spanischen Geisteslebens : Calderbn, 1931 ; Tirso de Molina, 1940 ; Lope de Vega und wir, 1936 ; Ein spanischer Totentanz aus dern Anfang des 17. Jhdts., 1939 ; Lektiire irn Don Quijote, 1940, samtlich abgedruckt in ' Aus der rorn. Welt '.
16 'Uber geistiges Leben in Sudamerika ' 1932 ; ' Heldensang und Nationalgefuhl in Argentinien ', 1938 ; ' Plauderei uber Cuba ', 1939.
17 'Eufrosina ', ein Werk des 16. Jhdts. von dem portugiesischen Hofmann Jorge Ferreira de Vasconcellos.
18 'Puristische und fragmentarische Kunstkritik ', 1933 ; ' uber gegenseitige Erhellung der Kunste ', 1935 ; etc.
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