“A Prague School Reader in Linguistics”
Aus der Vergleichung der Belastungs- und Kombinations - fáhigkeit der Phoneme in einigen europäischen Sprachen, die Professor Mathesius in seiner Abhandlung dargeboten hat, geht hervor, dafi der Vorrat der Phoneme, iiber den die einzelnen Sprachen verfiigen, ver schieden ausgeniitzt ist. Slawische Sprachen z. B. sind weniger ökonomisch als z. B. das Englische oder Französische. Das ist schon daraus ersichtlich, dafi in jenen Sprachen die Wortbedeutung sehr oft erst durch die Folge der zwei oder sogar drei oder mehr Silben (welche meistens allein keinen Sinn haben) gegeben ist, während in den zuletzt genann- ten Sprachen die Worte oft nur aus einer Silbe bestehen. 1 Da die meisten Worte im Englischen einsilbig sind, sind die Englisch- sprechenden gewöhnt, mit einzelnen Silben eine Bedeutung zu assoziieren. Die fremden mehrsilbigen Worte, welche in brei- teren Schichten des Volkes durchdringen, werden darum oft ge- kiirzt, z.B. choc (chocolate), pram (perambulator), flue (in- fluenza) usw. Diese Neigung des Englischen zur Einsilbigkeit, welche zu seinen charakteristischen Merkmalen gehört, hängt von der relativ grofien Tragfähigkeit (und im Vergleich mit ånderen germanischen Sprachen von der gröfieren Zahl) der Phoneme ab.
Die Kombinationen der Phoneme, welche in einer gegebenen Sprache als Worte fungieren, sind regelmäfiig mit verschiedenen Bedeutungen as soziiert, z.B. engl. hand, leaf, room, die dye, sea see, fair. Wenn die Bedeutungen eines Wortes durch Uber- gangsbedeutungen geknupft sind, so halt man dieselbe im Sprachbewufitsein als ein einziges „Wort”, z. B. hand, leaf, room, und man spricht iiber die Polysemie der Worte. Wenn aber die Bedeutungen der Phonemenkombination so ver schieden sind, dafi sie keine gemeinsamen Vor stellungen besitzen, so handelt es sich um die Homonymie, z. ?. engl. dai, si:, feg, ai. Zwischen der Bedeutung „sterben” und „färben”, „Meer” und „sehen”, „Auge” und „ich”, können keine Ùbergangsvorstellungen bestehen, und obgleich sie mit der Vorstellung derselben Phonemenreihe zusammen gebunden sind, bleiben sie im Sprach- bewufitsein verschiedene „Worte”. Es sei hier kurz bemerkt, dafi ein polysemantisches Wort in ein Homonymenpaar iibergehen kann, z. B. engl. to : too, born : borne; und umgekehrt, es ist nicht a priori ausgeschlossen, dafi ein Homonymenpaar durch sogenannte Volksetymologie zum polysemantischen Wort werden kann. Schon aus diesem Grunde mufi die synchronistische For- schung streng von der diachronistischen geschieden werden. Die Unklarheiten, welche in einigen Abhandlungen liber die Homonymie zu finden sind, werden eben durch die Verwechs!ung der beiden Standpunkte, der synchronistischen und der diachronistischen, verursacht. Wie in ånderen Sprachgebieten mufi auch hier die synchronistische Forschung zur Basis der diachronistischen dienen.
Die Homonymie hat ihren Ursprung entweder im Zusammen- ftufi (resp. Abfall) der Phoneme oder in der Wortentlehnung. Das engl. so sow, knight night, two to gehören zu dem ersten Typus, engl. fair, franz. ton, cechisch role sind erst durch die Entlehnung der gleichlautenden fremden Lehnworte homonymisch geworden. Die Homonyma der letzten Gruppe kann man hybrid nennen. In einigen Sprachen sind alle Homonyma hybrid, z. B. im Tiirkischen, wie Professor J. Rypka mir gutig mitgeteilt hat. Die Frage nach der Herkunft der Homonyma ist auch fiir die synchronistische Betrachtungsweise der Sprache nicht ohne Interesse, und man mufi die hybriden Homonyma, sofern die Lehnworte nicht als einheimische empfunden werden, von den iibrigen schei- den.
Von dem Ursprung der Homonyma abgesehen, kann man sie in zwei grofie Gruppen teilen. Erstens in solche, welche in allen assoziierten Formen homonymisch sind, z. B. franz. louer, engl. knight night, die dye; und zweitens in solche, we!che nicht in allen Formen desselben Wortes homonymisch bleiben, z. B. engl. minor miner, fair, lie (!ay oder lied im Präteritum). Die Homonyma der ersten Gruppe können voll ständige genannt werden, die der zweiten unvollständige Im ersten Falle kann die von dem Sprechenden gemeinte Bedeutung des Homonyms aus dem semasiologischen Zusammenhang erfaGt werden. Im zweiten Falle ist die von dem Sprechenden gemeinte Bedeutung nicht nur aus dem Zusammenhang, sondern regelmäGig auch aus der syn- taktischen Verbindung ersichtlich, z. B. engl. the rose : he rose, cechisch ziti trâvu (transgr. ) : ziti klidnym zivotem (nicht tran- sgr. ). Die vollständigen Homonyma gehören nur einer gram- matischen Wortkategorie, die unvollständigen dagegen können zu ver schiedenen Wortkategorien gehören. Wie Gilliéron aus dem Material der lebenden französischen Dialekte bewies, exis- tiert in der Sprachentwicklung die Neigung, die von mir als voll- ständig bezeichneten Homonyma, sofern sie zu derselben Ge- dankensphäre gehören, durch synonymische Ausdriicke zu er set- zen. Der statischen Linguistik bleibt die Aufgabe zu untersuchen, was fur eine Rolle die Homonymie auf dem Gebiete der Stilistik einer gegebenen Sprache spielt und durch welche Mittel sie in einzelnen Wortkombinationen im Satze vermieden wird.
Die relativ gröGere oder kleinere Zahl der Homonyma in verschiedenen Sprachen berechtigt uns zu schliefien, dafi ein Wortindividuum eine relativ verschiedene semasiologische Selb- ständigkeit im Satze hat. Im Englischen z. B. stiitzt sich die Bedeutung einer Phonemenfolge, welche ein Wort ausmacht, auf die ånderen Glieder desselben Satzes fester als z. B. im Cechischen, in welchem es schon in der isolierten Stellung relativ be- stimmt ist. Der psychologische Verlauf des Verstehens ist also in den Sprachen, welche man als analytische und synthetische bezeichnet, verschieden. Der Englischsprechende ist viel mehr als ein Cechischsprechender geneigt, dieselbe Lautkombination je nach dem Wortzusammenhang im Satze mit verschiedenen Bedeutungen zu assoziieren, und die Gefahr der Homonymie war nie ein Hindernis, ein gleichlautendes fremdes Wort zu entleh- nen. Im Cechischen ist in dieser Hinsicht merkwurdig, daB in solchen Lehnworten (z. B. kólon, Gen. kóla; láze) die Länge von o, welche ihre phonologische Funktion schon im Altböhmischen verloren hat, zum Notmittel wird, die Lehnworte von den gleich- lautenden Worten kolo Gen. kola, loze zu scheiden.
Es ist klar, daG je fester ein Bedeutungselement der Sprache in irgendeine Kombination eingegliedert ist, desto mehr Bedeutungen es besitzen kann. Die Suffixe, welche nie selbständig fungieren können, sind regelmäGig homonymisch : z. B. das Suffix -a im Cechischen kann als ein Exponent des Gen. Sg. der o- Stämme, Nom. Sg. der a-Stämme, Nom. Akk. Pl. der neutralen o-Stämme und Nom. Sg. M. des Part. Praes. benutzt werden, weil die Verbindung mit dem Stamme geniigt, die gewunschte Beziehung unzweideutig auszudriicken. Von dem Standpunkte des Wortes aus gibt es freilich in diesem und in ähnlichen Fallen keine Homonymie.
Wir haben bisher von der lexikalischen Homonymie gesprochen. Es existiert aber auch eine morphologische Homonymie. Ich meine solche Falle wie kiqz, l;>:dz im Englischen, kosti im Cechischen, wo die Endung auch in der Verbindung mit dem Stamme mehrdeutig bleibt. Das richtige Ver stehen wird auch hier meistens durch den syntaktischen Zusammenhang ver- mittelt. Im Englischen zeigt die richtige Bedeutung des Suffixes oft nur die Wortfolge an, welche in den slawischen Sprachen nur eine geringe Rolle spielt (vergi, o teu v dum „das Haus des Va- ters”; dum otcuv „das Haus der Väter”. . . Auch bei der morpholo- gischen Homonymie mufi man schlieflen, dafi, je fester der Zusammenhang der Worte im Satze ist, desto mehr die Homonymie in die morphologische Struktur der Sprache eingreift oder ein- greifen kann. 2
Die Homonymie scheint auch ein bedeutender Faktor in der Entwicklung des phonologischen Systems einer Sprache zu sein. Der die Homonymie verursachende Zusammenflufi oder Abfall von Phonemen, fiir welchen die Phonologie im Lautsysteme Er- klärung sucht, mufi mit der prophylaktischen Tendenz, die Ent- stehung des Ubermafies von Homonymen zu verhindern, mitbe- dingt sein. Die Eigenschaft der Phoneme, einzelne Worte von- einander zu unter scheiden, ist in der Phonemvorstellung gegeben, und je gröfier die Gefahr ist, die verschiedenen Worte durch den Abfall oder Zusammenflufi von Phonemen in Homonyma zu ver- wandeln, desto schwieriger dringen solche Phonemenveränderun- gen wegen des Drucks der Reaktionen durch. So konnte im Ahd. die interdentale Frikative gleich in die korrespondierende Explosive iibergehen, weil vorher in der Sprache kein d vorhanden war, während im Altsächsischen, wo d erhalten blieb, der Ubergang von p > d viel später eingetreten ist. Wenn die den Phonemzu- sammenflufi hervorbringende Kraft sehr stark ist, so findet die Verschiebung einer ganzen Phonemenreihe statt, damit die dro- hende Homonymie verhindert werde. Die Konsonantenverschie- bungen im Altgermanischen und die sog. grofie Vokalverschiebung im Neuenglischen wurden wahrscheinlich durch diese Tendenz verursacht. Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dafi die Stärke der Reaktion des Systems gegen den Abfall oder Zusammenflufi der Phoneme in verschiedenen Sprachen von dem Festigkeits- grade der Bedeutungselemente und der Worte im Satzzusammen- hang abhängig ist.
Notes
1. Es ist vielleicht kein Zufall, dafi im Cechischen sich die offçnen Silben von den einsilbigen Worten im Lautbestand mehr unterscheiden als z. B. im Englischen, in welchem die- selbe einsilbige Kombination bald ein Wort, bald blofi eine Silbe ausmachen kann (z. B. tea, see, sow). — Die einsilbigen vokal- auslautenden Worte im Cechischen sind, sofern sie nicht Prä- positionen oder andere „kleine” Worte sind, durch eine Konsonantenkombination charakterisiert, z. B. rty, mzda, dne, lze u. a.
2. Die Frage, ob die lexikalische und morphologische Homonymie durch verschiedene Festigkeitsgrade der Worte im Satze ermöglicht ist, oder umgekehrt, ob sie selbst die relativ verschiedene Festigkeit verursacht, mufi hier dahingestellt sein. Beide Erscheinungen sind wahrscheinlich Merkmale einer ein- zigen allgemeineren Tendenz der Sprachen.
*From Travaux du Cercle Linguistique de Prague, IV: 152- 156 (1931).
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