“WILHELM MEYER-LÜBKE (1861-1936)” in “Portraits of Linguists: A Biographical Source Book for the History of Western Linguistics, 1746-1963, V. 2”
WILHELM MEYER-LÜBKE (1861-1936)
Wilhelm Meyer-Lübke
Alwin Kuhn
In der Entwicklung der Wissenschaft wechseln Zeiten stürmischen Vorwäi tsschreitens, siegreichen Eindringens in unerforschtes Neuland ab mit solchem, in denen der Schritt verhalten wird, Sammlung und Sichtung der eingebrachten Ernte zu Uberschau und Zusammenfassung zwingt. Nach den Jahrzehnten zahlreicher Entdeckungen und Fortschritte seit der Begründung der Sprachwissenschaft während der Romantik, insbesondere der Romanistik durch Friedrich Diez schien im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts der Augenblick gekommen, der nach einer solchen Zusammenschau der Ergebnisse, nach einer Synthese des ersten halben Jahrhunderts der romanischen Sprachwissenschaft verlangte.
Zum Glück für sie kam der Mann, der es wagen konnte, sich einer solch gewaltigen Aufgabe zu unterziehen, aus der gerade in jener Zeit besonders wichtige und grundsätzliche Fortschritte machenden Indogermanistik. Der bei Schweizer-Sidler in Zürich und Johannes Schmidt in Berlin, erst in zweiter Linie bei Adolf Tobler geschulte 22jährige Wilhelm Meyer hatte sich mit seiner Dissertation ‘ Die Schicksale des lateinischen Neutrums im Romanischen ’ in der Tat als so überragender Kenner nicht nur der romanischen Idiome, sondern aller idg. Sprachgruppen erwiesen, daß er, im nächsten Jahre (1884) sich in Zürich habilitierend, 1885 an der École des Hautes-Études auf Wunsch von Gaston Paris diesen in seiner ÜbungsVorlesung über Vulgärlatein als der bessere Kenner vertretend, schon im Frühjahr 1887 sechsundzwanzigjährig nach Jena berufen wurde, um es bereits drei Jahre später mit der Stätte seines fruchtbarsten Wirkens und Schaffens und seines größten und nachhaltigsten Ruhmes, mit Wien zu vertauschen. Hier erschienen im gleichen Jahr 1890 — also alles in seinem dritten Lebensjahrzehnt — die bis heute einzige historische Grammatik des Italienischen und der erste seiner ganz großen Würfe, die romanische Lautlehre. Form und Methode hierzu sind schon in seiner Diss, angelegt, jedoch ist jetzt die Forschung auf alle lautlichen Probleme der Gesamtromania ausgedehnt.
Denn wenn er in jenem Erstlingswerk eine Problemgruppe, eben die ‘ schicksale des idg. neutrums in den einzelsprachen ‘ vom Sanskrit und Iranischen über griechische und germanische Idiome, das Litauische und die slavischen Sprachen bis zum Keltischen und Latein verfolgt, an das er dann eine eingehende Behandlung der ganzen Romania anschließt, so huldigt er schon mit dieser Anordnung einem Grundsatz, dem er sein ganzes langes Gelehrtenleben hindurch treu geblieben ist : ‘ Einen punkt der romanischen grammatik durch das lateinische hindurch bis zur ursprache und von da in den übrigen gliedern unseres sprachstammes zu verfolgen, kann nur von vorteil und interesse sein ‘ (S. 19). Also immer mindestens vom Latein, womöglich vom Altlatein ausgehend, wandelt er jedes Einzelproblem, auch späterhin, in ein gemeinromanisches, ja als Indogermanisten und Sprachvergleicher wird ihm alle romanistische Arbeit zu allgemein sprachwissenschaftlicher. Im Anschluß an die jüngere Richtung der Sprachvergleicher, d. h. der indogermanischen um Joh. Schmidt, ist er gegen die Sprachphilosophie Jacob Grimms, ‘ jene mehr speculative methode , stellt vielmehr von vornherein ‘ die form in den Vordergrund ‘ : ‘ Diejenigen factoren, welche J. Grimm ... als hauptsächlichste dargestellt hat, die psychologischen, kommen erst in zweiter Linie in betracht’ (S. 5). Dies also ist der andere Grundsatz seines Schaffens : vom Material, von den Tatsachen ausgehen, sie möglichst gar nicht interpretieren, sondern sie selbst sprechen lassen, sich keiner Hypothese anvertrauen, sachlich und leidenschaftslos hinter dem Material zurücktreten als selbstloser Diener der reinen Wissenschaft.
Auf diesem von ihm mit der Abhandlung über das idg. Neutrum, mit der 1885-1886 nebenbei verfaßten, 1889 veröffentlichten Arbeit zur historischen Grammatik des Neugriechischen, den italischen, albanesischen, lateinischen und romanischen Beiträgen zu Gröbers Grundriß, mit der italienischen Grammatik und der romanischen Lautlehre beschrittenen Wege, eben dem der historisch durchleuchteten großen Synthese und Bändigung weitschichtiger Sprach- massen, stürmt der junge Gelehrte kühnen Schrittes voran, vollendet noch vor der Jahrhundertwende Formenlehre und Syntax der Romanischen Grammatik und schenkt uns in der Spanne von 1901-1911 neben der Entdeckung des Logudoresischen als eigener Sprache (1902), neben den zu weiterer Nachfolge anregenden romanischen Namenstudien (1904) die schönsten Früchte dieser seiner erstaunlichen Schaffenskraft und die reifsten und originalsten Werke seines Geistes, die auf Generationen hinaus zu Standard- werken unserer Wissenschaft wurden : Die ‘ Einführung in die romanische Sprachwissenschaft ‘ 1901, den ersten Band zur ‘ Historisehen Grammatik der französischen Sprache ‘ 1908 und den Beginn des ‘Romanischen Etymologischen Wörterbuchs’ 1911, in jenem fünften Lebensjahrzehnt also, das ihn als Rector Magnificus 1906- 1907 auch auf dem Gipfel seiner äußeren akademischen Ehren sehen sollte.
Die historische frz. Lautlehre, der erste Versuch einer relativen Chronologie der frz. Lauterscheinungen überhaupt, und die Ein- führung sind zweifellos die anregendsten, fast aufregenden, jedenfalls mitreißendsten Bücher aus seiner sonst so spröden Feder. Man liest sie im Zusammenhang, liest sie sogar mit Genuß. Sie fordern dafür den Einsatz schärfster Konzentration. Denn ihr Stil ist so knapp und gedrungen, daß er oft genug mehr andeutet und schließen läßt als ausspricht und selbst folgert. Daraufhat schon der junge Doktorand selbst hingewiesen ; von Ascoli, den er stets sehr verehrte, glaubt er sich diese Knappheit des Ausdrucks überkommen. Sie bleibt ihm eigen bis zuletzt und läßt die Lektüre — wie das Hören seiner Vorlesungen — zu einer anstrengenden, aber eben anregenden und erzieherischen Arbeit werden, indem sie an den Aufnehmenden große Anforderungen stellt und mehr aus ihm ans Licht hebt, als dieser selbst in sich vermutet. So ist die Einführung keine solche für Anfänger, vielmehr eine Systematik der romanischen Sprachwissenschaft, eine Zusammenfassung und kritische wie wissenschafts- pädagogische Durchleuchtung all der Probleme, die sich ihm beim Durchpflügen der gesamten Romania für seine Romanische Grammatik als schwer lösbar ergeben hatten, als Ansatzpunkte also, von denen aus, wie er glaubt, die Wissenschaft vorwärts getrieben werden muß. Auch hier interessieren ihn als den ‘ Paläontologen ‘ (3. Aufl. S. 64) in erster Linie die vorromanischen und vorliterarischen Sprachstadien, und es ist nur folgerichtig, wenn er zu deren Erhellung der Namenforschung einen breiten Raum gewährt. Desgleichen betont er schon hier (S. 87 f.) die noch dreieinhalb Jahrzehnte später (Archiv 166) in ihrer Wichtigkeit demonstrierte Polygenese, die Möglichkeit, daß gleiche sprachliche Resultate aus verschiedenen Gründen, zu verschiedener Zeit, auf verschiedenem Wege und unabhängig voneinander sich ergeben können. Lenkt er sein Augenmerk auch auf die so wichtigen Sprachübertragungen (S. 88 f., 91), so finden doch, entsprechend seinem Grundsatz, nur an Belegtes anzuknüpfen und nur streng Beweisbares anzuerkennen, Substrattheorien dabei keine Gnade vor seinem kritischen Sinn. Dies führt zu Debatten, in denen er sein untrügliches Erinnerungsvermögen und die ganze Weite seiner glänzenden Dokumentierung spielen läßt ; und hier in diesen Dis- kussionen, sowohl der Einführung wie der frz. Grammatik als auch noch seiner letzten Arbeiten (der beschränkte Raum im REW zwingt ja zu apodiktischer Prägnanz) ist er bei aller Objektivität am persönlichsten. Sagt er doch selbst einmal : ‘. . . in jedem Fall abmessen, ob ein Zusammenhang besteht oder nicht. Zweifellos liegt darin etwas Subjektives, weil sehr oft die Bewertung der in Betracht kommenden Momente im Ermessen des Einzelnen liegt ; der Eine hält für wesentlich, was dem Anderen nebensächlich scheint und umgekehrt’ (Archiv 166, 68).
Meyer-Lübke hat hier seinen ursprünglich strengen Standpunkt der voraussetzungslosen Betrachtung des Tatsachenmaterials zwar nicht aufgegeben, aber doch aus der Sphäre der abstrakten Normen herabgeholt in den Umkreis menschlich-persönlicher und damit subjektiver Beurteilung und Bewertung. Und da seine Axiome vom unbedingten Primat der Form gegenüber sprachphilosophischer Interpretation, vom Primat des Lateins, ja selbst des Ignoramus vor dem Substrat u. a. unverrückbar im Grunde dieser Bewertung ruhen, fällt dem Betrachter immer wieder auf, wie er das, oft von ihm selbst erst mit Umsicht herbeigeschaffte, Gegenmaterial zerpflückt, es mit der Sonde einer zergliedernden Kritik angreift, dabei verblüffende — in ihrer Einfachheit oder aber Abgelegenheit ver- blüffende — Argumente sich dienstbar zu machen weiß und, sind ihm weitere nicht zur Hand, mitunter aus dem Gefühl für die Zusammenhänge heraus den einen oder andern Beleg mit einem freimütigen ‘ ich weiß es nicht ‘ auf sich beruhen läßt oder als nicht beweiskräftig ausscheidet, so ihre erst imponierende Kette vielfältig sprengt und schließlich die übrig bleibenden Glieder als zu wenig zahlreich, um beweisend zu sein, für außer Betracht erklärt. Nicht daß dieser Feind aller wissenschaftlichen Dogmatik selbst der von ihm an andern wiederholt gerügten vorgefaßten Meinung verfiele, aber seine ganze vorhin angedeutete Grundhaltung läßt seinen Geist schon bei der ersten Schau über das vor ihm ausgebreitete Material dieses formend erfassen, gruppierend ordnen und nun unwillkürlich in der Richtung jenes geschauten Zieles beurteilen. Er macht sich dadurch den Weg nicht leicht, ja die Erreichung eines Zieles oft unmöglich ; und aus dem in seinem jugendlichen Schwung und in seiner umfassenden Weite großartigen Synthetiker der Lautlehre ist im hohen Alter, in den vorbereitenden Aufsätzen zu deren Neubearbeitung schließüch der eingehende Zergliederer und mit den noch immer aus der ganzen Romania und darüber hinaus dem Arabischen, dem Keltischen, dem Baskischen herbeigeschafften Argumenten bohrende Zergrübler geworden, der sich das große Endergebnis versagt und versagen will zu Gunsten zahlreicher, oft verwirrend zahlreicher Einzelresultate, die ihm aus seiner stets historischen Blickrichtung zuströmen, dabei aber wie miteinander unverknüpfte und unverknüpf bare Wege aus den vergangenen Epochen in die sprachliche Gegenwart hereinreichen.
Hier sind wir schließlich auch an dem Punkt, von dem aus der große Sprachhistoriker die zwischen These und Antithese, zwischen Kausalitätsglauben und Bejahung freien Schöpfertums weiterSprachwissenschaft nicht mehr geführt oder begleitet hat, sie wohl gar nicht hat weiter begleiten wollen. Zwar hat er die aufblühende Sprachgeographie in den Dienst seiner historisch- vergleichenden Arbeiten gestellt, nicht aber den lebenden Dialekten in einer Einzelstudie sein eingehendes Augenmerk zugewandt ; wohl wird die Wort-Sachforschung von ihm begrüßt, er mutet seiner an sich schon ungeheuren Arbeitsleistung noch die Mitherausgabe der Zeitschrift Wörter und Sachen zu, doch ruht in seinen Arbeiten auch dieser Richtung der Schwerpunkt ausgesprochen auf der Laut- und Wortforschung ; zwar steht er der kulturpsychologischen Interpretation sprachlicher Wandlungen im Sinne Vosslers im ganzen sympathisch gegenüber und räumt geschichtlichen und kulturellen Vorgängen als dem Hintergrund sprachlicher Tatsachen zu deren Erklärung — bes. etwa in seinem Buch über das Katalanische — weitgehende Geltung ein, und doch hat das Sprachlich-Formale stets den Vorrang. Stoßen wir doch hier auf seine schon zu Beginn der Dissertation geäußerte Skepsis gegen die ‘ innere Sprachform ‘, gegen ‘jene mehr speculative methode , die Sprachphilosophie überhaupt.
Ihm ist die Sprache eine fortlaufende Kette organisch-physiologischer (es hieß ursprünglich auch ‘ sprachmechanischer ‘) Veränderungen. So sieht er sie auch stets in unendlich vielen Längsschnitten, selten oder nie als ein System von gleichzeitigen Erscheinungen, als ein augenblickliches Ganzes mit seinen Gliedern ; so müssen ihn auch die gegenseitige Bedingtheit ihrer Teile, die Spannungserscheinungen in diesem System, die immer neue Glieder in Mitleidenschaft ziehen, weitgehend unberührt lassen. Wohl interessiert ihn die semantische Fracht eines Wortes, aber die Fäden, die es an seine Nachbarschaft ketten, der semantische Raum, kurz Saussure und Gilliéron mit ihrer verbreiteten und fruchtbaren Nachfolge sprechen ihn nicht oder kaum an ; ebensowenig wie die Überwindung der Starrheit des einen und der mechanistischen Betrachtungsweise des anderen durch Wartburg, der 1931, beide verbindend, der emotiven Seite des Sprachlebens zu ihrem Recht verhilft und ihr neben der kausalen Bestimmtheit die schöpferische Freiheit wiedergibt. Fragen zur theoretischen Grundlegung der Sprachwissenschaft lagen für Meyer-Lübke ja von jeher außerhalb seiner eigentlichen Arbeitsgebiete ; so setzte sich schon der jüngere Sprachhistoriker nicht eingehend mit dem Versuch Wundts auseinander, dem Geheimnis der Sprache auf dem Wege der Psychologie nahe zu kommen, und beteiligte sich in der Folge auch nicht an der Bekämpfung und Überwindung dieses Psychologismus durch Husserl und an den Bemühungen der jüngeren Sprachphilosophen, wie Trier, Jolles, Ipsen, Weisgerber.
In diesem Sinn hat man mit Recht gesagt, seine ganze wissenschaftliche Persönlichkeit liege schon in der Dissertation des Zweiundzwanzigjährigen ausgebreitet. Den dort abgesteckten Kreis, d. h. die historisch-vergleichende Arbeitsweise, hat er mit einzigartiger Intensität, hingebendem Schaffensdrang und seinem ganz überragenden Können ausgefüllt, sachlich um neue Gebiete (bes. sard, rum.) erweitert, methodisch bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit ausgebaut und verfeinert und mit den von ihm selbst darin gewaltig vermehrten Kenntnissen seiner Zeit hundertfältig Frucht tragen lassen. Doch ist er nie aus dem Kreis hinausgeschritten. Ein Versuch in dieser Hinsicht, eine ganze Sprachcharakteristik zu geben, sein in verschiedener Richtung anregendes Buch über das Katalanische,1 hat ihn bald zurückkehren lassen. Denn seine letzten Arbeiten, die vorbereitenden Untersuchungen für eine Neufassung der romanischen Lautlehre auf einer durch die Erkenntnisse von vier Jahrzehnten romanischer Forschung erweiterten Grundlage zeigen ihn von ‘ gleicher Methode und gleicher Stoßkraft wie je ‘.2 Die gleiche Methode scheint uns hier kennzeichnend, denn sie sagt uns, wo Meyer-Lübke bis zuletzt gestanden hat, und es ist wohl ein pietätvoller Irrtum, die Gründe seiner menschlichen und wissenschaftlichen Einsamkeit zu seinem 75. Geburtstag mit den Worten zu formulieren, ‘ die Welt hatte den großen Meister vergessen ‘.3 Fast will es uns umgekehrt dünken. Jedenfalls ist hier recht aufschlußreich, wie Meyer-Lübke selbst Weg und Stand der Romanistik gegen Ende seines Lebens beurteilt. So spricht er in seiner Zusammenfassung im Festbande für Schmidt-Ott4 eingehend von der Blütezeit der romanischen Philologie und Linguistik bis um die Jahrhundertwende, um dann nur noch die außerhalb Deutschlands aufkeimende Dialektforschung, die Sprachatlanten, die Wort-Sachforschung zu erwähnen und den Erfolg der idealistischen Philologie als einer voreingenommen an die Dinge herangehenden Methode als recht gering zu bezeichnen. Danach sieht er nur mehr Einzelleistungen und -versuche in den verschiedenen, wissenschaftlich selbständig gewordenen Ländern der Romania. All das Neue, was in diesem Jahrhundert aus den gerade noch erwähnten Ansätzen emporwächst, die kraftvoll ausgebaute neuere Sprachgeographie, die verfeinerten Methoden der Atlasforschung, das Eindringen der Semantik in die emotive Seite der Sprache, die Beziehungen zur Sprachphilosophie und das aus dieser Verbindung möglich gewordene Vorstoßen in neue Ebenen des Sprachlebens, all dem mißt er keine weitertreibende Bedeutung bei. Es scheint ihm zu wenig gesichert, um feste, bleibende Resultate geben zu können.
Vielmehr dringt er auf seinem ureigensten Gebiet immer weiter in das von ihm und anderen rüstigen Händen geförderte Sprach- material ein, legt die Sonde immer tiefer, immer skeptischer an, will die Probleme in immer klarerer Fassung ans Licht heben — und die andern, mit solch glänzendem Rüstzeug versehen, in wissen-shaftliches Neuland ziehen lassen. Da zahlreiche und namhafte Schüler die neuen Methoden aufgriffen, ausbauten und vorwärts- trieben, konnte der Meister es auf sich nehmen, mit anscheinend enger Skepsis, in Wahrheit mit weiser Beschränkung auf seinem Posten zu verharren. Ja er mußte es wohl sogar tun, wollte er die von ihm selbst einst abgeschlossene Synthese unserer Wissenschaft auf den heutigen Stand der Kenntnisse bringen, wollte er nach einem intensiven Studium von Einzelfragen, nach Erforschen einzelner Mundarten oder Dialektgruppen durch zahlreiche jüngere Gelehrte, nach einem Schürfen, Sammeln und Ernten vieler während mehrerer Jahrzehnte eine zeitgemäße Zusammenfassung, eine neue, vertiefte Synthese schaffen. Sah er doch, daß die jüngere Generation anderen, neuen Ufern zutrieb ! Er begann denn mit der gewaltigen Arbeit einer Neuausgabe des REW, die zu vollenden ihm noch vergönnt war. Mitten in den vorbereitenden, weit ausladenden Einzelstudien zur Erneuerung der ‘ Roman. Lautlehre ‘ kam das so überaus arbeitsreiche und fruchtbare Gelehrtenleben zu seinem äußeren Abschluß.
Doch in seinen Arbeiten, seiner unerbittlich strengen und selbstlosen Methode wirkt er weiter, wirkt fort in seinen Anregungen, die er zahllos in Wort und Schrift gegeben hat. Es waren wohl seit den 80er Jahren um Gaston Paris die glanzvollsten Jahrzehnte der Romanistik, als Meyer-Lübke in Wien neben seinem verehrten Vorbild Mussafia, später neben Ph. Α. Becker eine ungemein große und in Richtung der Begabung wie Temperament reich abgestufte Schar von jungen Romanisten um sich sammelte und für die schwere Aufgabe, selbst einst Forscher und Künder seiner Wissenschaft zu sein, vorbereitete. Ihre begeisterten und dankbaren Zeugnisse bestätigen uns das. Der innere Schwung seiner Persönlichkeit, der sich mehr durch selbstlose Hingabe an das eben behandelte Problem, mehr durch gänzliches Aufgehen in der vorliegenden Aufgabe denn durch hinreißende Beredsamkeit und feierliches Pathos kundtat, nahm die Hörer voll in Anspruch, und sein Hinführen zu den Problemen, seine Erziehung zu selbständigem Forschen, seine Forderung nach intensivster Mitarbeit der Hörer band die regsamen Geister nur um so fester an ihn. Und noch während seiner späteren Bonner Zeit, als es einsamer um den großen Gelehrten geworden war und ein unsteter Wandertrieb ihn überkommen hatte, konnten wir selbst in seinen Vorlesungen diese reine Hingabe an die Wissenschaft und den heiligen Ernst seines Bemühens spüren, die im Verein mit seiner ans Übermenschliche grenzenden Arbeitskraft, seinem nie er- lahmenden kritischen Sinn für die sprachlichen Tatsachen und seiner erstaunlichen Organisationsgabe Meyer-Lübke zu einer so einmaligen Erscheinung in der Romanistik machen.
Source: Alwin Kuhn, ‘Wilhelm Meyer-Lübke (30.1.1861-4.10.1936),’ Zeitschrift fr romanische Philologie 57.778 784 (1937). By permission of the Max Niemeyer Verlag, Tübingen, Germany, and the author.
1 Zu sagen ‘ Aus dieser Arbeit kann man ersehen, daß das Katal. nur ein prov. Dialekt ist’ (ZfnU 36, 32) scheint uns eine unzulässige Vereinfachung des Problems und der dem Buche folgenden Diskussion.
2 ZrP 56, 104.
3 ZfS 60, 395.
4 Aus 50 Jahren deutscher Wissenschaft, hrsg. von G. Abb, Berlin 1930, S. 232-240.
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