“WILHELM STREITBERG (1864-1925)” in “Portraits of Linguists: A Biographical Source Book for the History of Western Linguistics, 1746-1963, V. 2”
WILHELM STREITBERG (1864-1925)
Wilhelm Streitberg
Walter Porzig
Der Verlust, den die deutsche Sprachwissenschaft durch den Tod Wilhelm Streitbergs erlitten hat, wird noch lange spürbar sein. Wenn ihm auch sein Gesundheitszustand in den letzten Jahren größere Arbeiten unmöglich machte, so hat er doch bis zu seinem letzten Tage die Fäden der sprachwissenschaftlichen Organisationen in der Hand behalten, deren Aufbau in allem Wesentlichen sein Werk gewesen ist. Wir haben nicht nur zu beklagen, daß die Geschichte der indogermanischen Sprachwissenschaft ungeschrieben, die Neubearbeitung der Urgermanischen Grammatik unvollendet geblieben ist, wir verlieren auch den Führer und Berater bei Sprachwissenschaftliehen Unternehmungen größeren Ausmaßes, wo die Vereinzelung der Geister durch Einfügung in den Rahmen des Ganzen aufgehoben werden muß. Dies geht die Welt der sachlichen Wissenschaft an — auszusprechen, was Schüler und Freunde an Wilhelm Streitberg verloren haben, ist die Tribüne der Öffentlichkeit nicht der Ort.
Wilhelm August Streitberg wurde am 23. Februar 1864 in Rüdesheim als Sohn des Amtsgerichtsrats Gustav Streitberg geboren. Seine Jugend ist nicht leicht gewesen. Seit seinem vierten Lebensjahre hatte er unter einer bösartigen Entzündung des Fußgelenks zu leiden, die ihn jahrelang ans Bett fesselte, bis in seine Studienzeit hinein immer wiederholte Operationen notwendig machte, und schließlich auch nach vollständiger Heilung einen dauernden Schaden zurückließ. Trotz all dieser Hemmungen war es möglich gewesen, ihn zum Besuche des humanistischen Gymnasiums in Wiesbaden vorzubereiten, an dem er Ostern 1884 das Reifezeugnis erwarb. Sein Universitäts- Studium begann er an der Akademie in Münster, mußte es jedoch schon im Winter 1884/5 wegen seines Leidens wieder unterbrechen. Nach einem weiteren Semester in Münster (Sommer 1885) ging er nach Leipzig, und dort blieb er bis zu seiner Promotion im Juli 1888. Das Verzeichnis der Vorlesungen, die er in Münster und Leipzig gehört hat, zeigt, daß er kein ‘ Fach ‘ studierte. Was immer es an Anregendem auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften gab, zog ihn an. Niemals fehlt Philosophie, dazu die Philologien des abendländischen Kulturkreises : Deutsch, Englisch, Romanisch. Immer deutlicher allerdings zeichnet sich die Vorliebe für die Sprachwissenschaft ab, für die Jacobi in Münster den Grund gelegt hatte. In Leipzig fand er dann in Windisch den Führer durch die Dickichte des altindischen und des Keltischen und empfing die ersten Ein- drücke von Wundts Völkerpsychologie. Die tiefsten und entscheidenden Anregungen gaben ihm aber Brugmann und vor allem August Leskien. Es war ja erst wenige Jahre her, seit sich in diesem Kreise eine entscheidende Umgestaltung der Sprachwissenschaft vollzogen hatte. Noch war die frische Begeisterung in allen Gemütern, mit der man an die Eroberung neuer Gebiete gegangen war. Nicht neues Material — eine neue Methode hatte diesen Frühling in die Sprachwissenschaft gebracht. Mit der Forderung der eindeutigen Zuordnung aller Erscheinungen der Sprachen zueinander ging man an das Gesamtgebiet heran und fand, daß in dieser Richtung noch alles zu tun war. In diese Bewegung also trat der junge Streitberg ein. Zunächst beschäftigten ihn, wie es damals üblich war, Fragen der Lautlehre, speziell des Ablauts ; seine Dissertation ist der Untersuchung stammabstufender Nominalstämme im Germanischen gewidmet. Danach aber wandte er sich dem von Delbrück erschlossenen Gebiet der indogermanischen Syntax zu. Hier fehlten ja zunächst die sicheren Kriterien, die die Junggrammatiker für die Laut- und Formenlehre aufgestellt hatten. Es war also ein Wagnis, daß Streitberg gleich in einer seiner ersten Arbeiten die Frage der Aktionsarten des Verbums auf germanischem Gebiet anschnitt. Die Frage ging nicht nur den Germanisten an. Waren die Aktionsarten, deren Begriff aus der slavischen Grammatik stammte, fürs Ger- manische nachgewiesen, dann mußte die ganze indogermanische Verballehre auf diesem Begriff aufgebaut werden. Aber der Nachweis einer bestimmten syntaktischen Kategorie hat seine Schwierigkeiten. Bedeutungen lassen sich nicht beweisen, sie lassen sich nur aufzeigen. Wenn dem Hörer oder Leser das Organ für eine bestimmte Kategorie fehlt, ist alle Kunst der Darstellung umsonst. Streitberg gelang die Lösung des schwierigen Problems dadurch, daß er den Grundsatz aufstellte und streng durchführte, daß verschiedene Aktionsarten nur dort anzunehmen seien, wo auch eine formale Verschiedenheit der Verbalbildung vorliege. Auf diesem Wege wies er an einer überzeugenden Reihe von Belegen aus der gotischen Bibel die perfektivierende Kraft des Präfixes ga- im Gotischen nach.
Mit dieser Arbeit habilitierte sich Streitberg im Juli 1889 in Leipzig. Im Winter vorher war er noch in Berlin gewesen und hatte dort vor allem Johannes Schmidt und Erich Schmidt gehört. Daß er auch sonst nicht einseitig der formalen Sprachwissenschaft anhing, zeigte das Thema seiner Probevorlesung ‘ Die literarischen Wech- selbeziehungen zwischen Kelten und Germanen ‘.
Unmittelbar nach seiner Habilitation erhielt der Fünfundzwanzigjährige die Aufforderung, an einer neu zu gründenden Universität in Freiburg in der Schweiz, die vorwiegend katholischen Charakter tragen sollte, ein Ordinariat für indogermanische Sprachwissenschaft zu übernehmen. Nach einigem Zögern sagte er zu, und die Universität wurde am 24. Oktober 1889 feierlich eröffnet. Die Besoldung betrug die für jene Zeit stattliche Summe von 6000 Fr. Neben Formenlehre des Griechischen kündigte er schon im ersten Semester an ‘ Die indogermanische Sprachwissenschaft, ihre Geschichte, Methoden und Probleme ein Gegenstand, der bis zuletzt noch im Mittelpunkt seines Interesses stand. Von Freiburg aus beteiligte er sich, trotzdem er größere eigene Arbeiten vorbereitete, lebhaft an wissenschaftlichen Veranstaltungen. Auf den beiden Philologenkongressen München 1891 und Wien 1893 hielt er Vorträge, die sich beide mit Ablautfragen beschäftigten. Der eine davon, ‘ Die Entstehung der Dehnstufe ‘, erschien 1894 sehr stark erweitert als selbständige Schrift. Die Aufgabe war, die Erscheinung der Dehnstufe ins System des Ablauts einzuordnen. Dies geschah durch die Annahme, daß dehnstufige Vokale sozusagen das Ergebnis einer Ersatzdehnung für eine schon im Urindogermanischen ausgefallene Silbe seien. — Der Sommer 1893 brachte eine Einladung zum Kongreß der American Philological Association nach Chicago. Im Verein mit Osthoff benutzte Streitberg diese Gelegenheit, um einen Teil der nordöstlichen Vereinigten Staaten, namentlich die NiagaraFälle und den St. Lorenz-Strom, kennen zu lernen.
Inzwischen hatte die Leipziger Schule sich ein Publikationsorgan geschaffen in den Indogermanischen Forschungen (1891). Brugmann und Streitberg waren die Herausgeber, und nach Brugmanns Tode hat Streitberg allein die Zeitschrift durch die Klippen der Nachkriegszeit hindurchgesteuert. In den guten Zeiten sind oft mehrere Bände in einem Jahre erschienen, so daß bei Streitbergs Tode, im 34. Lebensjahre der Forschungen, trotz Krieg und Inflation, schon 42 Bände abgeschlossen vorlagen, darunter so stattliche wie die Delbrück-Festschrift und die zweibändige Festschrift für Brugmann. Streitberg hat zu den ersten Bänden außer der Schrift über die Dehnstufe noch zahlreiche weitere Ablautstudien beigesteuert.
Doch die Hauptarbeit in den ersten Jahren des Freiburger Aufenthaltes galt einem größeren Werk aus dem Grenzgebiet zwischen Indogermanistik und Germanistik : der Urgermanischen Grammatik (1896). Das Buch war die erste systematische Zusammenfassung des bisher, nicht zum wenigsten von Streitberg selbst, für die Vorgeschichte der germanischen Dialekte Geleisteten. Wie sehr es einem Bedürfnis Genüge tat, zeigte sich darin, daß es in knapp vier Jahren vergriffen war. Aber die Gewissenhaftigkeit des Verfassers war so groß, daß er eine neue Auflage nicht eher herausbringen wollte, als bis er das Buch vollständig dem inzwischen erreichten Stande der Wissenschaft angepaßt hätte. Und da er selbst zu immer neuen Ergebnissen gelangte, hat sich das Material gehäuft, aber zu einer abschließenden Bearbeitung ist es nicht gekommen. Nur Skizzen und Entwürfe zur neuen Auflage fanden sich neben reichlichen Materialsammlungen im Nachlaß vor.
Nach der sprachwissenschaftlichen Grundlegung wandte sich Streitberg der germanischen Einzelphilologie, insbesondere dem Gotischen zu. Schon 1897 erschien das Gotische Elementarbuch, das alle Materialien zur Grammatik der ältesten germanischen Sprache enthalten sollte. Auch dies Buch wurde fortwährend verbessert und erweitert, und blieb auch dem neusten und kühnsten Griff in der Sprachwissenschaft, der Schallanalyse, nicht verschlossen.
So waren die Jahre in Freiburg eine Zeit fruchtbarster wissenschaftlicher Arbeit gewesen. Doch im Jahre 1898 nahm der Aufenthalt in Freiburg ein plötzliches Ende. Seit 1895 war die bis dahin erfreuliche Entwicklung der Universität durch innere Streitigkeiten gehemmt worden. Die theologische Fakultät, die vertragsmäßig den Dominikanern überlassen war, beanspruchte das Recht, über die Vorlesungen der andern Fakultäten eine Art Zensur auszuüben. Selbst Streitberg, der infolge seines neutralen Fachs keineswegs im Mittelpunkt des Streites stand, entging ihren Angriffen nicht, weil er im Kolleg geäußert hatte, die Wissenschaft könne die ursprüngliche Einheit der menschlichen Sprache nicht nachweisen ! Dazu kamen eine Reihe von Mißverständnissen mit der Unterrichtsdirektion des Kantons Freiburg, die acht reichsdeutsche Professoren Ostern 1898 veranlaßten, ihre Professuren in Freiburg niederzulegen. Streitberg, einer der Acht, kehrte — als Privatdozent — nach Leipzig zurück. Ein Jahr mußte er warten, ehe er erneut eine Professur, noch dazu nur ein Extraordinariat, an der im Ausbau begriffenen Universität Münster erhielt. Die zehn Jahre in Münster — 1906 war die Professur in ein Ordinariat umgewandelt worden — hat Streitberg immer als die schönste Zeit seines Lebens bezeichnet. Am 5. Juli 1904 hatte er sich mit Gertrud Leskien, der Tochter seines großen Lehrers und Freundes, vermählt. In Münster fand er auch die Ruhe, seine Arbeiten zur gotischen Philologie durch eine grundlegende Ausgabe der gotischen Bibel und der übrigen gotischen Denkmäler mit allem philologischen Apparat zu krönen (1908) ; die Ausgabe, die 1919 in zweiter Auflage herauskam, ist seitdem maßgebend für die Studien zur gotischen Sprache. Abgeschlossen wurde das Werk 1910 durch ein gotisch-griechisch-deutsches Wörterbuch. Auch späterhin hat er unermüdlich, auch abgesehen von den Neuauflagen in Einzelaufsätzen die Fragen der gotischen Philologie gefördert, namentlich durch Anwendung der Schallanalyse auf die gotische Lautlehre.
Im Jahre 1909 wurde Streitberg auf den neu errichteten Lehrstuhl der indogermanischen Sprachwissenschaft an der Universität München berufen. Mehr und mehr trat jetzt einerseits die Geschichte der Sprachwissenschaft, andrerseits die Organisation der sprachwissenschaftlichen Arbeit in den Vordergrund. Seit 1896 gab er bei Winter die Germanische Bibliothek, seit 1907 mit Hirt zusammen die Indogermanische Bibliothek heraus. Jetzt wurden die auf indogermanistischem Gebiet tätigen Gelehrten in der Indogermán¡sehen Gesellschaft zusammengefaßt. In ihrem Auftrag gab Streitberg zuerst (bis 1916) mit Thumb, dann (bis 1924) mit Walde als Kollegen das Indogermanische Jahrbuch heraus. — Die Geschichte der indogermanischen Sprachwissenschaft, zu der zahlreiche Vorarbeiten in Aufsätzen der IF. vorliegen, sollte der Schlußstein eines Werkes sein, dessen Herausgabe Streitberg übernahm, und das außerdem je eine ausführliche Geschichte der Erforschung einer jeden Einzelsprache enthalten sollte. Davon hatte Streitberg noch die Geschichte der germanischen Sprachwissenschaft übernommen, von der er einen großen Teil druckfertig hinterlassen hat.
Der unglückliche Ausgang des Krieges lähmte auch Streitbergs Arbeitskraft. Wohl rettete er mit Einsetzung aller Kräfte die Organisation der Indogermanistik über die Inflationsjahre hinweg, wohl besorgte er neue Auflagen seiner gotischen Werke — ein neues Ganze hat er nicht mehr geschaffen. Er teilte das tragische Geschick seiner Generation, am absteigenden Hange geboren zu sein und am Ende seines Lebens den tiefsten Punkt des Talbodens, aber nicht mehr den jenseits wieder steigenden Hang zu sehen.
Eine Freude war ihm noch beschieden : nach Brugmanns Tode wurde er 1920 nach Leipzig, seiner wissenschaftlichen Heimat, berufen, wo neue Kräfte der Sprachwissenschaft durch den ewig jungen Sievers zugeführt wurden. Allem Neuen ist Streitberg bis zuletzt aufgeschlossen gewesen. Für die ungeheure Bedeutung der Sievers’schen Entdeckung hatte er volles Verständnis, ja, seine letzten Bestrebungen galten der Verbreitung dieser Gedanken, und für die neu erwachende Sprachphilosophie bekundete er das regste Interesse.
Kurz nach Beginn des Sommersemesters 1925 erkrankte er schwer an einer Nierenreizung. Zwar wurde die Gefahr noch einmal gebannt, aber das wochenlange Fieber hatte das Herz geschwächt. Am 19. August ist er einem Herzschlag erlegen.
Es ist nicht nur die Wissenschaft, die diesen Verlust betrauert. Streitbergs vornehmer Charakter, seine allzeit hilfsbereite Güte, seine Fähigkeit, überall auszugleichen und zu vermitteln, ohne daß er sich je etwas vergab, sein rastloser Eifer für die Sache, der nie das Seine suchte, lassen denen, die ihm näher stehen durften, die Lücke, die sein Tod riß, fast noch schmerzlicher zum Bewußstein kommen als die unvollendet hinterlassenen Werke.
Source : Walter Porzig, ‘ Wilhelm Streitberg,’ Indogermanisches Jahrbuch 10.408-413 (1924-1925). By permission of Walter De Gruyter & Co., Berlin.
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