“A Prague School Reader in Linguistics”
Zum Problem der geschriebenen Sprache*
In den Jahrzehnten, in welchen die phonetische Sprachanschauung zu Ehren gekommen ist, stellte man sich der Schrift nicht allzu freundlich gegenüber. Man hielt die Schrift bloß für einen Schleier, der die wirkliche Beschaffenheit einer Sprache verhüllt, und es wurde als einzige Funktion der Schrift die Darstellung der (gesprochenen) Sprache hingestellt. Diese am klarsten von F. de Saussure formulierte Ansicht ist vollkommen verständlich als Reaktion auf die früheren Perioden des sprachwissenschaftlichen Denkens, da sich die Sprachwissenschaftler nur sehr schwer von dem Zwang der optischen Buchstaben zu den akustischen Lauten durchzuringen vermochten; andererseits wird sie aber den sprachwissenschaftlichen Tatsachen, wie wir sie heutzutage sehen, nicht gerecht.
Es wird ein Verdienst des vor drei Jahren verstorbenen ukrainischen Linguisten Prof. Agenor Artymovyí bleiben, daß er in seinen Abhandlungen1 auf die Tatsache hingewiesen hat, »daß die Schrift jeder sog. Schriftsprache ein besonderes autonomes System bildet, zum Teil unabhängig von der eigentlichen gesprochenen Sprache«. Aber wenn auch Artymovyò in seinen Abhandlungen viele interessante Belege für seine Behauptung anführt, so hat er doch die allgemein-theoretische und grund- sätzlich-prinzipielle Seite seiner Ausführungen nicht genügend entwickelt.
Vor allem muß hervorgehoben werden, daß ArtymovyS die »geschriebene Sprache« nicht klar von den einzelnen Schriftäußerungen unterscheidet. Und doch ist diese Unterscheidung von höchster Bedeutung. Unter der geschriebenen Sprache verstehen wir eine Norm, oder besser ein System von graphischen (bzw. typographischen) Mitteln, die innerhalb einer Gemeinschaft als Norm anerkannt werden. Die Schriftäußerungen dagegen sind einzelne konkrete Realisierungen der besagten Norm. Im alltäglichen praktischen Leben begegnen wir nur den Schriftäußerungen — nur aus diesen wird die Beschaffenheit der geschriebenen Sprache als System ersichtlich. Nichtdestoweniger aber kann man eine spezifische Existenz derselben nicht ableugnen, schon wegen ihres normenhaften Charakters. Besonders muß man sich davor hüten, die geschriebene Sprache mit der »Schrift« oder gar »Orthographie« zu vermischen. Die Schrift ist bloß ein Terminus technicus für ein Inventar von graphischen Zeichen, die für die Festlegung von Sprechäußerungen benützt werden können. Die Orthographie wieder ist eine Art Brücke zwischen zwei Sprachsystemen, der geschriebenen und der gesprochenen Sprache, eine Summe von Entsprechungen einzelner Bestandteile beider Sprachsysteme.
Aus den hier entwickelten Erwägungen geht hervor, daß zwischen der geschriebenen Sprache und den Schriftäußerungen ein ähnliches Verhältnis besteht, wie dasjenige, welches von F. de Saussure zwischen der Sprache (langue) und der Rede (parole) festgestellt wurde. Der Unterschied besteht nur darin, daß zwar die geschriebene Sprache als ein Gegenstück der »langue« gelten kann, daß aber andererseits den konkreten Schriftäußerungen nur konkrete Sprechäußerungen und nicht eine abstrakte »parole« entsprechen können.
So gelangen wir zu der Frage, was eigentlich im tatsächlichen Sprachleben der »parole« entspricht. Wenn man diesem Problem nachgeht, so erkennt man bald, daß der Inhalt des Begriffes »parole« keineswegs so klar und unanfechtbar ist wie derjenige von »langue«. Es ist kaum überflüssig zu bemerken, daß selbst F. de Saus sure wohl eine gedankenreiche »linguistique de la langue«, nie aber eine »linguistique de la parole« verfaßt hat. Wie wird überhaupt der Begriff »parole« von dem Genfer Sprachforscher verstanden? Auf. S. 38 seines Cours finden wir folgenden Satz: »Elle (la parole) est la somme de ce que les gens disent, et elle comprend: a) des combinaisons individuelles, dépendant de la volonté de ceux qui parlent, b) des actes de phonation également volontaires, nécessaires pour l’exécution de ces combinaisons.« Wenn man diese Begriffsbestimmung näher betrachtet, so muß man feststellen, daß hier de Saussure zwei verschiedene Arten von Tatsachen im Rahmen der »parole« verknüpft. Erstens sind das individuelle Kombinationen der Sprachelemente — solche Kombinationeu müssen aber schon in der »langue« gegeben sein, da sie sich doch auch einer Norm fügen müssen und unmöglich rein subjektiv sind. Somit ist der erste Teil der Saus sure sehen Bestimmung unbefriedigend und die betreffende Tatsache nicht der »parole«, sondern der »langue« zuzurechnen. Wie steht es mit der zweiten Hälfte der oben angeführten Begriffsbestimmung? Die von de Saussure erwähnten Phonations akte sind zweifellos mit dem, was wir Sprechäußerungen nennen, zu identifizieren — sie sind ja einzeln und konkret.2 Also fallen auch sie nicht unter den Begriff von »parole«.
Aus dem oben Gesagten folgt, daß der Begriff »parole« — wenigstens in dem Sinne, wie er von Saussure verstanden wurde — so gut wie überflüssig ist. Zugleich sehen wir, daß das oben aufgeworfene analogische Verhältnis zwischen der geschriebenen Sprache und den Schriftäußerungen einerseits und der »langue« und den Sprechäußerungen andererseits wirklich stichhält.
So hat uns eine konsequente Durchführung unserer Gegenüberstellung von geschriebener Sprache und Schriftäußerungen zu einer interessanten Korrektur eines nicht unwichtigen Punktes der sprachwissenschaftlichen Theorie geführt. Wir könnten nun fragen, wie de Saus sure überhaupt zur Annahme einer »parole« gelangt ist. Die Antwort auf diese Frage würde sicher damit im Zusammenhang stehen, daß der Genfer Sprachforscher den Begriff der »langue« an und für sich allzu statisch auffaßte, wie das schon R. Jakobson gezeigt hat (TCLP II, S. 13). Da nun de Saussure die innere Dynamik der Sprache, ihr immer bestehendes und nie vollkommen befriedigtes Streben nach Gleichgewicht des Systems bei weitem nicht voll gewürdigt hat, so blieb ihm nichts anderes übrig als die im Verlauf der Zeit und der Sprachentwicklung sich äussernde Dynamik von außen her zu erklären. Deshalb hat der Genfer Forscher einen besonderen Faktor angenommen, die »parole«, die eine Art Vermittler zwischen zwei statisch aufgefaßten Sprachzuständen darstellen soll. Unserer Meinung nach ist die Annahme eines vermittelnden abstrakten Faktors überflüssig: die Veränderungen des Sprachsystems finden inmitten des Sprachsystems selbst statt, und sie werden durch das Streben nach Wiederherstellung des Gleichgewichts im System hervorgerufen. Die Sprechäußerungen spielen dabei auch eine gewisse Rolle, aber nicht die eines dynamischen Vermittlers, sondern eines Laboratoriums, in welchem die Sprache verschiedene Mittel zur Wiederherstellung ihres Gleichgewichts ausprobt. Mit anderen Worten, verschiedene Sprecher der gegebenen Sprache empfinden die Unvollkom- menheit ihres Gleichgewichts; sie bilden das Sprachsystem in diesem oder jenem Punkte um, mag dies auch unwillkürlich und unwissentlich geschehen. Dabei ändern natürlich verschiedene Sprecher nicht gleiche, sondern verschiedene Punkte des Sprachsystems ab. Diese individuellen, nach verschiedenen Richtungen ein wenig verschobenen Systeme werden dann von den betreffenden Sprechern in ihren Sprechäußerungen realisiert. Dadurch werden nun alle diese individuellen Verschiebungen wie in einem Laboratorium auf ihre Zweckmäßigkeit hin geprüft — die einen werden von der Sprachgemeinschaft als mehr, die anderen als weniger geeignet zur Wiederherstellung des Gleichgewichts befunden. Die geeignetsten Mittel werden dann vom Kollektiv endgültig in die »langue« eingegliedert.
Wir sind also zu der Folgerung gelangt, daß die geschriebene Sprache und die »langue« koordinierte Begriffe darstellen, denen die Schrift- bzw. Sprechäußerungen als subordinierte Begriffe unter geordnet sind. Damit gelangen wir aber zu einem neuen Problem, welches zu den wichtigsten in der sprachwissenschaftlichen Theorie gehört. Die »langue« wird nämlich auf Grund der Gegenüberstellung mit der geschriebenen Sprache als etwas akustisch Charakterisiertes empfunden. Das widerspricht aber einer der grundsätzlichsten Thesen von F. de Saussure, nämlich derjenigen, daß die »langue« eine Form, nicht eine Substanz ist. Das Wesentliche an der »langue« ist nach de Saussure nur deren zeichenhafter Charakter, nicht ihre materielle Seite. Anders gesagt, wenn man z.B. die Phoneme einer gegebenen Sprache anstatt mit den Lauten mit Farben oder mit Gebärden ausdrücken würde, so bestünde hier doch eine und dieselbe Sprache, da die gegenseitigen Verhältnisse der Zeichen dieselben bleiben würden, auch wenn sie verschiedenartig zum Ausdruck gelangten. Diese Folgerung macht uns auch die Ansicht de Saussures bezüglich der Schrift leicht verständlich: falls das einzig Charakteristische der »langue« nur Zeichen und deren wechselseitige Beziehungen sind und falls die materielle Art der Realisation derselben unwichtig ist, dann ist die Schrift wirklich nur ein Schleier, der die wirkliche Beschaffenheit der »langue« verhüllt. Wenn nämlich die Zeichen und ihre Beziehungen das einzig Wichtige sind, so sollten sie durch jedes Material uniform ausgedrückt werden, also auch durch das Material von Schrift- bzw. Buchstabenzeichen. Da nun viele (wenn nicht alle) geschriebenen Sprachen diese Forderung nicht erfüllen, verdienen sie die Saussuresche Beurteilung, wofern eben die dargelegte These des Genfer Forschers richtig ist.
Aber dagegen muß man die Tatsache stellen, daß die Schriftäußerungen — wenigstens in den kulturellen Sprachgemeinschaften — eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den Sprechäußerungen ausweisen, wie aus den Veröffentlichungen von Prof. Arty- movyC klar ersichtlich ist. Diese Unabhängigkeit ist an sich nichts Uberraschendes, wenn wir uns die Verschiedenheit der Funktionen von Schrift- und Sprechäußerungen vergegenwärtigen. Die Aufgabe einer Sprechäußerung besteht darin, auf eine Tatsache möglichst unmittelbar zu reagieren; eine Schriftäußerung dagegen soll die Stellungnahme zu einem Sachverhalt in möglichst dauerhafter Weise festlegen. Eine gewisse Unabhängigkeit der Schriftäußerungen setzt aber notwendig auch eine gewisse Unabhängigkeit der betreffenden Norm, d.h. der geschriebenen Sprache voraus. Jedoch mit dem unzweifelhaft optischen Charakter dieser Norm muß notwendig der akustische Charakter der koordinierten Sprechnorm, d.h. der »langue«, anerkannt werden. Wie ist der angedeutete Widerspruch zu lösen?
Einige Erwägungen über das gegenseitige Verhältnis der beiden genannten Normen können uns hier ein wenig helfen. Es ist gut bekannt, daß die Glieder einer Sprachgemeinschaft (wenigstens einer kultivierten) über zwei Sprachnormen verfügen — die eine für Sprech-, die andere für Schriftäußerungen, mögen sie auch nicht beide Normen gleich vollkommen beherrschen. Jedes Glied der Sprachgemeinschaft ist sich dessen bewußt, daß die beiden Normen komplementär sind, da jede von beiden eine spezifische Funktion hat, in welcher sie von der anderen nicht gut vertreten werden kann. Es fragt sich nun, ob die obige Zusammengehörigkeit beider Normen nur auf dem komplementären Wesen derselben beruht, oder ob vielleicht eine höhere, universale Norm besteht, auf welche man diese beiden Normen zurückführen sollte und welcher somit diese beiden Normen untergeordnet wären.
Der Gedanke einer solchen universalen Norm ist zweifellos sehr verlockend: ihre abstrakte Natur, und ihre Freiheit sowohl von optischem als auch von akustischem Charakter würde zur formalen, unsubstanziellen Natur der Saussureschen »langue«
Ist die Existenz einer solchen universalen Norm wahrscheinlich oder wenigstens möglich? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir wieder unsere Erwägungen aufnehmen, welche sich mit den Verhältnissen innerhalb der kultivierten Sprachen befassen.
Das Vorhandensein von zwei Sprachnormen in den kultivierten Sprachen ist unleugbar. Es ist vom synchronischen Standpunkt aus unberechtigt, mit de Saussure zu fragen, welche von beiden Normen zeitlich primär und welche sekundär ist. Beide Normen sind einfach linguistische Tatsachen, und jede von ihnen hat ihre eigene Funktion. Der Ubergang von einer Norm zur anderen wird Rechtschreibung bzw. Aussprache genannt, je nachdem man von der Sprechnorm zu der Schriftnorm oder umgekehrt vorgeht. Dieser Ubergang von einer Norm zur anderen ist in einigen Sprachgemeinschaften leichter, in anderen schwieriger — immer aber bleibt er eine Tatsache, die sich nicht wegdisputieren lässt. Je leichter der Ubergang ist, desto mehr nähern sich auch die beiden Normen, die Sprech- und die Schriftnorm, und desto wahrscheinlicher scheint auch die Möglichkeit einer universalen Sprachnorm zu sein. vortrefflich stimmen. Man würde dann zu folgendem Schema gelangen:
Allerdings kann eine einfache Erwägung zeigen, daß man keine Sprachgemeinschaft finden kann, in welcher die beiden Normen eine dermaßen analogische Beschaffenheit ausweisen würden, daß man die Existenz einer überordneten abstrakten Norm — wenn auch nur für jene bestimmte Sprachgemeinschaft — ohne weiteres anerkennen dürfte. Man muß sich nämlich einen wichtigen Punkt vor Augen halten: wenn man auch eine Sprache finden könnte, in welcher jedem Phonem konsequent ein besonderer Buchstabe entsprechen würde, so bedeutet das bei weitem nicht eine analogische Beschaffenheit der Schrift- und Sprechnorm. Eine vollkommen analogische Beschaffenheit würde bedeuten, daß jedes funktionell verwendbare akustische Element sein graphisches Gegenstück in der Schriftnorm besäße, und umgekehrt. Das ist aber praktisch ganz unmöglich. Es ist wohl bekannt, daß gegenüber dem großen Reichtum an akustischen Mitteln der Sprechnorm die Schriftnorm nur eine beschränkte Anzahl von optischen Mitteln besitzt. Wo der Sprechnorm eine bunte Skala von melodischen, exspiratorischen u. ä. Elementen zur Verfügung steht, dort muß sich die Schriftnorm mit einem ärmlichen Inventar von Interpunktions- und Differentiationsmitteln (wie z.B. Sperrdruck, Kursive usw.) begnügen. Wie weit die beiden Normen in dieser Hinsicht von einander entfernt sind, wird daraus ersichtlich, wie oft die Schriftnorm mit sekundären Mitteln arbeiten muß, wo die Sprechnorm primäre Mittel benützt. In Romanen und in der Belletristik überhaupt findet man eine ungeheuere Anzahl solcher Ausdrücke. Die Intonation muß z.B. folgenderweise angedeutet werden: er redete abgehackt, forscht; mit abgerissenen Sätzen;. . . . fragte er schläfrig;. . . antwortete er schneidig usw. Manchmal muß man sich ganzer Sätze bedienen, z.B.: eine große Güte spiegelte sich in seinen Worten. Auch der Nachdruck und die Intensität überhaupt wird durch sekundäre Mittel ausgedrückt:. . . rief er laut,. . . sagte er halblaut;. . . flüsterte er usw.
Aus diesen Beobachtungen darf man aber keineswegs schlies- sen, daß die geschriebene Sprache eine weniger vollkommene Struktur als die gesprochene Sprache darstellt. Ihre Struktur ist keine weniger vollkommene, sondern einfach eine andere. Denn — und das vergißt man sehr oft — auch die Schriftnorm verfügt über eine Anzahl von Mitteln, die der Sprechnorm fremd sind und daher sekundär ausgedrückt werden müssen. Es hängt mit der Natur der Schriftäußerungen zusammen, daß diese Mittel mehr den intellektuellen als den emotionellen und anderen Bedürfnissen dienen. Hier ist zuerst die Einteilung längerer Schriftäußerungen in Abschnitte zu erwähnen, womit dem Leser zugleich gezeigt wird, daß es sich auch um einen neuen Inhaltsabschnitt handelt. In einer Sprechäußerung muß man in solchen Fällen mit sekundären Mitteln sein Auslangen finden (so z.B.: Damit haben wir das Problem A erledigt und nun kommen wir zum Problem B). Man weiß auch sehr gut, wie das winzige Zeichen des Doppelpunktes eine verwickelte Satzperiode zusammenzufügen und dadurch deutlich zu machen vermag. Eine Sprechäußerung kann sich solche komplizierte Perioden nicht gestatten und diese müssen daher in kleinere Satzeinheiten aufgelöst werden. Die Funktion eines Doppelpunktes muß dabei wieder sekundär ausgedrückt werden (z.B. mit den Worten: dies wird dadurch verursacht, daß . . ., es hat sich nämlich zugetragen, daß . . . usw.).
Wir sehen also, daß eine vollkommen analogische Struktur von Schrift- und Sprechnorm in keiner Sprachgemeinschaft vorhanden ist. Daraus folgt natürlich, daß man das Vorhandensein einer universalen abstrakten Norm, die der Schrift- und Sprechnorm übergeordnet wäre, ausschließen muß, und zwar für alle existierenden Sprachen. Wenn man nämlich ihre Existenz selbst in solchen Sprachen nicht anerkennen kann, wo das phonologische Prinzip des Alphabets so günstige Voraussetzungen bildet, so kann man ihr Vorhandensein noch weniger in solchen Sprachen ansetzen, wo die erwähnte Voraussetzung fehlt, d. h. in denjenigen Sprachen, welche bei dem Aufbau ihrer Schriftnormen vom phonologischen Prinzip beträchtlich abgewichen sind oder gar sich ganz anderer Prinzipien bedienen (wie z.B. das Indische mit seiner Silbenschrift, das Chinesische mit seinen Ideogrammen usw.). Man muß also die Schrift- und die Sprechnorm für koordinierte Größen halten, denen keine höhere Norm übergeordnet ist und deren Zusammengehörigkeit nur der Tatsache zuzuschreiben ist, daß sie von einer und derselben Sprachgemeinschaft in komplementären Funktionen benutzt werden. Die Funktionen sind, wie oben gesagt, die der unmittelbaren und die der dauerhaften Reaktion.
Aus dem eben Gesagten muß man einige wichtige sprachtheoretische Konsequenzen ziehen.
Es wird zunächst unbedingt notwendig sein, »die geschriebene Sprache« (»la langue écrite«) und »die gesprochene Sprache« (»la langue parlée«) als zwei besondere Normensysteme zu unterscheiden. Die bisherige Bezeichnung »die Sprache« (»la langue«) wird dadurch nicht überflüßig gemacht, nur ihr begrifflicher Inhalt wird geändert. Sie bezeichnet keine abstrakte, universale Norm, sondern die Summe beider oben besprochenen Normen, die ja dadurch miteinander verknüpft sind, daß sie einer und derselben Sprachgemeinschaft die Mittel gewähren, um zu einem beliebigen Sachverhalt einen beliebigen Standpunkt einzunehmen.
Die durchgeführte Unterscheidung stellt uns aber wieder vor die Frage, ob die Sprache eine Form oder eine Substanz ist. Wir möchten diese Frage folgenderweise beantworten. Es besteht überhaupt kein Zweifel darüber, daß das Wesentlichste in jeder Sprache durch die wechselseitigen Verhältnisse ihrer Bestandteile gegeben wird. Andererseits aber können die Verhältnisse nie in der Luft hängen, sondern sie müssen sich immer an einer Substanz offenbaren. Man kann ohne weiteres annehmen, daß solange eine Sprache nur in Sprechäußerungen zum Ausdruck kommt (d. h. solange die gegebene Sprachgemeinschaft keine Schriftäußerungen hervorgebracht hat), die akustische Substanz nicht genügend zutagetritt und dermassen im Hintergrund bleibt, daß man sie als unwichtig betrachten kann. In einem solchen Sprachzustand bedienen sich die Glieder der Sprachgemeinschaft ihrer Sprache bloß als eines Mittels der Stellungnahme (nach SkaliCka bloß als eines Mittels der semiologischen Reaktion) ohne nähere Differenzierung. Da sie sich fortwährend der akustischen Mittel bedienen, nehmen sie die akustische Natur der Sprachsubstanz ebensowenig wahr wie der Fisch das Wasser oder der Mensch die Luft. Sobald aber die gegebene Sprachgemeinschaft die Funktionen der Sprache in unmittelbare und dauerhafte Reaktionen zu differenzieren beginnt, d. h. sobald in der Sprachgemeinschaft die ersten Schriftäußerungen auftauchen, so muß es unbedingt zu einer gewissen Würdigung der bisher als unwichtig angesehenen Sprachsubstanz kommen. Von nun an wird nämlich nicht nur das Ding seinem Zeichen gegenübergestellt, sondern auch eine andere Gegenüberstellung wird wahrnehmbar, nämlich diejenige von Schrift- und Sprechzeichen, und diese neue Gegenüberstellung (zusammen mit der Tatsache eines Ubergangs zwischen beiden Arten von Zeichen, d. h. der Ausprache bzw. Rechtschreibung) läßt beide Substanzen, den Schall und die Schrift, deutlich hervortreten. Schon die Tatsache allein, daß die Glieder der Sprachgemeinschaft für spezialisierte Funktionen auch getrennte, spezielle Außerungssubstanzen (Schall oder Schrift) wählen, zeigt, daß diese Außerungs substanzen nichts Gleichgültiges sind, sondern als wichtige funktionelle Faktoren betrachtet werden müssen. Es muß betont werden, daß die wechselseitigen Beziehungen der Sprachelemente auch in dieser Auffassung ihre höchste Wichtigkeit für die Beschaffenheit der gegebenen Sprache behalten; es muß aber auch darauf Nachdruck gelegt werden, daß der Charakter solcher Beziehungen durch die Natur der Außerungssubstanz notwendig mitbestimmt wird. Eine solche Mitbestimmung ist schon aus dem zweifellos ersichtlich, was oben über die primären und sekundären Außerungsmittel gesagt wurde — solche Tatsachen zeigen klar, wie die Natur einer Äußerung s substanz die reaktive Fähigkeit sowohl der Sprechais auch der Schriftäußerungen in einem beträchtlichen Grade einengt.
Betrachten wir nun das Problem der Sprech- und Schriftnorm auch diachronisch! Da kann man nun sicher nicht leugnen, daß die ersten Schriftäußerungen einer Sprachgemeinschaft von den Sprechäußerungen ausgehen und daß die Schriftnorm eine bloße Transposition der Sprechnorm darstellen will. Dies wurde übrigens schon von Artymovyi anerkannt. Wir möchten zugeben, daß in einer solchen Phase die Schriftnorm als sekundäres Zeichensystem betrachtet werden muß, da jeder von den Bestandteilen dieses Systems ein Zeichen für ein Zeichen darstellt — mit anderen Worten, das ganze sekundäre Zeichensystem spiegelt nicht das System der Dinge wider, sondern nur das primäre Zeichensystem (in diesem Falle die Sprechnorm), und erst von diesem gibt es einen geraden Weg zum System der Dinge. Aber die spezifische Funktion der Schriftäußerungen erzwingt sich in jeder Sprachgemeinschaft sehr bald jene Autonomie der Schriftnorm, die zuerst von Artymovyi! nachdrücklich betont wurde. Und sobald dies geschehen ist, nimmt die Schriftnorm im System der sprachlichen Werte eine neue Stellung ein: aus einem sekundären wird ein primäres Zeichensystem, das heißt von nun an stellen Bestandteile der Schriftnorm nicht Zeichen von Zeichen, sondern Zeichen von Dingen dar. Somit wird die Schriftnorm der Sprechnorm koordiniert. Diese zwei Normen sind natürlich allen Gliedern der Sprachgemeinschaft nicht gleich geläufig. Einer überwiegenden Mehrheit der Sprecher ist die Sprechnorm geläufiger, und sie gehen von dieser mittels der Rechtschreibung zur Schriftnorm über. Aber nicht selten ist es auch umgekehrt: bei diesen Sprechern gilt die Schriftnorm als Grundlage aller sprachlichen Erfahrungen und von dieser erst gehen sie mittels der Aussprache zur Sprechnorm über.3 Die Wichtigkeit der Schriftnorm wird unter anderem dadurch bezeugt, daß sie oft zur Grundlage wird, auf welcher neue Zeichensysteme sekundär aufgebaut werden (so z.B. telegraphische Systeme, Taubstummenalphabete, manchmal auch Systeme der Stenographie usw.).
Zuletzt noch einige kurze Andeutungen über die Dynamik und Problematik der geschriebenen Sprache. Aus dem oben Gesagten geht hervor, daß das Ziel, nach welchem die geschriebene Sprache strebt, Übersichtlichkeit und Unzweideutigkeit des Zeichensystems ist — die Sprechäußerungen werden ja nur deshalb aufgeschrieben und aufbewahrt, damit sie nötigenfalls zur Verfügung stehen können, und in diesem Fall verlangt man vor allem, daß sie rasch und übersichtlich Auskunft geben. Diesem Bedürfnisse entsprechend haben einige Sprachen beim Aufbau ihrer Schrift morphematische Rücksichten’betont (so z.B. das Tschechische, das Englische und das Russische, zum Teil auch das Deutsche); andere Sprachen führen wieder eine möglichst konsequente Korrespondenz der Phoneme und der Buchstaben ein (wie z.B. das Serbokroatische oder das Finnische); die meisten Sprachen trennen zu einem ähnlichen Zweck die benachbarten Worte des Satzes mit Druckspalten ab usw. usw. Die Mittel, mit welchen die geschriebenen Sprachen die geforderte Übersichtlichkeit und Unzweideutigkeit erreichen, sind also im Großen und Ganzen von beliebiger Art; ihre Wahl wird nur durch eine Rücksicht beschränkt, die vielmehr negativen Charakter hat. Es liegt nämlich im Interesse der gegebenen Sprachgemeinschaft, daß sich die Beschaffenheit der Schriftnorm nicht allzu weit von der Beschaffenheit der Sprechnorm entfernt, mit anderen Worten, daß die Rechtschreibungs- bzw. Ausspracheregeln nicht allzu verwickelt werden. Die eben erwähnte Rücksicht stellt auch einen der wichtigsten dynamischen Faktoren dar, die Veränderungen innerhalb der geschriebenen Sprache fördern. Dies bedeutet aber keineswegs, daß die Entwicklung einer geschriebenen Sprache bloßes Nachhinken nach der Entwicklung der Sprechnorm bedeutet. Es hängt zwar mit der konservierenden Aufgabe der geschriebenen Sprache zusammen, daß sie für statischer als die gesprochene Sprache gilt, das heißt aber keineswegs, daß sie ein durchaus passiver Faktor ist. Wie oft sie eine aktive Rolle spielt, wird durch viele interessante Belege bezeugt, die der Geschichte mancher Kultur sprachen entnommen werden können (dies gilt besonders von dem Englischen mit den wohlbekannten »spelling pronunciations«).
Außer diesem inneren dynamischen Faktor kann man auch einige äußere dynamische Faktoren feststellen, deren Einfluß gleichfalls Veränderungen der geschriebenen Sprache verursachen kann. Hier könnte man verschiedene ästhetische, typographische und ähnliche Faktoren nennen, aber besonders wichtig scheint uns in dieser Beziehung der Einfluß anderer geschriebener Sprachen zu sein. Die Veränderungen, zu welchen eine andere geschriebene Sprache den Anstoß gibt, können manchmal sehr weit gehen — so haben bekanntlich die Türken an Stelle der arabischen Schrift die lateinische gesetzt unter dem Einfluß der kulturellen Sprachen Europas. Zu anderen Zeiten geht es um kleinere, aber doch prinzipielle Anpassungen — so haben die Slovenen die alte Graphik, die mit Buchstabenverbindungen operierte, durch eine diakritische ersetzt, und ähnliche Veränderungen hat man im Polnischen geplant, wohl auch nach dem Vorbild der Sprachen, die sich der diakritischen Graphik bedienen. Manchmal kann umgekehrt eine Differenzierung der geschriebenen Sprache unter Einwirkung einer anderen stattfinden — so ist vielleicht der Ersatz von w durch v im modernen Tschechisch durch die Absonderung von der deutschen Schreibweise verursacht worden.
Unsere Darlegungen haben also gezeigt, daß die geschriebene Sprache nicht nur einen höchst bedeutenden Grad der Unabhängigkeit, sondern auch ihre eigene Problematik besitzt. Sie stellt aber auch einen sehr fruchtbaren Begriff dar, dessen Entwicklung eine ganze Reihe von sprachtheoretischen Problemen in ein neues Licht zu rücken vermag.
Notes
1. A. Artymovyï, Pysana mova, Naukovyj Zbirnyk Ukrain- skoho Vys. Ped. Instytutu v Prazi II, 1 — 8. Ein Detailproblem aus dieser Abhandlung ist von A. ArtymovyC auch deutsch behandelt worden (Fremdwort und Schrift, Char isteria Gu. Mathe- sio . . oblata, Pragae 1932, pp. 114 f.); aus der deutschen Abhandlung wird auch hier zitiert.
2. Das Problem der Sprechäußerungen ist von V. SkaliCka in seiner Abhandlung »Die Sprachäußerung als linguistisches Problem« (in tschechischer Sprache, Slovo a slovesnost [Praha] Hl/1937, SS. 163—166) entwickelt worden.
3. Die Psychologen haben seit langer Zeit auf optisch-graphische Typen von Menschen aufmerksam gemacht — solchen Menschen ist eben die Schriftnorm die geläufigere.
*From Travaux du Cercle Linguistique de Prague. VIII: 94-104 (1939).
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