“A Prague School Reader in Linguistics”
Zur allgemeinen Theorie der phonologischen Vokalsysteme*
Der Gegensatz zwischen phonetischer und phono - logischer Betrachtung der Sprachlaute ist ein grundsätz- licher und kann nicht genug betont werden. Im Gegensatz zur Phonetik, die eine Naturwissenschaft ist und sich mit den Lauten der menschlichen Rede befaßt, hat die Phono - 1ogie die Phoneme oder Lautvorstellungen der mensch- lichen Sprache zum Gegenstand und ist demnach ein Teil der Sprachwissenschaft. Phonologie gehört zur Grammatik ebenso wie Morphologie und Syntax.
Die phonetische Betrachtung setzt eine ganz andere Wahrnehmungsart der Rede voraus, als die Wahrnehmungsart, die z. B. für eine morphologische Betrachtung notwendig ist. Dagegen ist die Wahrnehmungsart, die bei der phono1ogischen Betrachtung gebraucht wird, grundsätzlich mit der morphologischen identisch. Die phonologische Betrachtung, durch die ein gesprochenes Wort in einzelne Phoneme zerlegt und als aus diesen Phonemen bestehend wahrgenommen wird, beruht auf der selben assoziativen Analyse, durch die bei morphologischer Betrachtung das Wort in seine morpholo - gischen Bestandteile, d. h. Morpheme, zerlegt wird. Warum wird ein Wort wie tschech. duby als Nom. -Akk. Plur. erkannt? Weil es sich einerseits mit Wörtern wie zuby, hrady usw., andrerseits aber mit dub, dubu, dubem usw. assoziiert und auf diese Weise in zwei morphologische Bestandteile oder Mor- pheme (dub+y) zerlegt werden kann. Aber ebenso wird dasselbe Wort duby als aus den Phonemen d+u+b+y bestehend wahrgenom - men, weil jedes von diesen Phonemen nicht bloß in diesem Worte, sondern auch in anderen Wörtern vorkommt : nach seinem an- lautenden d assoziiert sich duby mit dáti, deset, dýka, dolů usw., nach seinem u- mit zuby, ruka usw. Durch diese laut- lichen Assoziationen mit verschiedenen anderen Wörtern der- selben Sprache wird das gegebene Wort oder, besser gesagt, die gegebene Wortvorstellung in ihre phonologischen Bestand- teile, d. h. die einzelnen Lautvorstellungen oder Phoneme zer- legt.
Die assoziative Analyse bleibt aber beim einzelnen Phonem nicht stehen. Vergleicht man z. B. das deutsche Wort Keil mit dem Worte geil, so bemerkt man, daß zwischen beiden genau derselbe Unterschied besteht, wie zwischen Pein und Bein. Im Sprachbewufitsein besteht die Gleichung „k : g = p : b”, — und dadurch wird jedes Glied dieser Gleichung phonologisch zerlegt : k assoziiert sich einerseits mit g, andrerseits mit p, und so löst das Phonem k zwei motorisch-akustische Lautvorstellung selemente aus, — die motorisch-akustische Vorstellung des „dorsalen Verschlußlautes”, und die der „Tenuis”.
Natürlich lassen sich nicht allé Phoneme psychologisch so zerlegen. So ist z. B. das deutsche 1 unzerlegbar, es enthält nur eine einzige motorisch-akustische Lautvor stellung. Der Zerlegung unterliegen nur solche Phoneme, deren einzelne motorisch-akustische Merkmale auch in anderen Phonemen des- selben phonologischen Systems vorkommen. Der psychologische Gehalt eines Phonems ist mithin durch die Beschaffenheit des gesamten phonologischen Systems der betreffenden Sprache bestimmt. Ein und derselbe Laut entspricht in zwei verschiedenen phonologischen Systemen zwei ganz ver schiedenen psychologischen Vorstellungskomplexen. Das deutsche „k” enthält nur zwei Vorstellungselemente : „Tenuis” und „dorsalen Verschlußlaut”. Aber im Kjachisch-Tscherkessischen, wo das k objektiv ganz so wie im Deutschen gesprochen wird, enthält das entsprechende Phonem „k” sechs Vorstellungselemente : die der „Stimmlosigkeit” (im Gegensatz zu g), der „Schwâche” (im Gegensatz zum starken oder geminierten k), der „infraglottalen Exspiration” (im Gegensatz zu dem mit Kehlkopfverschluß gebildeten k), der „Ungerundetheit” (im Gegensatz zum gerundeten k°), der „Vordervelaritât” (im Gegensatz zum hintervelaren q), der „Dor salitât” (im Gegensatz zum koronalen oder apikalen t). Obgleich also aLle motorisch-akustischen Merkmale des deutschen und des kjachischen „k” die gleichen sind, sind im Deutschen nur zwei von die sen Merkmalen phonologisch giltig, im Kjachisch-Tscherkessischen dagegen — sechs, und dieser Unterschied hängt nur davon ab, daß das gesamte phonologische System des Deutschen ganz anders als das des Kjachisch- Tscherkessischen beschaffen ist.
Wie man sieht, gibt es Phoneme mit einfachem und mit kompliziertem psychologischen Gehalt, wobei auch der Grad der Komplikation verschieden sein kann. Da allés das auf der Beschaffenheit der phonologischen Systeme beruht, so wird die Erforschung des psychologischen Gehaltes der Phoneme zur Erforschung der Beschaffenheit der phonologischen Systeme. Bisher hat man auf den psychologischen Gehalt der Phoneme wenig geachtet. Ja, man interessierte sich nicht um die Phoneme (d. h. die Sprachlautvor stellungen) selbst, sondern nur um ihre phonetische Realisierung. Daher hat man auch die phonologischen Systeme vernachlâssigt. Die Lautlehre ist zur Lehre von den einzelnen Lauten, höchstens von den einzelnen Phonemen geworden, während sie doch eine Lehre von den phonologischen Systemen sein mußte. Eine vergleichende Untersuchung der phonologischen Systeme aller Sprachen der Erde ist die dringendste Aufgabe der heutigen Sprachwissen- schaft.
Im Folgenden will ich versuchen, eine allgemeine Theorie der Vokalsysteme zu skizzieren. Es ist bloß ein Versuch, der eigentlich mehr eine Anregung zur weiteren Forschung als eine definitive Theorie sein will. Dabei habe ich nur solche Sprachen und Dialekte herangezogen, deren Vokalsysteme für mich einigermaßen klar sind. Die Wahl dieser Sprachen ist ziemlich zufàllig und hängt von der Richtung meiner persönlichen sprach- wissenschaftlichen Interessen und vom Umfange meiner sprach- wissenschaftlichen Studien ab.
2.
Phonetisch betrachtet ist ein Vokal eine Verbindung mehrerer Artikulationsakte, von denen jeder eine bestimmte akustische Wirkung besitzt. Die Bewegung des Unterkiefers bewirkt verschiedene Grade der Öffnung des Vokals, denen akustisch verschiedene Stufen der Schallfulle entsprechen. Die Bewegungen der Lippen und der Zunge bewirken die Veränderung der Form und des Umfanges (namentlich der Länge) des Ansatzrohres, denen akustisch verschiedene Stufen der Eigentonhöhe entsprechen. Die Dauer, die Stärke, der melodische Verlauf des Vokals werden durch die Zahl, Amplitude und Schnelligkeit der Schwingungen der Stimmbânder verursacht. Objektiv besitzt jeder Vokal a) einen bestimmten Öffnungs- bzw. Schallfüllegrad, b) eine bestimmte Artikulationsstellung (der Zunge und der Lippen) bzw. Eigentonhöhe, c) eine bestimmte Dauer, d) eine bestimmte exspiratorische Stärke, e) einen bestimmten Melodieverlauf. Phonologisch entsprechen aber nicht immer jedem von diesen Merkmalen bestimmte Lautvorstellungselemente. Meistens ist nur ein Teil der objektiv-phonetischen Merkmale eines Vokals phonologisch gültig.
Unentbehrlich und obligat für ein Vokalphonem sind nur die ôffnungsgrad- bzw. Schallfüllegradvorstellungen Es gibt Sprachen, wo die Vokalphoneme nur aus solchen Vor- stellungen bestehen. So steht es z. B. mit dem Adyghischen (westkaukas. Familie). Das adyghische Phonem, das N. Jak- ovlev1 durch „ə” bezeichnet, hat nach Palatalen den objektiv- phonetischen Lautwert eines i, nach oder vor gerundeten Velaren — den eines u, zwischen zwei Labialen — den eines ü, nach Dentalen — den eines y usw. Das Phonem „e” lautet objektiv nach gerundeten Velaren als o, zwischen zwei Labialen — als ö usw. Die Artikulationsstellung bzw. Eigentonhöhe der adyghischen Vokale ist durch die phonetische Umgebung bestimmt und bedingt; unabhangig von dieser Umgebung — und also phonologisch gültig — ist nur ihr Ôffnungsgrad. Daher sind die adyghischen Vokalphoneme reine Öffnungs- bzw. Schall füllegradvorstellungen: „ə” — der minimale, „e” — der mittlere, „a” — der maximale Öffnungs - bezw. Schallfüllegrad. Analoge Verhältnisse scheinen auch in anderen westkaukasischer Sprachen (im Abchazischen und Ubychischen) zu herrschen.
Die Artikulationsstellungs - bzw. Eigentonhöhe - vorstellungen kommen bei Vokalphonemen niemals allein vor, sondern immer nur in Verbindung mit Öffnungsgrad- bzw. Schallfüllegradvorstellungen. Wenigstens habe ich in den mir bekannten Sprachen keine Vokalphoneme gefunden, deren ganzer psychologischer Gehalt bloß in der Vorstellung der vorderen, hinteren oder mittleren Artikulationsstellung bestehen würde. Sobald im Vokalphonem eine Eigentonhöhe-(bzw. Artikulations - stellungs-)vorstellung vorhanden ist, muß auch eine Schall- fülegrad-(bzw. Öffnungsgrad-)vor stellung da sein. In denmeisten Sprachen enthalten die Vokalphoneme nur diese zwei Vorstellungselemente, nâmlich den der Öffnungs- bzw. Schallfüllegrades und den der Artikulationsstellung bzw. Eigentonhöhe.
Über die Vor stellung en der Dauer (Quantitât) und der exspiratorischen Stärke muß folgendes bemerkt werden. R. Jakobson hat das Gesetz formuliert, wonach die Sprachen mit freiem (d. h. phonologisch gültigen) exspiratorischem Akzent keine freie Quantitât, und die Sprachen mit freier (d. h. phonologisch gültiger) Quantitât keinen freien exspiratorischen Akzent zulassen. 2 Aus diesem Gesetze gibt es nur ganz wenige Ausnahmen. Sieht man von diesen ab, so darf man sagen, daß im Sprachbewußtsein nur Vorstellungen der „Intensitât überhaupt” vorliegen, und daß diese Vorstellungen in den einen Sprachen durch quantitative, in den anderen durch exspiratorische Gegensâtze phonetisch realisiert werden. D.h., in den betreffenden Sprachen besteht phonologisch nur der Gegensatz „maximalintensiv : minimalintensiv”, phonetisch wird er aber in der einen Sprache durch den Gegensatz „lang : kurz”, in der anderen — durch den Gegensatz „betont : unbetont” realisiert. Somit gehören die Begriffe „Quantitât” und „exspiratorischer Akzent” nicht zur Phonologie, sondern zur Phonetik. Vom phonologischen Standpunkt besteht der Unterschied zwischen Sprachen mit freiem exspiratorischen Akzent ohne freie Quantitât und den Sprachen mit freier Quantitât ohne freien exspiratorischen Akzent nur darin, daß im ersten von diesen Sprachtypen jedes selbstândige Wort ein starkes (intensives) Vokalphonem enthalten muß, alle übrigen Vokalphoneme desselben Wortes aber schwach (unintensiv) sind, wâhrend im zweiten Sprachtypus die Zahl der starken und schwachen Vokalphoneme in einem selbstândigen Worte unbestimmt ist. Da aber das „selbstândige Wort” ein morphologischer Begriff ist, so ersieht man, daß der Unterschied zwischen den genannten zwei Sprachtypen nicht etwa in der Beschaffenheit der Intensitâtsvorstellungen, sondern lediglich in der morphologischen Funktion dieser Vorstellungen liegt. — Ein phonologischer Unterschied zwischen exspiratorischen und quantitativen Intensitâtsvor stellungen besteht wohl nur in den wenigen Sprachen, die gleichzeitig freien exspiratorischen Akzent und freie Quantitât besitzen. Ich kenne nur zwei solche Sprachen, — das Deutsche und das Englische.
Die Intensitâtsvorstellungen als Teile der Vokalphoneme sind nicht alien Sprachen bekannt. In Sprachen wie das Polnische, das Sorbische oder das Armenische enthalten die Vokalphoneme nur Schallfüllegradvor stellungen und Eigentonvor stellungen, aber keine Intensitâtsvorstellungen : der immer an eine bestimmte Silbe des Wortes (die letzte, die erste, die vorletzte usw. ) gebundene exspiratorische Akzent solcher Sprachen ist nur ein lautliches Zeichen für die Wortgrenze und ruft im Sprachbewußtsein keine Intensitâtsvorstellung hervor.
Betrachtet man die Sprachen, deren Vokalphoneme Intensitâts vor stellungen enthalten, so bemerkt man, daß in allen diesen Sprachen die Vokalphoneme auch mit Eigentonvorstellungen versehen sind. Das Adyghische, dessen Vokalphoneme, wie bereits erwähnt, keine Eigentonvor stellungen enthalten, kennt auch keine Intensitâtsvorstellungen ; der Akzent ist hier „gebunden” (ruht nâmlich immer auf der vorletzten Silbe des Wortstammes) ; lange Vokale werden entweder als Diphthonge empfunden (ë = „ei.”? == 5 ?e1i”‘ 1.== 3?k”? Q === ••9?(“? oder als quantitativ neutral : so ist das Vokalphonem „a” (- „maximaler Schallfüllegrad”) objektiv immer lang, ein kurzes ă kommt vor, wird aber als âußerlich (nâmlich durch die Stellung nach Laryngallauten u. â. ) bedingte phonetische Spielart des Phonems „e” empfunden. Ähnlich wird die Sache wohl auch im Abchazischen liegen, wo der Unterschied zwischen â und ă wohl nicht als ein quantitativer, sondern als ein Schallfülleunterschied empfunden wird.
Was die Melodievorstellungen (Tonhöhe- und Ton- bewegungsvorstellungen) betrifft, so kommen sie als Teile der Vokalphoneme in vielen Sprachen vor; ich persönlich kenne aber nur ganz wenige von diesen Sprachen. Soviel ich übrigens das Material übersehen konnte, finden sich Tonhöhe - und Tonbewe- gungsvorstellungen nur in solchen Sprachen, deren Vokalphoneme auch Intensitâtsvorstellungen enthalten. 3
Somit kommen wir zu folgenden Ergebnissen : — Melo - dievorstellungen setzen das Vorhandensein von Intensitâtsvorstellungen voraus, Intensitâtsvorstellungen — das Vorh andensein von Eigentonvorstellungen, Eigentonvorstellungen —das Vorhandensein von Schallfüllevorstellungen. — Ihrem psychologischen Gehalte nach können die Vokalphoneme zu einem der vier folgenden Typen gehören : erster Typus —Vokalphonem mit nur einer Lautvorstellung, und zwar einer Schallfülle-(bzw. Öffnungs-) gradvorstellung ; zweiter Typus — Vokalphonem mit zwei Lautvorstellungselementen, und zwar einer Schallfiillegradvorstellung und einer Eigentonvorstellung ; dritter Typus — Vokalphonem mit drei Lautvorstellungen, und zwar einer Schallfüllegrad-, einer Eigenton- und einer Intensitätsvorstellung ; vierter Typus — Vokalphonem mit vier Lautvorstellungselementen, und zwar einer Schallfüllegrad-, einer Eigenton-, einer Intensitâtsvorstellung und einer Melodie- (Tonhöhe- bzw. Tonbewegungs-)vorstellung.
3.
Sieht man von den wenigen Sprachen ab, deren Vokalphoneme ausschließlich aus Schallfüllegradvorstellungen bestehen, so darf man sagen, daß die Schallfüllegrade (bzw. Öffnungs-grade) einerseits und die Eigentonklassen andererseits die Koordinaten sind, auf denen jedes Vokalsystem aufgebaut wird. Für die Struktur dieser Systeme ist vor allem die Zahl der Schallfüllegrade und der Eigentonklas sen maßgebend. Ein Vokalsystem muß wenigstens zwei Schallfüllegrade (den maximalen und den minimalen) enthalten ; die meisten Vokalsysteme enthalten noch einen dritten (mittleren), manche sogar einen vierten (ebenfalls mittleren) Schallfüllegrad : man darf also von Vokalsystemen mit zwei, mit drei und mit vier Schallfùllegraden sprechen. Ebenso steht es auch mit den Eigentonklassen, jedoch mit dem Unterschied, daß die meisten Vokalsysteme nur zwei Eigentonklassen (die maximal-hohe und die maximal-tiefe) ent-halten ; viel seltener gesellen sich zu diesen noch eine mittlere, noch seltener — zwei mittlere Eigentonklassen. Es muß dabei ausdrûcklich betont werden, daß alle diese Begriffe relativ sind : jeder gerundete Vokal hat einen tieferen Eigenton als der entsprechende ungerundete und je weiter nach hinten die Zungenmasse zurückgezogen wird, desto tiefer ist der Eigenton des Vokals ; die Ausdriïcke „maximal tief” oder „maximal hoch” beziehen sich nur auf das gegebene System und es kann vorkommen, daß ein Vokal, der vom Standpunkte des gegebenen Systems „maximal tief” ist, vom Standpunkte eines anderen Systems zu einer mittleren Eigentonklas se gehört (das Gleiche gilt selbstverstândlich auch für die Begriffe „maximaler” und „minimaler Schallfüllegrad”).
Außer der Zahl der Schallfüllegrade und Eigentonklassen spielt noch ein Umstand für die Struktur der Vokalsysteme eine Rolle. Wir haben eben gesagt, daß (abgesehen von den Sprachen, der en Vokalphoneme überhaupt keine Eigentonvorstellungen enthalten) jedes Vokalsystem wenigstens zwei Schallfüllegrade und zwei Eigentonklassen enthalten muß. Nun gibt es zwei Typen von Vokalsystemen : in dem einen gibt es einen maximalhochei- gentonigen und einen maximal-tiefeigentonigen Vokal mit maxi- malem Schallfüllegrad, in dem anderen besteht ein einziges maximal-schallvolles (-maximaloffenes) Vokalphonem, das außerhalb der Eigentonklassen steht. Die Vokalsysteme des er sten Typus bezeichnen wir als Vierecksysteme, die des zweiten — als Dreiecksysteme (bzw. -typen). das z. B. im Rutulischen (Sud-Dagestan) auftritt ;4 — nach dem Dreiecktypus gebaut, das System
Die einfachsten Vokalsysteme sind solche, die nur zwei Schallfüllegrade und nur zwei Eigentonklassen enthalten. Das sind : — nach dem Vierecktypus das System
das z. im Rutulischen (Süd-Dagesten)autriff ;4 — nach dem Dreiecktypus gebaut, das System
das in vielen Sprachen, z. B. im Lak (Zentral-Dagestan, 5 im Neupersischen6 und im Arabischen7 auftritt.
Es können nun Vokalphoneme mittlerer Schallfülle- grade eingeschaltet werden, ihre Zahl ist aber in der maximal - hohen Eigentonk1asse immer dieselbe, wie in der maximal-tiefen. So entstehen bei dem mittleren Schallfüllegrade, nach dem Vierecktypus — das System
des Dargwa (Ost-Dagestan) ; nach dem Dreiecktypus — das System
des Lateinischen, Neugriechischen, Polnischen (Schriftspr.),8 Serbokroatischen, Erza-Mordwinischen, Awarischen (West- Dagestan)9, Andischen nebst anderen Sprachen am unteren Andischen Kojssu (West-Dagestan), Arčinischen (Zentral-Dages- tan), Georgischen und zahlreicher anderer Sprachen. — Bei 2 mittleren Schallfüllegraden entstehen : nach dem Vierecktypus — das System
gewisser polnischer Dialekte10 nach dem Dreiecktypus — das System
des Italienischen und das mit ihm gleich gebaute, aber phonetisch ganz anders realisierte System des Sorbischen. 11
Alle bisher erwâhnten Vokalsysteme enthalten nur je zwei Eigentonklassen. Die Systeme mit drei Eigentonklassen sind nicht so hâufig, kommen aber doch ziemlich oft vor. Dabei bleibt es sich ganz gleich, ob die Vokalphoneme der mitt- Ieren Eigentonklasse solcher Systeme phonetisch durch gerun- dete Vokale vorderer Reihe (ü, ö) oder durch ungerundete Vokale mittlerer Reihe (y, œ) realisiert werden. Phonologisch wesentlich für diese Vokalphoneme ist eben nur ihre Stellung im Vokalsystem, d. h. der Umstand, daß sie sich sowohl von der maximaltiefen als auch von der maximalhohen Eigentonklasse unter- scheiden, also die Mitte zwischen diesen zwei Klassen einnehmen.12
Die Zahl der Schallfüllegrade darf in der mittleren Eigentonk1asse niemals größer als in den zwei anderen sein. Die Vokalsysteme mit drei Eigentonklassen können daher in zwei Gruppen eingeteilt werden : A. solche, wo die Zahl der Schallfüllegrade in allen drei Eigentonklassen die gleiche ist, und B. solche, wo die mittlere Eigentonklas se weniger Schallfüllegrade als die zwei anderen enthâlt. Zur ersten Gruppe gehören z. B. das nach dem Vierecktypus gebaute System des Vokalismus der ersten Wortsilbe im Estnischen :
ferner das nach dem Dreiecktypus gebaute System des Votjakischen :
oder das phonologisch ganz analoge, aber phonetisch verschiedene System
des Zyrjânischen. Zur zweiten Gruppe gehören z. B. die nach dem Vierecktypus gebauten Systeme des Finnischen :
des Kürinischen und Tabasaranischen (Süd-Daghestan) :
einiger archaischer neubulgarischer Dialekte14 :
ferner die Dreiecksysteme des Spâtaltgriechischen bzw. Mittelgriechischen),
oder des Tschetschenischen15 :
Schwieriger ist die phonologische Struktur solcher Vokalsysteme zu bestimmen, zu denen das Bulgarische gehört : es kann entweder als ein Vierecksystem mit gleicher Zahl der Schallfüllegrade aller drei Eigentonklassen,
dargestellt werden, oder aber — als ein Dreiecksystem der zweiten Gruppe,
Dasselbe gilt auch für die phonologisch ganz analog gebauten Systeme des Ukrainischen (wo statt „Ъ “ ein „y” auftritt), des Malayischen und gewisser archaischer serbokroatischer Dialekte (vgl. M. Rešetar, „Der štokavische Dialekt”, S. 90 ; s. auch A. Leskien „Grammatik der serbokroatischen Sprache”, S. 108). Es ist zu bemerken, daß in alien diesen Systemen das minimal- schallvolle” (=minimaloffene) Vokalphonem der mittleren Eigentonklasse objektiv-phonetisch durch einen viel offeneren Vokal realisiert wird als die minimalschallvollen Vokalphoneme der beiden anderen Eigentonklassen, — was vom Standpunkte des Vierecksystems wohl leichter zu verstehen ist, als von dem des Dreiecksystems.
Vokalsysteme mit vier Eigentonklassen scheinen selten zu sein. Mir sind nur Vierecksysteme dieser Art bekannt, und zwar solche mit gleicher Schallfüllegradezahl, z. B.
das im Osmantürkischen und in vielen anderen Türksprachen auftritt, und solche, wo die Zahl der Schallfüllegrade in beiden mittleren Eigentonklassen geringer als in den beiden anderen ist, z. B. das System
des Koibalischen und des Karagossischen oder das System
des Altkirchenslavischen.16
Soviel man also nach diesen wenigen Beispielen urteilen darf, scheinen für die Vokalsysteme mit vier Eigentonklassen dieselben Regeln zu gelten, wie für solche mit drei Eigenton- klassen.
4.
In den phonologischen Systemen, die bei Vokalphonemen Intensitätsstufen überhaupt unterscheiden, bestehen immer nur zwei solche Intensitätsstufen — die ?maximale” und die „minimale”. Da, wo objektiv bei quantitativer phonetischer Realisierung „halblange” bzw. „mittelzeitige” Vokale auftreten, oder bei exspiratorischer phonetischer Realisierung der Intensitätsvorstellungen ein „Nebenton” auftritt, — sind das nicht phonologische, sondern rein phonetische Erscheinungen. In solchen Fällen vertritt die Halblânge bei gewissen phonetischen Bedingungen eine Länge oder eine Kùrze, gilt aber phonologisch für diejenige Intensitâtsstufe, die sie eben vertritt. Ebenso ist der Nebenton nur phonetisch vorhanden, für das phonologische Sprachbewußtsein aber ungültig. Phonologische Systeme mit mehr als zwei Intensitâtsstufen scheinen überhaupt nicht zu existieren.
In Sprachen, wo jedes Vokalphonem beide Intensitâtsstufen aufweisen kann, ist das System der maximal-intensiven Vokal-phoneme mit dem der minimal-intensiven der Struktur nach identisch. Phonetisch brauchen dabei die einzelnen langen (bzw. betonten) Vokale ihren Artikulationsmerkmalen nach nicht ganz mit den entsprechenden kurzen (bzw. unbetonten) identisch zu sein. So stehen im Neuper sischen, wie bereits erwâhnt (vgl. oben Fußn. 6) die kurzen Vokale o, α, e den langen û, α, 1, gegenüber ; aber die Struktur des kurzvokalischen und des langvokalischen Systems ist die gleiche : beide bestehen aus einem maximaltiefen und minimalschallvollen Vokal (kurz ô, lang û), einem maximalhohen und minimalschallvollen (kurz ë, lang 1) und einem maximalschallvollen (kurz ä, lang ā). Im Lateinischen waren bekanntlich aile kurzen Vokale offen (ungespannt), alle langen — eng (gespannt), dabei war aber die Struktur des maximal-intensiven (langvokalischen) Vokalsystems mit der des minimal-intensiven (kurzvokalischen) ganz identisch. In anderen altitalischen Dialekten, namentlich im Oskischen, wo ebenso wie im Lateinischen ein Dreiecksystem mit zwei Eigentonklassen und drei Schafffüllegraden bestand, war die phonetische Diskrepanz zwischen den langen und kurzen Vokalen so groß, daß die maximal-intensiven Vokalphoneme mittleren Schallfüllegrades bei phonetischer Realisierung qualitativ mit den minimal-intensiven Vokalphonemen minimalen Schallfüllegrades identisch war (also etwa : lang ū, ō, ā, ē, 1 kurz — o ç a § e) ;17 die phonologische Struktur der Systeme war dabei aber doch für beide Intensitâtsstufen die gleiche. Solche Fâlle partieller qualitativer Unterschiede zwischen den einander ent- sprechenden Vokalen zweier phonologisch ganz gleich gebauter Vokalsysteme verschiedener Intensitätsstufen kommen auch bei exspiratorischer phonetischer Realisierung der Intensitätsvorstellungen vor. 18
Von den eben besprochenen Fällen sind solche zu trennen, wo die Vokalsysteme der zwei Intensitätsstufen ihrer phonologischen Struktur nach voneinander verschieden sind. Diese F’alle sind ziemlich mannigfaltig. Immerhin las sen sich gewisse Typen des Verhâltnisses zwischen zwei verschieden gebauten Vokalsystemen beider Intensitätsstufen aufstellen, die besonders oft wiederkehren. Ich möchte vorlâufig auf zwei solche Typen hinweisen :
A. Sehr oft bilden die Vokalphoneme beider Intensitätsstufen zwei Dreiecksysteme, von denen das der maximal-intensiven Vokalphoneme mehr mittlere Schallfüllegrade enthâlt als das der minimalintensiven. So ist z. B. die Verbindung :
bei exspiratorischer phonetischer Realisierung im Großrussischen19 und in den nördlichen Dialekten des Neugriechischen vertreten. Die für eine bestimmte Entwicklungsstufe des Alt- griechischen bei quantitativer phonetischer Realisierung vor- auszusetzende Verbindung
wiederholt sich bei exspiratorischer phonetischer Realisierung im Vulgärlatein, im Nordukrainischen20 und in gewissen nordgroßrussischen Dialekten21. Einige sogenannte „archaische” sudgroßrussische Dialekte bieten bei exspiratorischer Realisie- rung die Verbindung
Das entgegengesetzte Verhâltnis, nâmlich die Verbindung eines „kleineren” Dreiecksystems maximaler Intensitâtsstufe mit einem größeren Dreiecksystem minimaler Intensitâtsstufe, ist mir bis jetzt nur einmal vorgekommen, — nâmlich, in einer Gruppe hanakischer (mâhrischer) Dialekte des Tschechischen, die keine langen í, ý, ů kennen ; ihr Vokalismus bietet (bei quantitativer Realisierung) die Verbindung :
B. In vielen Sprachen bilden die maximalintensiven Vokal- phoneme ein Dreiecksystem, die minimalintensiven dagegen — ein Vierecksystem. Diese Verbindung bietet z. B. das Ungarische (bei quantitativer Realisierung) :
das Englische (bei quantitativer Realisierung) :
Nach diesem Grundsatz war auch der Vokalismus des Polabischen (ebenfalls bei quantitativer Realisierung der Intensitâtsvorstellungen) gebaut :
Derselbe Typus liegt auch im Norwegisch-Lappischen vor (quant. Real.) :
Das entgegengesetzte Verhältnis, d. h. die Verbindung eines Vierecksystems maximaler Intensitâtsstufe mit einem Dreieck minimaler Intensitâtsstufe, ist mir nur einmal vorgekommen, und zwar in gewissen ostbulgarischen Dialekten (bei exspiratorischer Realisierung) :
Da aber das neubulgarische System der maximalintensiven Vokalphoneme, wie bereits erwâhnt, auch als ein Dreiecksystem gedeutet werden kann (vgl. oben S.), so lâßt der ostbulgarische Vokalismus auch eine andere Auffassung zu, nâmlich :
in welchem Falle er zum oben behandelten „Typus A” gehören würde.
Sonst scheinen die Vierecksysteme maximaler Intensitâtsstufe sich normalerweise mit Vierecksystemen minimaler In- tensitâtsstufe zu verbinden, wobei die „Größe” dieser Vierecke (d. h. die Zahl der Schallfüllegrade und der Eigentonklassen, die sie enthalten) keine Rolle spielt. Übrigens stehen mir nur wenige Beispiele zur Verfügung. So, — das tungusische Vokal- system (nach Castrén), mit quantit. Realisierung der Intensitâtsvorstellungen :
ferner der Vokalismus der ersten Silbe im Kalmûckischen (quantit. Realisierung) :
der Vokalismus des Litauischen (quantit. Realisierung) :
und einige andere Fâlle.
Exkurs.
Wie aus einigen bereits angeführten Beispielen ersichtlich, kommt es ziemlich oft vor, daß ein oder zwei mittlere Schallfüllegrade des Systems der maximalintensiven Vokalphoneme durch Diphthonge vertreten sind : das ist der Fall im Litauischen, Lappischen, archaischen nord- und südgroßrussischen Dialekten und in nordukrainischen Dialekten, — um nur die oben bereits angeführten Vokalsysteme zu erwâhnen. Dabei handelt es sich um solche mit zunehmender Schallfülle (uo, ie, oa, ea usw. ). Aber auch „fallende” Diphthonge kommen in gewissen Sprachen in derselben Funktion vor. Ein solcher Fall scheint z. B. im Schriftdeutschen vorzuliegen, wo die drei Diphthonge au, eu (spr. öü), ei (spr. äi, äe) wohl als zweiter mittlerer Schallfüllegrad des Vokalsystems maximalintensiver Intensitätsstufe (d. h. des Systems der langen Vokale) betrachtet werden diïrfen :
Dieselbe Rolle spielten die fallenden Diphthonge auch im Sanskrit (bei quantitativer Realisierung der Intensitâtsvorstellungen) :
Eine notwendige Vorbedingung des Auftretens der Diphthonge als Vertreter der mittleren Schallfüllegrade in Vokalsystemen maximaler Intensitâtsstufe ist die phonologische Unzerlegbarkeit dieser Diphthonge. Da die phonologische Zerlegung der Lautkomplexe immer nur im Wege der assoziativen Analyse vor sich geht, so ist ein Diphthong, dessen erster oder letzter Bestandteil in derselben Funktion in Verbindung mit anderen Vokalen nicht vorkommt, phonologisch unzerlegbar. Nur ein solcher Diphthong kann im Vokalsystem als Vertreter eines Schallfüllegrades auftreten : so kann z. B. der Diphthong ai diese Funktion nur in solch einer Sprache ausüben, die keine anderen „i-Diphthonge” kennt usw.
Das Auftreten von Diphthongen in Systemen maximalintensiver Vokalphoneme findet manchmal auch in solchen Sprachen statt, wo die maximalintensiven und die minimalintensiven Vokalphoneme ganz gleichgebaute Systeme bilden. So bietet die tschechische Verkehrssprache sowohl für maximalintensive, wie für minimalintensive Vokale fünfgliederige Dreiecksysteme von zwei Eigentonklassen und drei Schallfùllegraden : wâhrend aber bei den minimalintensiven (=kurzen) Vokalphonemen allé Glieder des Systems monophthongisch sind (u, o, a, e, i), ist im System der maximalintensiven (=langen) Vokalphonemen der mittlere Schallfüllegrad durch Diphthonge vertreten (ů, ou, á, ej, í).28 Falls das „ia” der slovakischen Schriftsprache als hocheigentoniges Gegenstück zum tiefeigentonigen „â” betrachtet werden darf, bietet auch das Slovakische eine Verbindung zweier gleichgebauter Vokalsysteme, wo den minimal intensiven monophthongischen Vokalphonemen im maximalintensiven System Diphthonge entsprechen :
Durch die Stellung der phonologisch unzerlegbaren Diphthonge im Vokalsystem läßt sich vielleicht die Zweideutigkeit der Schreibungen „ai”, „au” im gotischen Alphabet erklâren. Die Vokalphoneme des Gotischen enthielten Intensitâtsvorstellungen, die phonetisch quantitativ realisiert wurden. Die Vokalsysteme beider Intensitâtsstufen bildeten „Dreiecke”, wobei das System der maximalintensiven Vokalphoneme vier, das der minimalintensiven nur drei Schallfüllegrade enthielt. Der „erste” mittlere Schallfüllegrad des Langvokalsystems war durch sehr enge ô, ê vertreten, der „zweite” — durch phonologisch-unzerlegbare fallende Diphthonge ; der einzige mittlere Schallfüllegrad des Kurzvokalsystems war durch sehr offene ç, ę vertreten. Also :
Nun war der qualitative Unterschied zwischen den offenen ç, ę und den engen ô, ê so stark, daß o, ę als minimalintensive Aequivalente nicht für den „ersten”, sondern für den „zweiten” mittleren Schallfüllegrad des Systems maximalintensiver Vokalphoneme betrachtet wurden. Obgleich objektiv „au” ein Diphthong, und „o” ein Monophthong waren, wurde das Verhâltnis „au : o” (bzw. „ai : ę”) im phonologischen Sprachbewußtsein etwa mit dem Verhâltnis „û : u” oder „a : ā” gleichgestellt, d. h. als das Verhâltnis zweier Intensitâtsstufen desselben Vokalphonems aufgefaßt. Und da die Intensitât (=Quantitât) der Vokalphoneme im gotischen Alphabet unbezeichnet bleiben (mit Ausnahme von i), so mußten die Schreibungen „au”, „ai” zwei Lautwerte enthalten : bei maximaler Intensitàt (=Länge) — den Lautwert fallender Diphthonge au, ai, bei minimaler Intensitàt (=Kürze) — den Lautwert monophthongischer breiter (offener) o, ę.
5
In den „turanischen” oder „uraltaischen” Sprachen30 werden bekanntlich die formativen Wortelemente niemals präfigiert, sondern immer nur suffigiert : in Sprachen, die diesen Grundsatz streng befolgen, muß also die erste Wortsilbe immer eine Wurzelsilbe sein. Dadurch gewinnt diese Silbe eine psychologische Sonderstellung : sie zieht die Aufmerksamkeit der Redenden und Hörenden auf sich, und zwar nicht nur im höheren Maße, sondern auch in ganz anderer Weise als die übrigen Wortsilben. Die erste Wortsilbe bekommt also für das Sprachbewußtsein eine ganz besondere Intensitàt, die man als morphologische Intensitàt bezeichnen darf. Das phonologische Vokalsystem der ersten Wortsilbe ist nun in vielen Sprachen dieses Typus von dem Vokalsystem der übrigen Silben verschieden. Dabei spielt die Stellung des (gebundenen) exspiratorischen Akzentes gar keine Rolle : in vielen von diesen Sprachen ruht er gar nicht auf der ersten Wortsilbe, sondern auf der Endsilbe. Die morphologische Intensitàt der Wurzelsilbe ist eben von der phonetischen Intensitàt der betonten Silbe grundsâtzlich verschieden.
Für die Sprachen des obenerwâhnten Typus müssen also immer Verbindungen von zwei Vokalsystemen aufgestellt werden : eines Vokalsystems der „morphologisch-starken” und eines der „morphologisch-schwachen” Silben ; so z. B. für die erza-mordwinische Mundart des Dorfes Kaljajevo (Kreis Temnikov, Guvern. Tambov) :
Be sonders oft zeichnen sich dabei die Vokalphoneme der morphologisch-schwachen Silbe durch den Mangel an Eigenton- (bzw. Artikulationsstellungs-) Vorstellungen aus. Sehr oft enthalten sie nur Schallfüllegrad-(bzw. Ôffnungsgrad-) vorstellungen ; bei phonetischer Realisierung wird dann die Artikulationsstellung solcher Vokale durch die Qualitât der umgebenden Konsonanten oder durch den Eigenton des Vokals der vorhergehenden Silbe bestimmt. So bieten z. B. gewisse erzamordwinische Mundarten in morphologisch-schwachen Silben drei Vokalphoneme, A, E, I, bestehend ausschließlich aus Schallfüllegrad-(bzw. Ôffnungsgrad-)vorstellungen : dabei wird „I” nach palatalisierten Konsonanten als i, nach nichtpalatalisierten — als y ( = Ы) phonetisch realisiert ; „E” lautet nach palatalisierten Konsonanten als i, nach nichtpalatalisierten — entweder als œ (nâmlich, wenn die vorhergehende Silbe u, o oder œ enthält), oder als o (nâmlich, wenn die vorhergehende Silbe u, o oder a enthâlt). In den von A. Šachmatov („M0p«0BCKMM 3TH0rpa4>M1eCKHM CÔopHMK? St. Petersburg 1910, 721 ff.) beschriebenen erza-mordwinischen Mundarten der Dörfer Orkino und Karabulak bestehen in morphologisch-schwachen Silben nur zwei Vokalphoneme, die beide nur Schallfullegrad-vorstellungen enthalten : das eine Vokalphonem, das den maximalen Schallfüllegrad vertritt, wird immer durch a phonetisch realisiert ; das andere, das den minimalen Schallfüllegrad vertritt, wird je nach der phonetischen Umgebung durch die Vokale u, o, y, œ, i, e realisiert. Die Verhâltnisse sind dabei ziemlich kompliziert : nach palatalisierten Konsonanten tritt e auf, wenn die vorhergehende Silbe o oder e enthâlt, sonst — i. ; nach nichtpalatalisierten koronalen Konsonanten tritt œ auf, wenn die vorhergehende Silbe o oder £ enthâlt ; nach oder vor Labialen und nach Dorsalen tritt bei derselben Bedingung ein o oder ö auf ; wenn die vorhergehende Silbe u enthâlt, so tritt nach Dorsalen, nach Labialen und vor Labialen ein u, sonst — ein y ( = Ы) auf ; wenn die vorhergehende Silbe a oder y (bzw. i) enthâlt, tritt nach Labialen und vor Labialen u, sonst — y ( = Ы) auf. Hier wirken also einerseits die umgebenden Konsonanten, anderer- seits der Vokal der vorhergehenden Silbe. Das ailes bezieht sich aber nur auf die phonetische Realisierung : phonologisch enthalten hier die Vokalphoneme der morphologisch-schwachen Silben eben gar keine Eigentonvorstellungen, sondern nur Schall- fulle g radvor stellungen.
Bei schematischer Vereinfachung und konsequenter Durch- fuhrung dieses Grundsatzes entsteht die unter dem Namen „Vokal- harmonie” bekannte Erscheinung. Die Turksprachen, wie das Kasakische (Kirgisische), Kasantatarische u. a., wo diese Erscheinung herrscht, bieten in morphologisch-schwachen (d. h. „nicht-ersten”) Wortsilben nur zwei Vokalphoneme, die ausschließlich Schallfüllegrad-(bzw. Ôffnungsgrad-)vorstellungen enthalten : „A” — die Vorstellung des maximalen, und „I” — die Vorstellung des minimalen Ôffnungsgrades. Bei ihrer phonetischen Realisierung bekommen diese Vokale die Artikulationsstellung des Vokals der vorhergehenden Silbe (bei Beibehaltung ihres eigenen Ôffnungsgrades). Der Kasaner Phonetiker G. Šaraf hat dabei experimentell nachgewiesen, daß im Kasantatarischen, sowie in vielen anderen Türksprachen, aile Konsonanten in den „hintervokalischen” Wörtern velarisiert, in den „vordervokalischen” dagegen palatalisiert sind :32 der phonetische Lautwert (genauer : die Artikulationsstellung und die Eigentonhöhe) der Vokale morphologisch-schwacher („nichterster”) Wortsilben wird somit gleichzeitig sowohl durch die Qualitât des Vokals der vorhergehenden Silbe, als auch durch die Färbung der umgebenden Konsonanten bestimmt.
Der Grundsatz, daß das System der Vokalphoneme in den morphologisch-schwachen Silben nicht dasselbe, wie in der morphologisch-starken Anfangssilbe ist, besteht auch in solchen turanischen Sprachen, wo die Vokalharmonie getrübt ist und Lücken aufweist. So kommen z. B. im Finnischen die Laute ü (geschr. „y”) und ö sowohl in Anfangs- wie in Binnen- und End- silben vor, aber ihr psychologischer Gehalt ist nicht in allen Silben der gleiche : in erster Wortsilbe sind ü, ö selbstândige, unabhângige Phoneme ; in den übrigen Silben sind ü, ö (bzw. ǖ, ö) nur âußerlich, phonetisch (und zwar durch das Vorhandensein von ö, ü, â in der vorhergehenden Silbe) bedingte Laut- varianten der Phoneme u, o (bzw. u, o). Das Finnische bietet also die Verbindung :
Verwickelte Zustânde ergeben sich manchmal aus der Kreuzung der morphologischen Intensitâtsstufen mit den phonologischen. Wenn nâmlich in einer Sprache der Vokalismus der ersten Silbe sich von dem der übrigen unterscheidet und andererseits das System der phonologisch-maximalintensiven (langen) Vokalphoneme eine andere Struktur als das der minimal- intensiven (kurzen) Vokalphoneme aufweist, — so ergibt sich für die betreffende Sprache eine Kombination von drei oder vier miteinander verbundenen, aber voneinander ver schiedenen Vokalsysteme. Ein solcher Fall scheint im Kalmückischen vor- zuliegen. Nach Remstedts Aufzeichnungen zeigt hier der Vo- kalismus der ersten (d. h. morphologisch-starken) Wortsilbe die Verbindung :
und der Vokalismus der übrigen (d. h. morphologisch-schwachen) Silben — die Verbindung :
Bei näherer Untersuchung werden sich wohl viele andere âhn- liche Fâlle finden lassen.
6.
Für die Erforschung der Rolle der Melodie- oder Intonationsvorstellungen beim Aufbau der phonologischen Vokalsysteme wâre es notwendig, die ostasiatischen und afrikanischen Sprachen heranzuziehen, die mir ganz unbekannt sind. Ich muß mich daher mit einigen Bemerkungen begnügen, die ich auf Grund einer kleinen Anzahl indogermanischer Sprachen mit dem sogenannten „musikalischen Akzent” machen kann. Vor allem muß betont werden, daß auch in dieser Frage der phonologische und der phonetische Standpunkt streng auseinander zu halten sind. Das objektiv-phonetische Wesen des „musikalischen Akzents” ist nicht immer klar. Es ist schwer zu entscheiden, ob es sich um die Verânderung der Hôhe des Grundtones oder der mitschwingenden Töne handelt ; auch das Verhâltnis zwischen Tonbewegung und Verânderung der exspiratorischen Stârke ist schwer zu bestimmen, — jedenfalls spielt das exspiratorische Element bei jedem „musikalischen” Akzent eine bedeutende Rolle. Von rein phonologischem Standpunkte aber lassen sich in allen mir bekannten Sprachen mit „musikalischem Akzent” deutliche Intonationsvorstellungselemente feststellen. Das sind einerseits — zwei Stufen der Tonhöhe (die maximale, d. h. der „Hochton”, und die minimale, d. h. der „Tiefton”) und andererseits — zwei Richtungen (oder Arten) der Tonbewegung, die, wenigstens in den mir zugânglichen Sprachen, nur bei maximaler Tonhöhevorstellung (d. h. „unter dem Tone”) auftreten. Man kann die eine von diesen Tonbewegungsvorstellungen als „fallende”, die andere als „steigende” bezeichnen. Vom phonetischen Standpunkte sind diese Bezeichnungen sehr ungenau, umsomehr, als die betreffenden Akzent- bzw. Intonationsarten in jeder Sprache anders realisiert werden : in der einen Sprache handelt es sich wirklich um einen Unterschied der Tonhöhe des Anfanges und des Endes der Silbe ; in der anderen steht einem eingipfligen Akzent ein zweigipfliger gegenüber ; im štokavischen Dialekt des Serbokroatischen spielt das Tonhöheverhâltnis des Gipfels der betreffenden Silbe zu dem der folgenden Silbe eine Rolle usw. Phonologisch wesentlich ist aber, daß die zwei Tonbewegungsvorstellungen im Sprachbewußtsein nicht nur als voneinander verschieden, sondern als einander entgegengesetzt empfunden werden. Und daher dùrfen die Ausdrücke „fallend” und „steigend”, trotz ihrer offenkundigen Ungenauigkeit, als rein konventionelle Bezeichnungen beibehalten werden.
Die Verhältnisse der Intonationsvorstellungen zu den Intensitâts-(=Quantitâts-)vorstellungen gestalten sich in den mir bekannten Sprachen sehr verschieden. Im štokavischen Dialekt des Serbokroatischen (genauer : in dem von Vuk Karadžić zur Literatursprache erhobenen Dialekt) bestehen drei Intonationsvorstellungen („fallend”, „steigend”, „tieftonig”), und jede von ihnen kann sich mit beiden Intensitâtsvorstellungen („lang”, „kurz”) verbinden, so daß im Ganzen sechs solcher Verbindungen entstehen : „lang-fallend”, „lang-steigend” , „lang-tieftonig”, „kurz-fallend”, „kurz-steigend”, „kurz-tieftonig”. Im čakavischen Dialekt des Serbokroatischen bestehen vier Intonationsvorstellungen („fallend”, „steigend”, „tieftonig” und „hochtonig”), von denen die ersten zwei sich nur mit der maximalen Intensitâtsvorstellung ( = ,,Lange”), die vierte — nur mit der minimalen Intensitâts vor stellung ( = „Kurze”) verbindet, und nur die dritte sich mit beiden Intensitâtsvorstellungen vereinigt. Im Ganzen entstehen hier also fünf Verbindungen : „lang-fallend”, „lang- steigend”, „lang-tieftonig”, „kurz-tieftonig”, „kurz-hochtonig”. Dasselbe phonologische Bild wie im Čakavischen finden wir auch im Litauischen, und auch das altgriechische Intonationssystem mufi seinem phonologischen Werte nach damit identisch gewesen sein. 35 Anders schaut das Intonationssystem des Slovenischen aus : hier sind die maximal-intensiven (=langen) Vokalphoneme entweder „fallend” oder „steigend”, aber niemals tieftonig, wogegen die minimalintensiven (=kurzen) entweder „tieftonig” oder „hochtonig” sind, so dafi im ganzen vier Verbindungen bestehen („lang-fallend”, „lang-steigend”, „kurz-tieftonig”, „kurz-hochtonig”). Endlich bietet das Intonationssystem des „Slowinzischen” (eigentlich : des slowinzischen Dialektes des Kaschubischen) noch ein anderes Bild : hier konnen die maximal- intensiven (nach Lorentz : „überlangen”, „langen” und „halb- langen”) Vokalphoneme sowohl fallend (nach Lorentz : „unter scharfem Ton”), als steigend (nach Lorentz : „unter dehnendem Ton”) und tieftonig (nach Lorentz : „unbetont”) erscheinen, die minimalintensiven (=kurzen”) Vokalphoneme dagegen immer nur tieftonig („unbetont”), so daß hier wiederum vier Verbindungen entstehen, die aber von denen des slovenischen Intonations systems verschieden sind („lang-fallend”, „lang-steigend”, „lang- tieftonig”, „kurz-tieftonig”).
In den meisten mir bekannten Sprachen sind die Vokal- systeme der einzelnen Intensitats stufen von den Intonations- arten unabhângig. So-bietet z. B. das Litauische unter „lang- fallender” Intonation genau dieselben Vokalphoneme wie unter „lang-steigender” oder „lang-tieftoniger”. In einigen Sprachen findet jedoch eine gewisse Differenzierung nach den Intonations- arten statt, wobei sie sich noch mit der Differenzierung nach Intensitats stufen kreuzt. So sind im Slovenischen die minimal- intensiven (d. h. kurzen) Vokalphoneme unter Tiefton nicht die- selben wie unter Hochton, so dafi hier eine Verbindung von drei Vokalsystemen entsteht :
In der slowinzischen Mundart des Kaschubischen bestehen sogar vier solçhe miteinander verbundene und voneinander ver- schiedene Vokalsysteme :
Ich kann nur diese einzelnen Fâlle konstatieren. Allge- meine Regeln über die Struktur solcher kombinierter Vokal- systeme dürfen erst dann aufgestellt werden, wenn möglichst viele Sprachen mit „musikalischem Akzent” von diesem Stand- punkte untersucht sein werden.
7.
Ich glaube oben gezeigt zu haben, daß die Struktur der pho- nologischen Vokalsysteme gewissen allgemeinen Regeln und Gesetzen unterworfen ist, deren Zahl bei weiterer und tieferer Untersuchung der Sprachen des Erdkreises noch vermehrt werden kann. Die Wichtigkeit der Erforschung solcher Struk- turgesetze der phonologischen Vokalsysteme und Lautsysteme iiberhaupt ist ünleugbar. Nicht nur die „statische”, deskriptive Grammatik, sondern auch die historische Grammatik, die Sprachgeschichte konnen aus der Aufdeckung dieser Struktur- gesetze Nutzen Ziehen. Bei der Interpretation der Alphabete alter toter Sprachen, bei der theoretischen Rekonstruktion âlterer Stufen der Lautentwicklung, bei der Bestimmung der relativen Chronologie gewisser Lautveränderungen, — wird die Kenntnis der phonologischen Strukturgesetze den Forscher von manchem Fehler abhalten. Oft geben die phonologischen Struk- turgesetze Aufschluß über die Ur sache gewisser Lautverânderungen : viele Lautveränderungen sind nâmlich durch das Bedürfnis nach der Errichtung eines lebensfähigen (d. h. den Strukturgesetzen entsprechenden) Lautsystems hervorgerufen ; jede Lautverânderung, die etwas im phonologischen System verschiebt, zieht andere Lautverânderungen nach sich, durch die das ganze System entsprechend umgebaut und „in Ordnung gebracht” wird. Die Lautgeschichte bekommt Sinn, wird zu einer zweckmâßigen Umgliederung eines Systems benützt. Was die Bedeutung der phonologischen Strukturgesetze für die statische, deskriptive Sprachwissenschaft betrifft, so ist sie offensichtlich und braucht nicht ausdrücklich betont zu werden. Endlich, mag auch auf den rein praktischen Wert der Aufstellung phonologischer Strukturgesetze hingewiesen werden.
Die Beobachtungen über die Struktur der phonologischen Vokalsysteme, die ich hier skizziert habe, sind ungenügend, weil die Zahl der Sprachen, die ich dabei verwerten konnte, im Vergleiche mit der Gesamtzahl der Sprachen der Erde verschwindend gering ist. Ganz zuverlâßliche Gesetze können nur dann aufgestellt werden, wenn für möglichst viele (wenn nicht für alle) Sprachen der Welt phonologische Lautsysteme ermittelt und miteinander verglichen werden. Nun ist aber gerade die Ermittlung der phonologischen Systeme der meisten Sprachen mit großen technischen Schwierigkeiten verbunden. Freilich beginnt fast jede Sprachlehre oder Grammatik mit dem Kapitel „Lautlehre” oder „Lautsystem”. In sehr vielen, ja vielleicht sogar in den meisten Fällen gibt jedoch dieses Kapitel über das phonologische System der betreffenden Sprache sehr wenig Aufklärung. Meistens wird in dem genannten Kapitel nur der objektiv-phonetische Wert der einzelnen in der betreffenden Sprache tatsâchlich vorkommender Laute angegeben, — daraus ist aber noch gar nicht ersichtlich, aus wievielen und aus welchen Phonemen das phonologische System dieser Sprache besteht. Die einfache Beschreibung des phonetischen Inventars einer Sprache genügt für die Ermittlung des phonologischen Systems nicht. Um auf Grund dieses Inventars das phonologische System zu erschließen, muß man vor allem wissen, in welchen phonetischen Stellungen und unter welchen Bedingungen jeder von den beschriebenen Lauten in der betreffenden Sprache tatsâchlich vorkommt, und in welchen anderen Stellungen er nicht vorkommen darf. Dariïber enthâlt aber das Kapitel „Laut- system” in sehr vielen Grammatiken gar keine Angaben. Der Forscher, der das phonologische System der betreffenden Sprache ermitteln will, muß selbst die Bedingungen des Auftretens jedes einzelnen Lautes eruieren ; er kann sich nicht mit dem Kapitel „Lautsystem” begnügen, sondern muß die ganze Grammatik durchlesen, das Wörterbuch durchprüfen und oft noch die Texte durchstudieren. Für einen Forscher, der die betreffende Sprache nicht kennt, und der sich auch noch niemals mit Sprachen der betreffenden Familie befaßt hat, ist eine solche Arbeit sehr schwierig und zeitraubend ; und es ist daher auch ganz natürlich, daß bei der Ermittlung der phonologischen Systeme verschiedener Sprachen jeder Forscher sich mit einer beschrânkten Anzahl von Sprachen der ihm näher bekannten Sprachfamilien begnügen muß.
Aus dem eben gesagten folgt : erstens, daß die Erforschung der phonologischen Strukturgesetze, die sich auf einer vergleichenden Untersuchung der phonologischen Systeme aller oder möglichst vieler Sprachen der Welt basiert, nur im Wege einer internationalen Zusammenarbeit geführt werden kann, zu der die auf dem Gebiete verschiedener Sprach-familien arbeitenden Sprachforscher herangezogen werden müssen ; zweitens : daß künftighin bei dem Abfassen von Sprachlehren und Grammatiken oder Beschreibungen verschiedener Sprachen und Dialekte eine besondere Aufmerksamkeit der Ermitte1ung und genauen Beschreibung des phonologischen Systems des betreffenden Idioms geschenkt werden soil.
Während der Tagung des Ersten Internationalen Linguisten-kongresses in Haag (1928) wurden diese praktischen Probleme in Privatgesprächen unter einigen Kongreßmitgliedern viel erörtert. Eine kleine Gruppe der Kongreßmitglieder, bestehend aus Prof. W. Czermak (Afrikanist, Wien), Prof. N. Jakovlev (Kaukasologe, Moskau), Prof. A. W. de Groot (Klassischer Philologe, Amsterdam), Prof. V. Mathesius (Anglist, Prag), Dr. R. Jakobson (Slavist, Prag) und dem Unterzeichneten, be- schloß, eine internationale „Gesellschaft für die vergleichende Erforschung der phonologischen Systeme der Welt” zu gründen.38 Vorlâufig hat dieser Beschluß noch keine praktische Verwirklichung bekommen ; eine solche wird nur dann möglich sein, wenn die Gedanken, die uns zum genannten Beschluß führten, weiteren Kreisen der Sprachforscher bekannt sein werden. Durch den obigen Beitrag zur allgemeinen Theorie der phonologischen Vokalsysteme möchte ich hauptsâchlich den Gedanken der ver- gleichenden phonologischen Systemlehre und den Nutzen einer vergleichenden Erforschung der phonologischen Systeme der Welt den Sprachfor schern nahelegen, sie zur Arbeit in derselben Richtung anregen. Sollten einige Sprachforscher dabei den Wunsch bekommen, sich der hier erwâhnten geplanten Gesellschaft für allgemeine und vergleichende Phonologie anzuschließen, bitte ich sie, mir davon Mitteilung zu machen.39
Notes
1. H. Яковлев, „Таблицы фонетики кабардинского языка” (Труды Подразряда Исследования Севернокавказских Языков при Институте Востоковедения в Москве, Выпуск I, Москва 1923), VGL. AUCH DERSELBE, „Материалы для кабардинского словаря, выпуск I” (Комитет по Изучению Языков и Этнических Культур восточных наропов СССР. NO. 6, Москва 1927).
2. Роман Яковбсон,..0 чешском стихе, преимущественно в сопоставлении с русскими” (=Сборники по теории поэтического языка, вып.՝՝/՝). Москва-Берлин 192 3.
3. Vgl. Verf. in der „Zeitschr. f. slav. Philol.” I. S. 303 f.
4. Bei phonetischer Realisierung wird das rutuHsche ə nach w und nach gerundeten Konsonanten als u gesprochen.
5. Bei phonetischer Realisierung werden im Lak alle Vokale nach „emphatisch-palatalisierten” Konsonanten mit gepresster Stimme ausgesprochen, und zwar a als ä, u eds ö und i als e ; in den übrigen Stellungen lauten diese Vokale als „reine” a, u, i.
6. Bei phonetischer Realisierung werden im Neupersischen die kurzen u, a, i als o, ‘å, e gesprochen ; von den langen Vokalen wird ã mit Rundung (dial, geradezu als õ) gesprochen.
7. Bei phonetischer Realisierung erleiden im Arabischen alle Vokale nach emphatischen, hintervelaren und laryngalen Konsonanten gewisse Veränderungen. So wird i nach q und nach emphatischen Lauten als î (=?), nach Laryngalen als e gesprochen ; u und a, die sonst ëtwas palatalisiert sind, lauten in dieser Stellung als hintere Vokale, und zwar u — als o, und a — als „reines” oder etwas gerundetes a bezw. å.
8. Zur phonetischen Realisierung ist zu bemerken, dafi das Phonem „i” im Polnischen nach harten (d. h. nicht palatalisierten) Konsonanten als ein Vokal der mittleren Reihe y ( = ы) gesprochen wird. ~
9. Sowohl im Awarischen als im Arčinischen werden die Vokale u, o, a nach emphatisch-laryngalen Konsonanten als ü, ö, ä gesprochen.
10. Das Verhältnis zwischen ,,á” und „?” in diesen Dialekten realisiert sich phonetisch gewöhnlich so, dafi „å” mit Rundung (å) und „?” ohne Rundung gesprochen wird. Es gibt aber einige Mundarten, wo ,,a” palatalisiert (d. h. als ä) gesprochen wird, während „á” ungerundet ist. (Vgl. A. K. Nitsch in „Encyklopedya Polska” Tornili, Dzial III, Czeéé II S. 264.) Das phonologische Bild wird dadurch nicht verändert.
11. Im Sorbischen wird nämlich der „erste mittlere” Schall- fullegrad, der im Italienischen durch monophthongische о e ver- treten ist, durch diphthongische ó (spr. uo), ё (spr. ig) phonetisch realisiert ; nach nichtpalatalisierten Konsonanten lauten i, e wie Vokale mittlerer Reihe (y, æ) ; vor palatalisierten Konsonanten wird e eng (gespannt) gesprochen usw.
12. Damit erklärt sich auch die psychologische Erscheinung der Substitution von ? (=Ы) durch ü die man oft z. B. bei Deut- schen beobachten kann, die Russis”ch oder Polnisch lernen.
13. Im Tabasaranischen wird ü nach hintervelaren Konsonanten als ö gesprochen ; manchmal klingt auch u als o.
14. Gemeint ist vor allem der von J. Ivanov beschriebene Dialekt des Dorfes Suho unweit von Saloniki (s. Revue des études staves, II 861) ; zur phonetischen Realisierung sei nur bemerkt, daß die Vokale o, a, e, ä in betonten Silben offen (ungespannt), in unbetonten — verengt (gespannt) gesprochen werden.
15. Zur phonetischen Realisierung ist folgendes zu bemer- ken : die Vokalphoneme der mittleren Eigentonklassen werden durch ungleichmäfiiggerundete Vokale vorderer Reihe realisiert, nämlich durch Vokale, die nur in ihrem ersten Teile gerundet, im zweiten aber ungerundet sind ; die Vokalphoneme ш, ö, e werden durch ungleichmäfiig-gespannte Vokale realisiert, d. h. durch solche, deren Anfang enger als deren Ende ist (also = uo, ձ — ie, ö = üe).
16. Darunter verstehe ich das Lautsystem des Protographen solcher aksl. Denkmäler, wie die Codd. Zographensis und Marianus. Zur phonetischen Realisierung ist hier folgendes zu bemerken. Im Anlaute und nach Vokalen lauteten ii, ö, i, e als ju., jö, je ; denselben Stellungen wurde ë als ja gesprochen, sonst lautete es wie eå (aber nach den randpalatãlen n, 1, r — als a ) ; y, се, Ъ , Ь kamen nur nach Konsonanten vor ; œ> ö — nur vor rj (=glagolit °e)> z. B. glagolör) „sie reden”, ëdœi) „essend” ; dagegen kamen e, o sowohl vor g (z. B. perjtb „funi”, zorjbb „Zahn”), als auch in ånderen Stellungen vor.
17. Es mag dabei dahin gestellt werden ob die hier durch o,e bezeichneten Vokale gespannte Vokale mittlerer Bildung oder ungespannte Vokale oberer Bildung waren. Sie werden bekannt- lich im Oskischen durch die Zeichen ú, iwiedergegeben.
18. Vgl. z. B. oben Fussn. 14.
19. Zur phonetischen Realisierung: nach „harten” (nicht- palatalisierten Konsonanten werden e, i als Vokale der mitt- leren Reihe (oe, y) gesprochen ; zwischen zwei palatalisierten Konsonanten lauten u, o, a als u, ö, ä ; e ist vor palatalisierten Konsonanten eng (gespannt), sonstbreit (ungespannt) ; das minimalintensive („unbetonte”) a lautet im Anlaute, nach Vokalen und in unmittelbar-vortoniger Silbe als a, sonst als £ („?”).
20. Bei phonet. Realisierung lauten hier die engeren mitt- leren Vokale als Diphthonge (5 = uo, ue ; T = ie), in unbetonten Silben — als enge o, e ; пасЬЪа^еп (nîchtpalatâlisierten) Konsonanten werden e, e, i als Vokale der mittleren Reihe (oe, oe, y) gesprochen.
21. Z. B. in dem von O. Broch beschriebenen Dialekte von Totjima (Тотьма).
22. Hier sind 0, ê enge Vokale, deren Anfang enger als ihr Ende ist (uç, ie ?) das unbetonte a wird bald als a, bald als э (Ъ) gesprochen.
23. Unter „?” verstehe ich dabei den Vokal des engl. Wortes but usw., unter „9” den „unbestimmten Vokal der unbetonten Silben” wie z. B. in den Endungen -ed, -es usw.; das lange „i” ist meistens diphthongisch (ei).
24. Gemeint ist der polabische Dialekt, der sich hauptsächlich in den Aufzeichnungen „Pfeffingers” abspiegelt. Dabei muß ich bemerken, dafi meine Auffassung des polabischen Lautsystems ziemlich stark von jener abweicht, die T. Lehr-Splawinski (zuletzt in seiner grundlegenden „Gramatyka polabska”, Lwów 1929) vertritt, weshalb ich auch eine andere Transskription ver- wenden muß. Durch a bezeichne ich jenes polabische Phonem, das T. Lehr-Splawinski durch å transskribiert. Ich unterscheide zwei polabische e-Laute: — polab. ê war ein enger (gespannter)- Vokal, der historisch aus urslav. *e vor Nasalen (jedenfalls vor n) und aus urslav. in allen Stellungen aufier vor harten Dentalen entstanden ist und von Pfeffinger bald durch e, bald durch i, bald durch ey, von Mithoff bald durch e, bald durch ey wie- dergegeben wird ; polab. e war ein br eiter Vokal,, der historisch aus urslav. *e vor „harten” (nichtpalatalisierten) Konsonanten aufier n (und m?) entstanden ist und in allen unser en Quellen aus- schlieMich durch e-Zeichen (e, ee, eh) wiedergegeben wird ; was den Laut betrîïft, den T. Lehr-Splawinski durch é bezeich- net, so kam er nur nach j, b, t), x vor, — d. h. geråde nach solchen Lauten, nach denen das normale breite e nicht vorkam, — muflte daher im Sprachbewufitsein als eine phonetisch bedingte Variante des Phonems „e” empfunden werden. — Polab. u kam in echtpolabischen Wörtern nur vor tauto syllabi s chem Nasal vor. Polab. ö, ii waren meiner Auffassung nach nur in ihrem ersten Teile gerundet (=ui, oe). — Von den minimalintensiven („schwa- chen”) Vokalen kamen in echtpolabischen Wörtern nur ä und S_ vor, die ubrigen — nur in Lehnwörtern aus dem Niederdeut- schen ; ä war immer breit, S war in geschlossener Silbe enger als in offener.
25. Das minimalintensive (unbetonte) a ist bei der phoneti- schen Realisierung so stark verengt, dafi es seinem objektiv- phonetischen Lautwerte nach nicht dem betonten a, sondern dem betonten ъ entspricht.
26. Lit. y = I, u = uo, ё = ie ; è ist ein enges (gespanntes) ё; dagegen sind lit. ё, e ungespannt.
27. Seiner Struktur nach ist dieses System ganz mit dem der bereits erwähnten archaischen siidgrofirussischen Mundarten identisch :
aber die phonetische Realisierung beider Systeme ist ganz ver- schieden. Abgesehen davon, dafi die Intensitätsvor stellungen im Sanskrit quantitativ, im Grofirussischen exspiratorisch realisiert werden, brauchen wir hier nur auf den Unterschied in der Realisierung der mittleren Schallfullegrade hinzuweisen : der „erste” mittlere Schallfúllegrad ist im Sanskrit durch monophthongische 5, ë, in den genannten grofiruss. Dialekten durch steigenddiph- thongische uo, 1e realisiert ; der „zweite” mittlere Schallfúllegrad — im Sanskrit durch fallende Diphthonge, im Grofirussischen — durch monophthongische o, e.
28. Die Diphthonge ou, ej ?der tschechischen Verkehrs- sprache sind phonologiscFfunzerlegbar : ou ist der einzige u- Diphthong (Fremdwörter, wie pausai fallen ja aus dem System der Verkehrssprache heraus und kommen nicht in Betracht) ; was die i-Diphthonge betrifft, so lassen sich oj, aj, áj immer morphologisch in „Vokal + j” zerlegen (z. B. cTojnice — dojiti usw.), und nur ej kommt wirklich als morphologisch und phono - logisch unzerlegbares Ganzes (z. B. in dejm, bejk usw.) vor.
29. Falls die hier gegebene Deutung des slovak, „ia” (die mir R. Jakobson vorschlug) nicht richtig sein solite, wurde das slovakische Vokalsystem als die Verbindung :
aufzufassen sein.
30. Diese Ausdrucke sind nicht in genetischem, sondern im typologischen Sinne zu verstehen. Ob die betreffenden Spra- chen miteinander urverwandt sind, mag dahingestellt bleiben.
31. Bei phonetischer Realisierung lautet ,,i” im Anlaute und nach palatalisierten Konsonanten als echtes _i_i nach nichtpalatali - sierten Konsonanten dagegen als ein Vokal mittlerer Reihe y (=?).
32. S. Галимд-кан Шараф, „Палятограммы звуков татарского языка сравительно с русскими”, Казань 1927.
33. Ich betone, dafl dieses Schema nur den psychologischen Gehalt, den phonologischen Wert, nicht aber das phonetische Wesen des finnischen Vokalismus wiedergeben soll. Ùbrigens, scheint zwischen dem Vokalismus der ersten Wortsilbe und dem der iibrigen Silben im Finnischen ein gewisser Unterschied auch in Hinsicht auf die phonetische Realisierung der einzelnen Phoneme zu bestehen. So werden die Vokalphoneme des mitt- leren Schallfullegrades, wenn sie lang sind, in erster Wortsilbe durch Diphthonge (geschr. uo, yö, ie), in den iibrigen Silben — durch monophthongische lange Vokale (geschr. 00, öö, ее) phonetisch realisiert.
34. Als Quelle benutzte ich G. J. Ramstedt „Kalmuckische Sprachproben” (Mémoires de la Société F i nn? - Ougrienne XXVII, Helsingfors 1909-1919). Zur phonetischen Realisierung : — das Phonem ц wird in morphologisch-schwa- chen Silben entweder durch u oder durch iï realisiert, je nach- dem, ob die vorhergehende Silbe einen hinteren oder einen vorderen Vokal enthält ; „A” wird nach einer Silbe mit hinterem Vokal durch ?, nach einer Silbe mit vorderem Vokal — durch a realisiert ; „I” transskribiert Ramstedt in freier Stellung Tz- B. im Auslaute) durch _? ; vor tauto syllabi schen Liquidis und Nasalen wird „I” uberhaupt nicht realisiert, sondern in solchen Fallen treten objektiv nur silbebildende Liquidae und Nasale auf. — Es scheint, dafi in gewissen Dialekten der Unter- schied zwischen „?” und „I” ganz aufgegeben ist. Die heutige kalmuckische Schriftssprache (zugleich offizielle Sprache des kalmuckischen autonomen Gebiets) kennt in morphologisch- schwachen Silben nur einen kurzen Vokal, der in der neuen Rechtschreibung durch э wiedergegeben wird.
35. Dabei mufi der Zirkumflex als „fallend”, der Akut auf langen Silben als „steigend” betrachtet werden ; da in kurzen Silben der Gegensatz zwischen Zirkumflex und Akut nicht bestand, so konnten in diesen Silben die Tonbewegungsvorstellungen nicht bestehen, und der „Aleut auf kurzen Silben” mufite phonolo- gisch einfach als Hochton geiten. Was den Gegensatz von Akut und Gravis betrifft, so war er äuflerlich (phonetisch) bedingt und konnte daher nur einen phonetischen Wert, aber keine phono- logische Gultigkeit besitzen.
36. In vortonigen Silben ist das tieftonige о sehr eng und kann sporadisch geradezu durch u ersetzt werden ; in nachtonigen Silben scheint dagegen o offen zu~sein. Näheres s. bei O. Broch, „Slavische Phonetik” S. 122 ff.
37. Zur phonetischen Realisierung : — Die tieftonigen maxi- malintensiven Vokalphoneme sind kurzer als die hochtonigen (also „halblang”). Die langfallenden Vokale sind gespannt, und zwar steigendgespannt, so dafi sie bei gunstigen Bedingungen zu fallenden Diphthongen werden : „?”, „?”, „?” lauten in freier Stellung als gu, õu, öii ; als Monophthonge erscheinen sie nur vor j (oj, öj) und vor tautosyllabischem r (ar, pr) ; vor tautosylla- bischen s-Lauten und Dorsalen (K, g, yj wird auch »e” diph- thongisch (eds ei) gesprochen. Die langsteigenden Vokale sind ungespannt, ebenso wie die kurztieftonigen Von den langtief- tonigen sind ã, a, e ungespannt, u, o, i, e, dagegen gespannt. Bei allen Intensitats - und Intonationsarten sind die hier durch ii, ö bezeichneten Laute gerundete Vokale nicht der vorderen, sondern der mittleren Reihe. Näheres bei F. Lorentz „Slowin- zische Grammatik” St.-Petersburg (Ak. d. Wiss. ) 1903.
38. E. Sapir (Afrikanist und Amerikanist, Chicago), der am Kongresse nicht teilnahm, dessen Artikel über die Laut- vorstellungen (im Language, I, 2) vollkommen mit den Ansichten der obengenannten Gruppe von Sprachforschern ubereinstimmt, wurde von uns nachträglich eingeladen und willigte ein.
39. Adresse : Wien I, Dorotheer gas se 12, Prof. Dr. N. Trubetzkoy ; oder : Wien I, Liebiggasse 5, Seminar für slavische Philologie.
*From Travaux du Cercle Linguistique de Prague, I: 39-67 (1929).
We use cookies to analyze our traffic. Please decide if you are willing to accept cookies from our website. You can change this setting anytime in Privacy Settings.