“A Prague School Reader in Linguistics”
Die Aufhebung der phonologischen Gegensätze*
I.
Die Glieder eines lautlichen Gegensatzes (z. B. das offene e und das geschlossene e) können in einer gegebenen Sprache entweder so verteilt sein, daC sie niemals in derselben Stellung auftreten und daher niemals die Bedeutung zweier Wörter dif- ferenzieren können (z. B. im Russischen, wo e nur vor palata- lisierten Konsonanten und vor j steht, e dagegen — nur vor un- palatalisierten Konsonanten und im Auslaut) ; oder kann das eine Oppositionsglied genau in denselben Lautstellungen wie das an- dere stehen, so dafi dadurch Wörter differenziert werden (z. B. im Dänischen, wo e und e in allen möglichen Stellungen vorkom- men). Im ersten Falle hat der betreffende Lautgegensatz keinen phonologischen Wert, es ist ein aufierphonologischer Lautgegensatz, dessen Glieder als kombinatorische Varianten eines einzigen Phonems betrachtet werden. Im zweiten Falle ist der Gegensatz phonologisch relevant, er darf als konstanter phonologischer Gegensatz bezeichnet werden, und seine Glieder haben als zwei selbständige Phoneme zu geiten. Jedoch ist ein dritter Fall möglich. Es gibt Lautgegensätze, die nur in bestimmten Lautstellungen phonologisch relevant sind, weil nur in diesen Stellungen sowohl das eine wie das ander e Oppositionsglied zugelassen werden, während in den iibrigen Stellungen entweder nur das eine, oder nur das andere Oppositionsglied vorkommt : so durfen im Französischen e und e nur im ungedeckten Auslaute beide stehen und Wörter differenzieren (z. B. les — laid, allez — allait), während in allen ubrigen Stellungen das Vorkommen von e und e durch eine einfache Formel automatisch geregelt ist (»e — in ungedeckter, e — in gedeckter Silbe«). Solche Gegensätze nennen wir aufhebbar ; jene Lautstellungen, in denen ein solcher Gegensatz >>aufgehoben« ist, nennen wir »Au fhebungs stellungen « und jene, wo der Gegensatz phonologisch relevant ist — »Relevanzstellung- e n«.
Der psychologische Unterschied zwischen den drei obener- wähnten Arten von Lautgegensätzen ist sehr grofi. Die aufier- phonologischen Lautgegensätze werden von den phonetisch nicht geschulten Vertretern der betreffenden Sprache gewöhnlich gar nicht bemerkt. Dagegen werden die konstanten phonologischen Gegensätze selbst von phonetisch ungeschulten Mitgliedern der Sprachgemeinschaft deutlich wahrgenommen, und die Glieder eines solchen Gegensatzes werden als zwei verschiedene » Laut- individuen« betrachtet. Bei den aufhebbaren phonologischen Ge- gensätzen ist die Wahrnehmung schwankend : in den Relevanz- stellungen werden beide Oppositionsglieder deutlich auseinander- gehalten, in den Aufhebungsstellungen ist man dagegen oft nicht imstande anzugeben, welches von beiden man eben gehört oder gesprochen hat. Aber selbst in der Relevanzstellung empfindet man die Glieder eines aufhebbaren Gegensatzes nur als zwei be- deutungsdifferenzierende Nuancen, als zwei zwar verschiedene, aber dennoch eng miteinander verwandte Lauteinheiten, und dieses Gefiihl der intimen Verwandschaft ist fiir solche Oppositionsglieder besonders kennzeichnend. Rein phonetisch betrachtet, ist der Unterschied zwischen franz. i und e gar nicht gröfier als der Unterschied zwischen e und e. Trotzdem ist aber fur jeden Franzosen die Intimität der Verwandtschaft zwischen e und e offensichtlich, während bei i und e von einer besonderen Intimität nicht die Rede sein kann : und das liegt natiirlich daran, dafi der Gegensatz e — c aufhebbar, der Gegensatz i — e dagegen konstant ist.
Man darf aber nicht glauben, dafi der Unterschied zwischen aufhebbaren und konstanten phonologischen Gegensätzen nur fiir die Psychologie einen Sinn hat. Dieser Unterschied ist fiir das Funktionieren der phonologischen Systeme aufierordentlich wich- tig und mufi zu den Grundpfeilern der Theorie der phonologischen Systeme gerechnet werden. Daher verdienen die Aufhebung und Aufhebbarkeit der phonologischen Gegensätze eine ausfiihrliche Erörterung.
Vor allem mufi der Begriff deutlich abgegrenzt werden. Nicht jede Art von phonologischen Gegensätzen kann »aufgeho- ben« werden. Eine ausfiihrliche Einteilung der phonologischen Oppositionen (Gegensätze) geben wir an einem ånderen Ort. 1 Hier sei nur bemerkt, dafi jede Opposition nicht nur solche Ziige, durch welche sich die Oppositionsglieder von einander unterscheiden, sondern auch solche Ziige voraussetzt, welche beiden Oppositionsgliedern gemein sind. Sind solche gemeinsame Ziige nicht vorhanden, kann ein Gegensatz (eine Opposition) nicht bestehen : z. B. bilden die Begriffe »Fenster« und »Sozia- lismus « keinen Gegensatz. Eine Opposition heifit eindimen- s i on al, wenn die Gesamtheit der Ziige, die ihren beiden Glie- dern gemein ist, in keinem ånderen Element desselben Systems vorkommt. Eine Opposition ist m e h r d i m e n s i o n al, wenn die Gesamtheit der gemeinsamen Ziige ihrer Glieder noch in ånderen Elementen desselben Systems auftritt. So ist z. B. im Deutschen der Gegensatz d — b eindimensional, weil d und t die einzigen nicht nasalen apikalen Verschlufilaute des deutschen phonologischen Systems sind ; der Gegensatz d — b ist dagegen mehrdimensional, weil das, was diesen zwei deutschen Phonemen eigen ist (Mundverschlufi bei lockerer Muskelspan- nung, Hebung des Gaumensegels und éventuelles Schwingen der Stimmbänder) noch einem ånderen deutschen Phonem, nämlich g, eigen ist. In den Stellungen, wo ein aufhebbarer Gegensatz tatsächlich aufgehoben ist, verlieren die spezifischen Merkmale eines Oppositionsgliedes ihre phonologische Geltung, und relevant bleiben nur jene Ziige, die beiden Gliedern gemein sind. In der Aufhebung s stellung wird somit ein Oppositionsglied zum Stellvertreter des »Archiphonems« des betreffenden Gegen- satzes (wobei wir unter Archiphonem die Gesamtheit der Ziige verstehen, die zwei Phonemen gemein sind). Daraus folgt, daiS nur eindimensionale Gegensätze aufhebbar sein können. In der Tat, nur diese Gegensätze besitzen ja Archiphoneme, die allen iibrigen phonologischen Einheiten des betreffenden Systems gegeniibergestellt werden können, — und eine solche Gegen- iiberstellung ist ja die Grundbedingung der phonologischen Exis- tenz iiberhaupt. Wenn im Deutschen der eindimensionale Gegensatz d — է im Auslaute aufgehoben ist, so ist das Oppositionsglied, welches dabei in der Aufhebung s stellung auftritt, vom phonologischen Standpunkte aus weder eine Media, noch eine Tenuis, sondern es ist »der nichtnasale dentale Verschlufilaut iiberhaupt«, und als solcher kann er einerseits dem nasalen Dental n, anderseits den nichtnasalen labialen und gutturalen Verschlufilauten gegeniibergestellt werden. Dagegen kann der Umstand, dafi die deutschen t und d im Wortanlaute vor 1 nicht zugelassen werden, während b und p in dieser Stellung vorkom- men, keine Aufhebung der Gegensätze d — b, t — p bewirken : in einem Worte wie Blatt behält b alle seine Eigenschaften, d. i. es bleibt eine labiale Media, und kann nicht als Stellvertreter des Archiphonems des Gegensatzes d — b betrachtet werden, denn der phonologische Gehalt eines solchen Archiphonems könnte nur » Media uberhaupt« sein — und als solche kann das b in Blatt nicht betrachtet werden, weil g in glatt ja auch eine Media ist. Somit ist die eigentliche Aufhebung, durch welche ein Oppositionsglied zum Stellvertreter des Archiphonems eines Gegensatzes wird, nur bei eindimensionalen phonologischen Gegensätzen möglich. Daraus folgt aber noch lange nicht, dafi alle eindimensionalen Gegensätze tatsächlich aufhebbar sind : es gibt wohl fast in jeder Sprache konstante eindimensionale Gegensätze. Wenn aber eine Sprache einen aufhebbaren Gegensatz besitzt — so ist dieser immer eindimensional.
II.
Wie mufi der Archiphonemvertreter eines aufhebbaren Gegensatzes beschaffen sein?
Er stens braucht der in der Aufhebungs stellung auftr etende Stellvertreter des Archiphonems eines aufhebbaren Gegensatzes nicht unbedingt mit einem von den betreffenden Oppositions- gliedern identisch sein ; manchmal kann er mit einem Laut realisiert werden, der mit den Realisationen beider Oppositions- glieder phonetisch verwandt ist, sich dabei aber doch mit keinem von beiden deckt. Im Russischen wird der Gegensatz zwischen palatalisierten und nichtpalatalisierten Labialen vor palatalisier - ten Dentalen aufgehoben, wobei in der Aufhebungsstellung be- sondere » halbpalatalisierte « Labiale auftreten ; im Tscheremis- sischen (» Marischen«), wo der Gegensatz zwischen stimmlosen Verschlufilauten (p, t, k, c, c, č) und stimmhaften Spiranten (b, d, g, dz, dž, dz) nach Nasalen aufgehoben ist, treten in der Aufhebungsstellung besondere stimmhafte Verschlufilatue (b, d, g, dz, dé, dz) auf ; in gewissen bayerischösterreichischen Mundarten, wo der Gegensatz zwischen Fortes und Lenes im Anlaute aufgehoben ist, treten in dieser Stellung besondere »Halbfortes« oder » Halblenes« auf usw., usw. Die Zahl solcher Beispiele läfit sich leicht vermehren. Trotzdem sind solche Falle, wo das Archiphonem durch ein Mittelding zwischen beiden Oppositionsgliedern vertreten wird, verhältnismäfiig selten. Normalerweise tritt in der Aufhebungsstellung ein Laut auf, der mit der Realisation eines bestimmten Oppositionsgliedes in der Relevanzstellung ungefähr identisch ist, so dafi die Funktion des Archiphonems nur von einem der beiden Oppositionsgliedern ubernommen wird. Es mufi daher untersucht werden, welches von den Gliedern eines aufhebbaren phonologischen Gegensatzes als Stellvertreter des betreffenden Archiphonems auftreten kann.
Da, wo die Aufhebung eines aufhebbaren Gegensatzes von der Nachbarschaft irgendeines Phonems abhängt, wird oft (aber nicht immer!) dasjenige Oppositionsglied, welches diesem Nach- barphoneme »ähnlicher«, »verwandter« oder gar mit ihm identisch ist, zum Stell vertreter des Archiphonems. In vielen Sprachen, wo der Gegensatz zwischen stimmhaften und stimm- losen (bezw. ungespannten und gespannten) Geräuschlauten vor Geräuschlauten derselben Artikulationsart aufgehoben ist, diir- fen vor stimmhaften (bezw. ungespannten) Geräuschlauten nur stimmhafte, vor stimmlosen (bezw. gespannten) — nur stimm- lose Geräuschlaute stehen ; im Russischen, wo der Gegensatz zwischen palatalisierten und nichtpalatalisierten Konsonanten vor nichtpalatalisierten Dentalen aufgehoben ist, dtirfen in dieser Stellung nur nichtpalatalisierte Konsonanten stehen, usw. In solchen Fallen (die verhältnismäfiig selten sind) ist die Wahl eines Oppositionsgliedes zum Stellvertreter des entsprechenden Archiphonems rein äufierlich (durch die Beschaffenheit der Aufhebungsstellung) b e d i n g t.
In den meisten Fallen ist aber eine solche äufiere Bedingt- heit gar nicht vorhanden : in der Aufhebungsstellung erscheint eines von den Oppositionsgliedern, ohne dafi seine Wahl sich irgendwie mit der Beschaffenheit der Aufhebungsstellung in Zusammenhang bringen liefie. Dadurch aber, dafi eines von den Oppositionsgliedern in dieser Stellung als Stellvertreter des entsprechenden Archiphonems auftritt, werden seine spezifischen Ziige irrelevant, während die spezifischen Ziige seines Partners volle phonologische Relevanz bekommen : somit wird das erste Oppositionsglied als »Archiphonem + Null«, das zweite dagegen als »Archiphonem + ein bestimmtes Merkmal« gewertet. Mit ånderen Worten : jenes Oppositionsglied, welches in der Aufhebungsstellung zugelassen wird, ist vom Standpunkte des betreffenden phonologischen Systems merkmallos, während das entgegengesetzte Oppositionsglied m e r к m al t r a g e n d ist. Dieser Umstand ist aufierordentlich wichtig. In diesem Sinne soll das, was wir in unser en friiheren Arbeiten iiber merkmal- lose und merkmaltragende Oppositionsglieder geschrieben haben, korrigiert werden. Es mufi besonders betont werden, dafi merk- mallose und merkmaltr agende Glieder nur bei aufhebbaren phonologischen Gegensätzen bestehen. Nur bei diesen hat der Unterschied zwischen merkmallosen und merkmaltragenden Opposi- tionsgliedern ein objektives phonologisches Dasein, und nur in diesem Falle ist man wirklich imstande, das Merkmal des phonologischen Gegensatzes mit völliger Objektivität und ohne Heran- ziehung aufierlinguistischer Forschungsmittel zu bestimmen. 1st ein phonologischer Gegensatz konstant, so läfit sich das Verhältnis zwischen seinen Gliedern manchmal wohl als Verhältnis zwischen Merkmallosem und Merkmaltr agendem denken, dies bleibt jedoch nur eine logische oder psychologische, nicht aber eine phonologische Tatsache.2
Die meisten aufhebbaren phonologischen Gegensätze werden als Gegensätze zwischen merkmallosen und merkmaltragenden Gliedern gewertet, wobei jenes Oppositionsglied, welches in den Aufhebungsstellungen auftritt, als das merkmallose gilt.3 Selbst- verständlich ist aber eine solche Wertung nicht bei allen aufhebbaren Gegensätzen möglich. Es gibt z. В phonologische Gegensätze, deren Glieder verschiedene Grade oder Abstufungen irgend einer Eigenschaft aufweisen : z. B. der Gegensatz zwischen den ver schiedenen Öffnungsgraden der Vokale oder zwischen den ver- schiedenen Stufen der Tonhöhe. Weist die betreffende Eigenschaft im gegebenen Lautsystem mehr als zwei solche Grade auf, so lassen sich die entsprechenden » g r a d u e 11 e n« Gegensätze nicht auf die Formel » merkmallos — merkmaltragend« zuriickfùhren. Betrachtet man die Falle der Aufhebung solcher gradueller Gegensätze näher, so mufi man feststeilen, dafi in den Aufhebungsstellungen immer das » ä u fi e r e « oder »extreme« Oppositionsglied auftritt : in bulgarischen und neugriechischen Mundar- ten, wo die Gegensätze u — o und i — e in unbetonten Silben aufgehoben sind, dienen die maximal-engen (eigentlich : mini- mal-breiten) u und i als Vertreter der entsprechenden Archi- phoneme in der Aufhebunsstellung ; im Russischen, wo der Gegensatz o — a in unbetonten Silben aufgehoben ist, vertritt das entsprechende Archiphonem in unmittelbar vortoniger Silbe ; im Lamba (Bantusprache in Nord Rhodesien), wo der Gegensatz zwischen tiefem und mittlerem Tone im Ausiate aufgehoben ist, wird in der Aufhebung s stellung (d. i. in Auslautsilben) nur der tiefe Ton zugelassen, usw. Beispiele lassen sich leicht vermeh- ren. Der Grund dieser Erscheinung ist ohne weiteres klar. Wir haben ja bereits betont, dafl ein gradueller Gegensatz nur dann als solcher betrachtet werden kann, wenn dasselbe phonologische System noch ein Element enthält, welches eine ander e Stufe der- selben Eigenschaft aufweist. Dabei mufl diese Stufe immer höher als die des »mittleren« Oppositionsgliedes sein : i — e bilden einen graduellen Gegensatz, soweit dasselbe Vokalsystem noch einen Vokal enthält, dessen Offnungsgrad gröfler als der von e ist, usw. Somit bildet das » extreme « Glied eines graduellen Gegen- satzes immer die minimale Stufe der betreffenden Eigenschaft, während das »mittlere« Glied desselben Gegensatzes dieses Minimum iibersteigt, d. i. als »Minimum + noch etwas von derselben Eigenschaft« darge steilt werden kann. Und da das Archiphonem nur das beiden Oppositionsgliedern gemeinsame enthalten soll — so kann es nur durch das extreme Oppositions - glied vertreten werden.4
Aufhebbare Gegensätze, deren Glieder weder als merkmal- los und merkmaltragend noch als minimale und mittlere Stufen derselben Eigenschaft gewertet werden können, sind selten. Soweit sie dennoch vorkommen, lassen sich fúr die Vertretung ihrer Archiphoneme in den Aufhebungsstellungen keine bestimmte Regeln aufstellen. Meistens wird in solchen Fällen die Wahl des Archiphonemvertreters äuflerlich bedingt (z. B. im Tschechischen, Slovakischen und Ungarischen, wo der Gegensatz zwischen Dentalen und Palatalen vor Dentalen und Palatalen aufgehoben ist, wobei das in der Aufhebungsstellung auftretende Oppositions- glied immer dieselbe Artikulationsstelle wie das folgende Pho- nem aufweist), oder ist der Archiphonemvertreter ein Mittelding zwischen beiden Oppositionsgliedern (so z. B. in den stokavisch- ekavischen Mundarten des Serbokroatischen, wo der Gegensatz zwischen s, z und s, z vor den palatalen č, â, n, lj aufgehoben wird, wobei in der Aufhebungsstellung palatale Sibilanten auf- treten, die eine Mittelstelle zwischen s, z und š, ž einnehmen). Nur selten kommen beide Oppositionsglieder in verschiedenen Aufhebungsstellungen vor, wie z. B. im Deutschen, wo der Gegensatz zwischen s und sch vor Konsonanten so aufgehoben wird, dafl im Wurzelanlaute nur sch, im Wurzelauslaute nur s stehen darf.5
III.
Untersuchen wir die Bedingungen der Aufhebung phonologi- scher Gegensätze, so finden wir, dafi in dieser Hinsicht meh- rere Typen der Aufhebung unterschieden werden miissen. Je nachdem, ob die Aufhebung durch die Nachbarschaft eines bestimmten Phonems verursacht wird, oder von der ganzen Struktur des Wortes (bezw. des Morphems) abhängt, unterscheiden wir kontextbedingte und strukturbedingte Aufhebung- sarten. In beiden Fällen kann die Aufhebung entweder nach, oder vor »etwas« geschehen ; dementsprechend können ein regressiver und ein progressiver Typus unter schieden werden, — wobei diese Unterscheidung aber nicht immer mö- glich ist, da in vielen Fallen die Aufhebung sowohl vor als auch nach einem bestimmten Punkte des Wortkörpers stattfindet.
Sowohl die kontextbedingten als auch die strukturbedingten Aufhebungsarten lassen sich in Unterklassen einteilen.
A. — Die kontextbedingten Aufhebungsarten zerfallen indissimilative, assimilative, und kombinierte. Diese Benennungen könnten zu Miflverständnissen fiïhren, weil man in der Phonetik dieselben Ausdriicke in ganz anderem Sinn gebraucht. Es mufi daher besonders hervorgehoben werden, dafi die phonologische und phonetische Dissimilation ganz ver- schiedene Dinge sind.
i, — Unter d i s s i m i 1 a է i v e r Aufhebungsart verstehen wir die Aufhebung eines phonologischen Gegensatzes in der Nach- barschaft eines Gliedes desselben oder eines ähnlichen Gegensatzes. Die Dissimilation betrifft also in diesem Falle nicht etwa Laute oder Phoneme, sondern nur die phonologische Rele- vanz gewiCer Eigenschaften, die zwei nebeneinander stehenden Phonemen eigen sind. Je nach der Be schaffenheit des Nachbar- phonems können folgende Typen unter schieden werden :
a. — Die Aufhebung geschieht in der Nachbar schaft be i - der О p p o s i t i o n s g 1 i e d e r desselben Gegensatzes. — Bei- spiele : in vielen Sprachen wird der Gegensatz zwischen stimm- haften (bezw. ungespannten) und stimmlosen (bezw. gespannten) Geräuschlauten sowohl vor den stimmhaften, wie auch vor den stimmlosen Geräuschlauten aufgehoben (die Wahl des Archi- phonemvertreter ist dabei meistens äufierlich bedingt) ;6 im Französischen ist der Gegensatz zwischen nasalierten und nicht - nasalierten Vokalen vor allen Vokalen aufgehoben, d. i. sowohl vor den nasalierten wie vor den nichtnasalierten. 7
b. — Die Aufhebung eines phonologischen Gegensatzes ge- schieht in der Nachbarschaft des merkmaltragenden Gliedes desselben Gegensatzes und unterbleibt in der Nachbarschaft seines merkmallosen Gliedes. Beispiele : — im Slovakischen (namentlich in der Schriftsprache und in den mittel- slovakischen Mundarten) wird der Gegensatz zwischen langen und kurzen Vokalen nach einer Silbe mit langem Vokal aufgehoben, bleibt aber nach einer Silbe mit kurzem Vokal bestehen (das Archiphonem wird dabei durch kurze Vokale vertreten). — Als eine spezielle Unterart desselben Typus durfen wohl solche Falle angesehen werden, wo die Aufhebung nicht in Nachbarschaft aller in Betracht kommenden Phoneme, sondern nur in Nachbarschaft einiger von ihnen stattfindet. So bestand im Altindischen der Gegensatz zwischen Dentalen und Kakuminalen in sechs Phonempaaren (t — t, th — th, d — d, dh — dh, n — n, s — s), der Gegensatz n — n wurde jedoch nicht nach al!en Kakuminalen aufgehoben, sondern nur nach s, — und zwar, selbst wenn zwischen beiden Phonemen Vokale, Gutturale oder Labiale standen (die Wahl des Archiphonemsvertreters war dabei im oben definierten Sinne »äuflerlich bedingt«).
c. — Die Aufhebung eines phonologischen Gegensatzes ge- schieht in der Nachbar schaft b e i d e r Glieder eines ver- wandten Gegensatzes. Dieser Typus scheint ziemlich selten zu sein. Wir können nur ein sicheres Beispiel anfiihren : im Kurinischen (oder »Lesgischen« nach der heutigen offiziellen Terminologie der Sowjetunion) ist der Gegensatz zwischen ge- rundeten und ungerundeten Geräuschlauten sowohl vor als nach den engen Vokalen u, ii, i aufgehoben, — weil diese letzteren ihrerseits Glieder eines Gegensatzes von gerundeten (u, u) und ungerundeten (i) Vokalen sind ; dagegen libt die Nachbarschaft der breiten Vokale a, e auf den Gegensatz zwischen gerundeten und ungerundeten Geräuschlauten keine aufhebende Wirkung aus, — weil diese Vokale an einem Rundungsgegensatz nicht beteiligt sind.
d. — Das Phonem, in dessen Nachbarschaft ein phonologi- scher Gegensatz aufgehoben ist, ist das m e r к m al է r a g e n d e Glied nicht desselben, sondern eines verwandten Gegensätze s. — Beispiele : — In allen jenen ostkaukasischen Sprachen, die den phonologischen Gegensatz zwischen gerunde- ten und ungerundeten Geräuschlauten kennen (namentlich in den Sprachen Artschi, Tsachur, Rutul, Aghul, Dargwa und Ku- batschi), wird dieser Gegensatz vor den gerundéten Vokalen — d. i. vor den merkmaltragenden Gliedern der Gegensätze u —i, о — e, — aufgehoben (als Archiphonemvertreter fungieren dabei die ungerundeten Geräuschlaute) ; im Japanischen, Litaui- schen und (Ost-) Bulgarischen ist der Gegensatz zwischen mouil- lierten (d. i. i-farbigen) und unmouillierten Konsonanten nur vor hinteren Vokalen phonologisch giltig, vor vorderen Vokalen dagegen ist er aufgehoben ; im Französischen ist der Gegensatz von nasalierten und unnasalierten Vokalen vor m — d. i. vor dem merkmaltragenden Gliede des Gegensatzes m — b, — aufgehoben ;8 — in gewissen lapischen Dialekten (z. B. in dem von Pavo Ravila in seinem vortrefflichen Buche »Das Quantitäts- system des seelappischen Dialekts von Maattivuono«, Helsinki 1932, beschriebenen) ist der phonologische Gegensatz zwischen langen und kurzen Vokalen vor den langen geminierten Konsonanten, — d. i. vor dem merkmaltragenden Gliede des Gegensatzes » lange geminierte Konsonanten — kurze geminierte Konsonantene — aufgehoben. — In den angefuhrten Beispielen unterliegt die » Verwandtschaft« der zwei Gegensätze (von denen der eine in der Nachbarschaft des merkmaltragenden Gliedes des ånderen aufgehoben wird) keinem Zweifel. Es gibt aber Fälle, wo die Verwandtschaft viel weniger evident ist. Und in solchen Fällen ist die Aufhebung des Gegensatzes >>X« vt>r einem Gliede des Gegensatzes » Y« ein objektiver Beweis dafiir, dafi beide Gegensätze vom Standpunkte des gegebenen phonologischen Systems als verwandt betrachtet werden miissen.9 So ist der Umstand, dafi in den stokavisch-ekavischen Mundarten des Serbokroati- schen der Gegensatz zwischen s, z und š, ž vor den palatalen (î, d, n, lj (die nur zu den Dentalen t, d, n, 1 in eindimensionalem Gegensatzverhältnis stehen) aufgehoben ist, ein Beweis dafur, dafi die Gegensätze s, z — š, ž und t, d, n, l — c, d, n, lj vom Standpunkte des betreffenden phonologischen Systems mitein- ander verwandt sind, — obgleich diese Verwandtschaft vom rein- phonetischen Standpunkte aus gar nicht evident ist.
2. — Unter assimilativer kontextbedingter Aufhebung verstehen wir die Aufhebung eines phonologischen Gegensatzes in Nachbarschaft eines Phonems, das hinsichtlich des Differen- zierungsmerkmales des aufhebbaren Gegensatzes ganz neutral ist, und daher zu beiden Oppositionsgliedern in Oppositionsver- hältnis steht. — Beispiele : im Tscheremissischen ist der Gegensatz zwischen stimmlosen Verschlufilauten und stimmhaf- ten Spiranten nach Nasalen aufgehoben (als Archiphonemvertre - ter fungieren besonders stimmhafte Verschlulîlaute) ; — im Erza-Mordwinischen ist der Gegensatz zwischen sibilantischen Affrikaten und Spiranten (с — s, c — ê, č — š) nach nicht sibilantischen Dentalen (t, d, t', d', l, l',n, n) aufgehoben. Wie aus diesen Beispielen (deren Zahl sich leicht vermehren läfit) ersichtlich ist, besteht zwischen dem Phonem, dessen Nachbarschaft die Aufhebung bewirkt einerseits, und den Glie- dern des aufhebbaren Gegensatzes andererseits immer eine ge- wisse phonetische Verwandtschaft : die Nasalen sind ebenso stimmhaft, wie die stimmhaften Spiranten, und ebenso >>okklusiv« wie die stimmlosen VerschluClaute des Tscheremissischen ; die erzamordwinischen Sibilanten sind ebenso »dental« wie t, d, 1, usw. Man könnte daher die assimilative Aufhebung unter die folgende (freilich, recht komplizierte) Formel bringen : die Eigenschaften c und d in den Phonemen » a + b + с « und » a + b + d« verlieren ihre phonologische Giltigkeit in der Nachbarschaft eines Phonems, das die Eigenschaft a ohne die Eigenschaften b, с und d enthält. Somit handelt es sich um eine As similation in Bezug auf die phonologische Irrelevanz einer Eigenschaft.
3. — Unter k.o mbi ni e r է e r kontextbedingter Aufhebung verstehen wir jede Verbindung einer dissimilativen Aufhebung mit einer as similativen. In den Sprachen, die den kon- sonantischen Mouillierungsgegensatz oder den konsonantischen Rundungsgegensatz kennen, zerfallen alle Konsonanten in zwei Klassen : zu einer Klasse gehören die am betreffenden Gegensätze (positiv oder negativ) beteiligten Konsonanten, zu der ånderen — die hinsichtlich dieses Gegensatzes neutralen. Nun sind in vielen von diesen Sprachen die Mouillierungs- und Run- dungsgegensätze nur vor Vokalen Giltig, während sie vor Konsonanten aufgehoben sind, und zwar ist diese Aufhebung vor den Konsonanten der ersten Klasse (d. i. Gliedern der betreffenden Gegensätze) dissimilativ, vor den iibrigen dagegen (die ja in Hin- sicht auf die Mouillierung, bezw. auf Rundung phonologisch neutral sind) — assimilativ. 10 Ein sehr gutes Beispiel der kombinierten kontextbedingten Aufhebung bietet das Kurinische, das vor betonten Vokalen zwei Arten von infraglottalen stimm- losen Verschlufilauten, — namentlich » starke « und » schwache«, — unterscheidet : dieser Gegensatz ist aufgehoben, wenn die vorhergehende Silbe a) mit einem stimmlosen infraglottalen Verschlufilaut, b) mit einer stimmlosen Spirans, c) mit einem supraglottalen (glottokklusiven) oder d) mit einem stimmhaften Verschlufilaute beginnt, — wobei im Falle » a« die Aufhebung offenbar dissimilativ, in den ånderen drei Fallen dagegen assimi- lativ ist.11 Beginnt dagegen die vorhegehende Silbe mit einem Vokal, mit einem Sonorlaut (w, j, 1, m, n) oder mit einer stimmhaften Spirans, so bleibt der Gegensatz zwischen starken und schwachen infraglottalen stimmlosen Verschlufilauten phono - logisch relevant, — offenbar weil die Glieder dieses Gegensatzes keine gemeinsame Ziige mit den Kontextphonemen besitzen, ohne welche Voraussetzung weder die dissimilative, noch die assimilative Aufhebung möglich sind.
B. — Was die s է r u k է u r b e d i n g t e n Aufhebungsarten betrifft, so lassen sich bei ihnen zwei Klassen unterscheiden, — die zentrifugale und die reduktive.
1. — Als z ent rifu g al bezeichnen wir die Aufhebung eines phonologischen Gegensatzes an den Rändern eines Wortes (bezw. eines Morphems). Eine solche Aufhebung kann regressiv, progressiv oder beiderseitig sein, d. i. sie kann entweder nur im Anlaute oder nur im Auslaute, oder sowohl im Anlaute, wie im Auslaute stattfinden. — So geschieht die Aufhebung des Gegensatzes zwischen » Tenues« und »Mediae« im Erza-mordwinischen im Anlaute, im Deutschen, Polnischen, Tschechischen, Russi- schen usw. im Auslaute, und in einigen Tiirkspr achen, z. B. im Kirgisischen (friiher » Karakirgisisch« genannt), — sowohl im Anlaute, wie im Auslaute. 12 Die Aufhebung des Gegensatzes zwischen langen und kurzen Vokalen tritt im Deutschen, Hol- ländischen und Englischen im Auslaute ein (wobei die langen Vokale die entsprechenden Archiphoneme vertreten), in der tschechischen (genauer mittelböhmischen) Umgangssprache dagegen — im Anlaute (wobei die Archiphoneme durch kurze Vokale vertreten sind). Im Mordwinischen wird im Anlaute der Gegensatz zwischen Affrikaten und Spiranten (c — s, č — š) aufgehoben ; im Litauischen ist der Gegensatz zwischen den » stofi- tonigen« und » schleiftonigen« Langen im Auslaute aufgehoben usw. Beispiele fiir diese Art der strukturbedingten Aufhebung lassen sich leicht vermehren.
2. — Als reduktiv bezeichnen wir die Aufhebung eines phonologischen Gegensatzes in alien Silben eines Wortes mit Ausnahme jener Silbe, die den » phonologischen Wortgipfel« bildet. Man kann hier drei Unterarten unterscheiden.
a. — In Sprachen mit sogenanntem » freien Akzent« (d. i. mit gipfelbildenden Hervorhebung «, vgl. Verf. » Anleitung zu phonologischen Beschreibungen«, S. 24)istdie betonte Silbe der Wortgipfel, und die reduktive Aufhebung findet demge- mäfi in den unbetonten Silben statt. So werden z. B. in unbeton- ten Silben im Russischen — die Gegensätze о — a und e — i, in neugriechischen und bulgarischen Dialekten — die Gegensätze о — u und e — i, im Slovenischen — der Gegensatz zwischen langen und kurzen Vokalen, in dem von A. Issatschenko (Revue des études slaves XV, pp. 57 sq.) besprochenen Jauntaler Dialekt des Kärntner-Slovenischen — der Gegensatz zwischen nasalierten und unnasalierten Vokalen aufgehoben usw., usw. In allen diesen Fällen ist die Richtung der Aufhebung beiderseitig, d. i. die Aufhebung umfafit alle unbetonten Silben, sowohl vor als nach der betonten » Gipfelsilbe «. Es kommen aber auch (frei- lich viel seltener) Fälle mit nur regressiver oder nur progressiver Aufhebung s richtung vor : im stokavischen Dialekt des Serbokroatischen ist der Gegensatz zwischen langen und kurzen Vokalen nur in den vortonigen Silben aufgehoben ; im Kiirinischen sind die Gegensätze zwischen gerundeten und ungerundeten Geräuschlauten und zwischen starken und schwachen stimmlosen Verschlufilauten in den nachtonigen Silben aufgehoben.
b. — In den Sprachen, die keinen freien Akzent kennen, iibernimmt eine von den Randsilben (d. i. entweder die Anfangssilbe oder die Endsilbe) die Funktion des phonologischen Wortgipfels, und die Aufhebung eines phonologischen Gegensatzes geschieht dann in allen iibrigen Wortsilben. Im Französischen ist bekanntlich der Gegensatz zwischen geschlossenem und of- fenem e nur im Wortauslaute phonologisch giltig, in allen iibrigen Silben ist er dagegen aufgehoben. In dem von C. H. Borgström mustergiltig beschriebenen schottischem Dialekt der Insel Barra (vgl. Norsk Tidskrift for Sprogvidenskap, VII 1935, 71 ff.) ist, geråde umgekehrt, der Gegensatz zwischen einem engen und einem offenen e nur in der ersten Wortsilbe phonologisch relevant (in allen ubrigen Silben kommt nur das offene e vor, das somit das entsprechende Archiphonem vertritt). Derselbe schottische Dialekt kennt den phonologischen Gegensatz zwischen aspirierten und unaspirierten Ver schlufilauten ebenfalls nur im Anlaute. Im Tschetschenischen sind der Gegensatz zwischen supraglottalen und infraglottalen Verschlufilauten (aufier dem Gegensatz q?— q) und der Gegensatz zwischen emphatisch mouillierten und nicht- mouillierten Konsonanten nur im Wortanlaute phonologisch giltig, usw. Gewöhnlich ruht der >>gebundene« (oder » abgren- zende«) expiratorische Akzent in solchen Sprachen auf jener Randsilbe, die die Rolle der phonologischen Gipfelsilbe erfullt, z. B. im Französischen — auf der Endsilbe, im Schottischen und Tschetschenischen — auf der Anfangssilbe. Das ist aber gar nicht unbedingt notwendig. In den Tiirksprachen mit kon- sequent durchgefuhrter Vokalharmonie ist der Gegensatz zwischen hinteren und vorderen (und zum Teil auch der Gegensatz zwischen gerundeten und ungerundeten) Vokalen in allen nichter- sten Silben des Wortes aufgehoben, so dafi die Anfangssilbe als einzige Relevanzstellung dieses Gegensatzes deutlich die Rolle eines phonologischen Wortgipfels spielt ; und trotzdem ruht der >>gebundene« Akzent in diesen Sprachen auf der Endsilbe.
c. — Eine Art Mittelstellung zwischen » a« und >>b« neh- men solche Sprachen ein, wo die » Freiheit« des Akzents auf wenige Silben eingeschränkt ist. In einigen solchen Sprachen bewahren gewisse aufhebbare Gegensätze (wie es scheint, sind es immer nur Verlaufsgegensätze) nur in einer betonten Randsilbe ihre phonologische Giltigkeit. So war im Altgrie- chischen (wo die Freiheit des Akzents durch das sogenannte » Dreisilbengesetz« eingeschränkt war) der Gegensatz zwischen steigender und fallender Intonation (» Akut« und » Zirkumflex«) nur in der betonten letzten Wortsilbe phonologisch relevant, und in der heutigen serbokroatischen Schriftsprache (wo der Akzent auf der Endsilbe nicht ruhen darf) hat der Gegensatz zwischen steigender und fallender Intonation nur in der betonten ersten Wortsilbe phonologische Geltung.
Beide Formen der strukturbedingten Aufhebung können gleichzeitig in derselben Sprache auftreten. Viele >>turanische« Sprachen zeichnen sich dadurch aus, dafi sie gewisse konsonan- tische Gegensätze (besonders den Gegensatz zwischen stimmlosen und stimmhaften Geräuschlauten) im Anlaute, gewisse vo- kalische Gegensätze aber — geråde in den nichtersten Silben aufheben. Im Slovenischen ist der Gegensatz zwischen langen und kurzen Vokalen einerseits in unbetonten Silben aufgehoben (reduktive Aufhebung), andererseits aber auch im ungedeckten Auslaute, wo alle betonten Vokale lang und alle unbetonten kurz sind (zentrifugale Aufhebung). Beide Formen der strukturbe- dingten Aufhebung können sich mit verschiedenen Formen der kontextbedingten Aufhebung verbinden, wodurch ziemlich kom- plizierte Gebilde entstehen. In dem von A. Belié beschriebenen cakavisch-kroatischem Dialekte von Novi (Izvestija Il-go Otde- lenija Imperator skoj Akademii Nauk XIV, 2) ist der Gegensatz zwischen »langen« (d. i. zweimorigen) und»kurzen« (einmori- gen) Silben vor »fallend betonten langen Silben« (d. i. vor zweimorigen Silben mit hervorgehobener er ster More) aufgehoben, 13 was als eine Verbindung der Aufhebungsarten Alb und B2a be- trachtet werden darf. Im Adyghischen (Tscherkessischen) wird der Gegensatz zwischen dem minimal-engen Vokal (» a«) und dem mittel-engen Vokal (>>e«) einerseits im Anlaute ohne Riïck- sicht auf die folgende Silbe, anderseits in betonter Silbe vor einer Silbe mit»e« aufgehoben, (wobei » a« das Archiphonem vertritt) usw.
Somit lassen sich edle Fälle der Aufhebung phonologischer Gegensätze als eine der obenbesprochenen Formen der kontextbedingten oder strukturbedingten Aufhebung oder als eine Verbindung mehrerer solcher Formen auffassen.
IV.
Die psychologische Deutung der besprochenen Aufhebungs- arten ist nicht schwer. Das Wesen der Aufhebung besteht darin, dafi gewisse Eigenschaften, die bei den Oppositionsgliedern in der Relevanzstellung deutlich wahrgenommen werden mussen, weil sie dort einen phonologischen Wert besitzen, in der Aufhe- bungsstellung nicht wahrgenommen zu werden brauchen, weil sie hier phonologisch irrelevant sind. Die Aufhebung be- wirkt also ein Nachlassen der Aufmerksamkeit, ein Sinken der Beachtungsschwelle. Dafi ein solches Sinken kontextbedingt sein kann, dafi es in Nachbarschaft von Phonemen mit phonologisch relevanten und daher deutlich wahrgenommenen gleichen oder analogen Eigenschaften geschehen kann, — das ist ja leicht ver- ständlich. Aber auch die strukturbedingte Aufhebung ist psycho - logisch klar : die Beachtungsschwelle sinkt an den Rändern einer Gestalt oder hebt sich nur an einem bestimmten Punkte dieser Gestalt, — nichts ist wohl natiirlicher ! Somit ware die Aufhebung ein Mittel, die Unterscheidungskraft zu sparen.
Ob das wirklich so, und nicht anders, anzufassen ist, — darúber sollen die Psychologen urteilen. Wir, Phonologen, miissen aber die aufierordentlich grofie Bedeutung der Aufhebung fur das Bestehen und Funktionieren der phonologischen Systeme hervorheben. Wir haben gesehen, dafi die Aufhebung es ermög- licht, merkmaltragende und merkmallose Oppositionsglieder objektiv zu bestimmen, dafi sie manchmal objektive Hinweise auf die Richtung, in der eine Stufenreihe betrachtet werden soil, und auf die Verwandschaftsverhältnisse verschiedener Gegensätze geben kann. Speziell die reduktive Aufhebung weist auf die Stellung des phonologischen Wortgipfels hin. Somit ist die Aufhebung in allen ihren Formen eine der wichtigsten phonologischen Erscheinungen uberhaupt.
Zum Schlusse darf noch ein Gedanke wenigstens gestreift werden. Wir haben oben die Aufhebung ausschliefilich vom syn- chronischen Standpunkte aus betrachtet, und haben dabei eine Reihe von Gesetzen feststeilen können, deren logische und psy- chologische Grundlage sich leicht erkennen läfit. Vom dia- chronischen (historischen) Standpunkte aus betrachtet, ist aber die Aufhebung gewöhnlich das Ergebnis eines Lautwandels. Das, was bei der synchronischen Betrachtung als Grundlage der Auf- hebungsgesetze gilt, darf bei diachronischer Betrachtung als Triebkraft des Aufhebungsprozesses geiten. Dieser Prozess beruht also einerseits auf dem Bediirfnis von Zeit zu Zeit die Beachtungsschwelle zu senken, die Unterscheidungskraft zu lok- kern, anderseits — auf dem Verlangen nach Klarheit des Auf- baus des phonologischen Systems, nach deutlicher phonologischer Zerlegbarkeit der Phoneme. Wie jeder Lautwandel mufi auch die Aufhebung zuerst durch die Verringerung der funktionellen Belastung des betreffenden Gegensatzes in der gegebenen Laut- stellung vorbereitet werden. Die phonologische Entwicklung wählt immer die Richtung des geringeren Widerstandes. Da wo die funktionelle Belastung eines phonologischen Gegensatzes am schwächsten ist, ruft seine Aufhebung am wenigsten Schwierig- keiten hervor. Aufierdem neigen gewisse Sprachen zum regressiven, gewisse andere zum progressiven Typus der Aufhebung, was, wie ich an anderem Orte gezeigt zu haben glaube (vgL Cha- risteria Guillelmo Mathesio quinquagenario. . . oblata p. 21 ff. ), mit dem ganzen Bau der betreffenden Sprache aufs engste ver- bunden ist. Durch diese Faktoren wird die Wahl der Aufhebungsstellung bestimmt, die aber trotzdem noch einem der oben (Ab- schnitt III) dargelegten Typen entsprechen mufi. . .
Diese Bemerkungen mogen geniigen, um die weiten Perspektiven anzudeuten, die sich vor der Sprachwis senschaft er- öffnen, sobald man nicht die einzelnen Phoneme (oder sogar Laute) sondern die Gegensätze ins Auge faflt, deren Glieder diese Phoneme sind, und deren gegenseitige Beziehungen die phonologischen Systeme bilden.
Notes
1. Nämlich in unserem Aufsatze »Essai d’une théorie des oppositions phonologiques«, der demnächst im Journal de Psychologie erscheinen soll.
2. Das gleiche gilt auch flir jene aufhebbaren Gegensätze, wo die Wahl des Archiphonemvertreters äufierlich bedingt ist. Im Russischen, wo bei Aufhebung des Gegensatzes zwischen stimmhaften und stimmlosen Geräuschlauten im Auslaute die stimmlosen Geräuschlaute in der Aufhebungsstellung auftreten, werden diese als merkmallos gewertet (vg. Verf. in Journal de Psychologie, XXX p. 237, Fufín. 2). Im Französischen dage” gen, wo derselbe Gegensatz nur vor Geräuschlauten aufgehoben wird, wobei die Vertretung des Archiphonems äufierlich bedingt ist, werden beide Oppositionsglieder als ganz gleichwertig ein- geschätzt, worauf mich Herr A. Martinet aufmerksam gemacht hat.
3. Manchmal kommt es vor, dafi das Archiphonem eines aufhebbaren phonologischen Gegensatzes nicht in alien Aufhebungs- stellungen durch dasselbe Oppositionsglied vertreten wird. In solchen Fällen darf nur dasjenige Oppositionsglied als merkmallos betrachtet werden, das in der vom Standpunkte der betreffenden Sprache >>normalsten« Aufhebungsstellung auftritt, oder in einer Stellung, in welcher die gröfite Zahl von Phonemen ausei- nander gehalten werden. Wenn, z. B. im Deutschen der Gegensatz zwischen >>weichem« und » scharfem« s an beiden Wort- grenzen aufgehoben ist, wobei das entsprechende Archiphonem im Anlaute durch das >>weiche«, im Auslaute durch das » scharfe« vertreten ist, — so darf vom deutschen Standpunkte aus nur das »weiche<< s als merkmallos geiten, weil der Anlaut im Deutschen die »Stellung der maximalen Konsonantenunterscheidung« ist. Im Französischen, wo der Gegensatz zwischen offenem e und geschlossenem £ aufierhalb der ungedeckten Endsilben so aufge- hoben ist, daí3 das offene e nur in gedeckten-, und das geschlos- sene e nur in ungedecktenlSilben stehen darf, — mufi das gesch- lossene e als merkmallos betrachtet werden, weil vom Stand- punkte der ganzen Struktur des Französischen die ungedeckten Silben als die »normalen« betrachtet werden diirfen.
4. Das gesagte bezieht sich sebstverständlich nur auf solche aufhebbare graduelle Gegensätze, unter deren Gliedern das eine »extrem« ist. Da, wo beide Oppositionsglieder verschiedene »mittlere« Stufen der betreffenden Eigenschaft aufweisen, kann entweder das eine, oder das andere Glied die Vertretung des Archiphonems iibernehmen je nachdem, wie die betreffende Eigenschaft vom Standpunkte der gegebenen Sprache aufgefafit wird. Praktisch handelt es sich dabei meistens um den Gegensatz zwischen zwei Arten vor e- oder o-Vokalen. In den einen Sprachen geiten die geschlossënen, in 3en ånderen die offenen e und o als merkmallos, — was aus ihrem Auftreten in der ÄufheSungsstellung hervorgeht. Somit ist in solchen Fallen der Gegensatz vom phonologischen Standpunkte aus nicht mehr gra- duell.
5. Man beachte jedoch die Einschränkungen, welche diese Formel im Deutschen erleidet : » s_+ Konsonant « im Anlaute kommt vor als » Signed des Fremdwortes « (Skandal, Sphäre, Szene, Slave, Snob, Smoking usw. ) ; » sch + Konsonant « im Wurzelinlaut kommt vor in dialektischen und vulgären Wörtern und gibt ihnen ein bestimmtes stilistisches Gepräge (Wurstel, Kasper!, Dro- schke, es ist mir Wurschtl oder in Eigennamen, die als solche aus dem normalen Wortschatz ausfallen ; endlich dienen diesel- ben Phonemverbindungen auch als Grenzsignale. Somit ist die Aufhebung des Gegensatzes zwischen s und sch vor Konsonanten im Schriftdeutschen keine unbeschränEte und kann nicht etwa mit der Aufhebung des Gegensatzes zwischen Tenuis und Media im Auslaute verglichen werden.
6. Auch solche Phoneme, die im gegebenen phonologischen System keinen entsprechenden » Partner « besitzen, dennoch aber zu derselben Klasse, wie die Glieder des aufhebbaren Gegensatzes gehören, wirken auf dieselbe Weise : die russischen c, £ und die deutschen gf, wirken auf die vorhergehende Geräuschlaute wie normale Tenues, obgleich entsprechende Mediae im russischen und deutschen Lautsystem fehlen.
7. Die Regel ist nur im Rahmen eines Morphems giltig. An der Grenze zweier Morphem« kommt die Phonemfolge »nasa- lierter Vokal + unnas alie r te r Vokal« vor (z. B. » enhardir «1 und darf dann als Grenzsignal betrachtet werden.
8. Da, wo nasalisierte Vokale vor m stehen, handelt es sich im Französischen um ein » Grenzsignal« (z. B. nous vinmes, emmener). Auch vor n sind die Gegensätze о — 3, e —-ce — œ im Französischen auTgehoben : die Lautfolgen ön, ën, ön kommen nur als kombinatorische Varianten eines auslautenden nasalierten Vokals vor einem vokalisch anlautenden Worte vor. Dagegen kommt das nasalierteã vor n im Worte ennui vor, welches vom Standpunkte der heutigen Sprache morphologisch un- zerlegbar ist (aufierdem kommt dieselbe Phonemfolge an der Morphemnaht vor, — z. B. in ennoblir).
9. Aufierdem enthalten solche Fälle auch einen Hinweis darauf, welches von den Gliedern des Gegensatzes » Y« als das merkmaltragende betrachtet werden soll, — selbst wenn der Gegensatz » Y« konstant ist.
10. Sprachen, welche den Mouillierungsgegensatz vor Konsonanten aufheben, sind z. B. das (Ost-) Bulgarische, das Litaui- sche, das Polabische; die Aufhebung des Rundungsgegensatzes vor Konsonanten bietet z. B. das Dargwa (im Daghestan).
11. Die Regel ist in Wirklichkeit noch komplizierter : wenn die vorhergehende Silbe mit infraglottalen stimmlosen Konsonanten (Verschlufilauten oder Spiranten) beginnt, findet die Aufhebung nur nach den engen Vokalen u, u, i statt ; beginnt dagegen die vorhergehende Silbe mit einem stimmhaften oder mit einem supraglottalen Verschlufilaute, so findet die Aufhebung nach breiten Vokalen (a, e) statt.
12. Im Deutschen ist der Gegensatz zwischen scharfem und weichem s ebenfalls sowohl im Anlaute wie im Auslaute aufgehoben.
13. A. Belié selbst hat diese Erscheinung nicht ausdrúck- lich vermerkt ; in dem von ihm angefuhrten reichhaltigen Form- und Wortmaterial, sowie in den dialektischen Texten, die seiner Abhandlung beigelegt sind, befindet sich aber kein Wort, das eine lange Silbe vor einer Silbe mit »langem fallenden Akzent« aufweisen wiirde. Fiir die phonologische Charakteristik der Mundart von Novi (und, wie ich glaube, fúr die Entwickelung des cakavischen prosodischen Systems úberhaupt) ist dieser Umstand aufierordentlich wichtig.
*From Travaux du Cercle Linguistique de Prague, VI: 29 - 45 (1936).
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