“A Prague School Reader in Linguistics”
Zum Problem der Belastungs- und Combinations-fähigkeit der Phoneme*
Zur phonologischen Charakteristik einer Sprache genugt es nicht, ihren Vorrat von Phonemen und phonologischen Merk- malen festzustellen ; man mufl auch die Intensität untersuchen, mit der die einzelnen phonologischen Einheiten in der behan- delten Sprache verwendet werden. So behauptet in der Phonologie neben der qualitativen auch die quantitative Analyse ihren Platz. Zur Problematik dieser quantitativen phonologischen Analyse sollen die folgenden Ausfuhrungen einen Beitrag liefern.
Allgemein gefafit kann der Grad der Ausniitzung von phonologischen Einheiten in der gegebenen Sprache an dreierlei Tatsachengruppen gemessen werden. Es kann sich um ihre Aus- niitzung 1. im System, 2. im Wort- und Wortgruppenbau, 3. in dem Strom der aktuellen Rede handeln.
Was man unter Ausnutzung im System zu verstehen hat, wird am besten ein Beispiel lehren. Der Stimmunterschied in der Konsonantenbildung, d. h. das Vorhandensein bezw. Fehlen der Stimme bei den Konsonanten, erscheint als phonologisches Merkmal in einer ganzen Reihe von Sprachen, aber der Grad der Verbreitung dieses Unterschiedes im phonologischen System ist oft sehr verschieden. Im Altenglischen wurden je nach dem Vorhandensein oder Fehlen der Stimme nur drei Konsonantenpaare unterschieden. Dasselbe gilt noch vom heutigen Deutsch, wobei allerdings die Stimmhaftigkeit bzw. Stimmlosigkeit durch andere phonetische Aspekte ersetzt worden ist. Das moderne Englisch hat dagegen den Stimmunter schied bei sieben Konsonantenpaaren durchgefuhrt, wodurch es sich dem Französischen mit sechs Konsonantenpaaren an die Seite steilt.
Der Stimmunterschied kann auch fiir die strukturale Aus - nutzung der phonologischen Einheiten als ein gutes Beispiel dienen. Die Art der strukturalen Ausniitzung, d. h. der Aus- niitzung im Wort- und Wortgruppenbau, kommt in dem Grade zum Ausdruck, in dem die einzelnen Sprachen ihre phonologi- schen Einheiten an einzeinen Steilen des Wortes oder auch der Wortgruppe verwenden können. Was die Ausniitzung des Stim- munterschiedes bei Konsonanten im System betrifft, kommt das Cechische dem Englischen ganz gleich, denn auch hier können wir wie dort sieben Konsonantenpaare finden, die sich durch das Vorhandensein oder Fehlen der Stimme unterscheiden. In der struktural-lokalen Ausniitzung dieses Merkmales läfit sich aber zwischen den beiden Sprachen ein wichtiger Unterschied kon- statieren. Im Wortanfang und im Wortinnern lassen die beiden Sprachen den Stimmunterschied der Konsonanten mit gleicher Energie geiten (das Englische im Gegensatz zum Deutschen, wo der Wortanfang nicht so empfindlich fur den betreffenden Unterschied ist wie das Wortinnere). Am Wortende dagegen hat im Cechischen der Unterschied zwischen stimmlosen und stimm- haften Konsonanten keine phonologische Geltung, wogegen er im Englischen an dieser Stelle sehr klar hervortritt. Man könnte geradezu sagen, dafi dieser Unterschied sich im modernen Englisch besonders am Wortende geltend macht, da ihm hier nicht nur eine lexikalische, sondern auch eine morphologische und kategorienbildende Bedeutung zukommt. Auch darin stimmt das Englische mit dem Französischen uberein und entfernt sich vom Deutschen, das hier mit dem Cechischen ubereinstimmt.
Ein spezieller Fall der strukturalen Ausniitzung von Phonemen liegt in ihrer Kombinationsfähigkeit vor. Dabei kann es sich 1. um die Stelle im Worte oder in der Wortgruppe, wo die Kombinationen auftreten, oder 2. um ihre Zusammensetzung handeln.
Was die ErscheinungssteHe von Kombinationen betrifft, ist es eine längst bekannte Tatsache, dafi einige Sprachen Anfangs- gruppen und andere wieder Endgruppen von Konsonanten bevor- zugen. So finden wir in Wörtern, die höchstens aus vier Lauten bestehen, im Deutschen 21 Anfangsgruppen und 47 Endgruppen von Konsonanten, im Cechischen dagegen 160 Anfangsgruppen und 16 Endgruppen. Das Englische hält sich, obwohl mit einer schwächeren Ausdriicklichkeit des Typus an der Seite des Deutschen, denn es weist im Material desselben Charakters 43 Anfangsgruppen und 60 Endgruppen von Konsonanten aus.
Aufier diesen allgemeinen Tatsachen lassen sich bei der lokal-strukturalen Analyse der Konsonantengruppen noch andere minder ins Auge springende Ergebnisse erzielen. Die Endgrup- pen können auch auf den Umstand hin unter sucht werden, ob sich eine bestimmte Konsonantengruppe nur am Ende des Wort- stammes findet oder nur in der Endungsfuge oder an beiden Steilen. Wenn wir diese Untersuchungsmethode auf die aus zwei Konsonanten bestehenden Endgruppen anwenden, so sehen wir, dafi im Englischen 18 solche Gruppen nur am Ende des Wort- stammes erscheinen, 23 Gruppen nur in der Endungsfuge und nur 10 Gruppen gleichweise an beiden Steilen. Im Deutschen da- gegen kommen 16 Gruppen nur am Ende des Wortstammes, 4 Gruppen nur in der Endungsfuge und 17 Gruppen an beiden Steilen vor. Dieser Unterschied scheint darauf hinzuweisen, dafi im Englischen die Endung als etwas Ausgeprägtereb, selbstän- digeres auftritt als im Deutschen, was mit der Tatsache sehr wohl im Einklang steht, dafi in dem sog. group genitive sich im Englischen das Endungsvon seinem Stamme völlig los- lösen kann.
Dafi sich durch die hier dargestellte strukturale Methode auch Unterschiede zwischen dem einzelnen Worte und der Wort- gruppe nachweisen lassen, will ich nur an einem Beispiel demon- strieren. Die Kombination mj(e), die innerhalb des Wortes in der zentralböhmischen Aussprache des Cechischen nicht existiert, weil sie dort úberall durch mn(e) ersetzt worden ist, kommt in der Wortgrenze ganz ruhig vor. Es zeigt sich hier also im Cechischen ein klarer Unterschied zwischen der Wortgrenze und dem Wortinnern. Die Hoffnung scheint folglich ganz berechtigt zu sein, dafi eine genauere Untersuchung der phonologischen Wort- und Wortgruppenstruktur neues Licht auf die heikle Fråge der Selbständigkeit des Wortes werfen wird. Man gewinnt iiber- haupt den Eindruck, als ob nach der radikalen Verneinung der Wortexistenz seitens der absolut-objektivistischen Phonetiker die Phonologie das Problem wieder von einer neuen Seite auf- nehmen diirfte. So wiirde man der wahren Sachlage, die man meiner Meinung nach als potenzielle Selbständigkeit des Wortes bezeichnen könnte, mehr gerecht werden.
Ein Vergleich der lokalen Verteilung von Konsonantengruppen in der kultivierten und der vulgären Aussprache zeigt wieder andere Tatsachen, deren weitere Bedeutung mir noch nicht ganz klar ist. Im Cechischen sinkt in der vulgären Aussprache des zentralböhmischen Typus die Anzahl der Anfangsgruppen, wo- gegen die Zahl der Endgruppen wächst. Fur das Englische läfit sich im Gegenteil das Sinken der Zahl der Endgruppen kon- statieren. In beiden Sprachen handelt es sich um etwas, was zu der in der lokalen Verteilung von Konsonantengruppen kon- statierten Tendenz in einem gewissen Gegensatz steht. Eine weitere Unter suchung wird er st zeigen können, was fur allge- meinere Ursachen hier im Spiele sind.
Auch fiir die Zus ammens etzung der vorhandenen Konsonantengruppen ist ein Vergleich der vulgären Aussprache mit der der Gebildeten manchmal lehrreich. Wenn wir festzustellen ver- suchen, welche Typen von Konsonantengruppen in der cechischen Vulgär aus sprache die gröfiten Verluste zu verzeichnen haben, so sehen wir, dafi es die fiir die slavischen Sprachen so charakteri- stischen, durch eine auffallende Verteilung der Sonorität ge- kennzeichneten Kombinationen Liquida + Explosiva und Liquida + Spirans sind. Die betreffenden Gruppen werden entweder vereinfacht oder umgestellt oder durch Verallgemeinerung des beweglichen Zwischenvokals verändert (lzice > zice, zlice ; rez, rzi> rez, rezi), oder die sie enthaltenden Wörter werden durch andere ersetzt (rtu — pysku). Wenn eine solche Anfangs- gruppe erhalten bleibt, so ist es meistens durch den morpholo- gischen oder wortsipplichen Systemzwang in Fällen, wo Strukturen mit Liquida + Konsonans mit Liquida + Vokal abwech- seln (lez : lzou).
Viel lehrreiches Material bietet auch die Untersuchung der Kombination Vokal + Vokal. Im Cechischen wird durch eine solche Untersuchung der Unterschied zwischen dem einheimi- schen und dem entlehnten Wortvorrat hervorgehoben. In den einheimischen Wörtern treffen zwei Vokale nur in Präfix- und Kompositionsfugen zusammen, in den entlehnten Wörtern auch im Wortstamm und in Suffix- resp. Endungsfugen. Die beiden Arten von Fugen werden auch durch das Resultat, das aus dem Zusammentreffen beider Vokale entsteht, auseinandergehalten. In den Präfix- und Kompositionsfugen kann zwischen die beiden Vokale immer der Kehlkopfverschlufllaut eingeschoben werden (na?učiti, modro-v-okyš) und vor o in der Vulgär aus sprache auch das sogenannte Hiatus-v (modro-v-оkу). In den Suffix- und Endungsfugen, wo man nicht zu diesem Mittel greifen kann, wird dagegen zwischen palatale Vokale ein j eingeschoben (ly- ce-j-i). Das ist wieder in den Präfix- und Kompositionsfugen unmöglich.
Der Gegensatz zwischen Erbwörtern und Lehnwörtern er- scheint wieder in einem ånderen Zusammenhange, wenn wir die Kombination Konsonant + Vokal im Cechischen unter suchen. Man kann dabei, obgleich nur in Umrissen, drei Reihen von Konsonanten konstatieren, eine palatale, eine velare und eine neutrale. Nach palatalen Konsonanten kommen u, ú, o, ou, nach den velaren e nicht vor. Nach den neutralen finden wir alle im Cechischen vorhandenen Vokale. Das alles trifft aber nur im einheimischen Wortschatz intellektuellen Char akter s zu. Lehn- wörter und einheimische Wörter emotionellen Charakters wider - streben den genannten Regeln, ja die emotionellen Wörter ge- winnen dadurch, besonders bei der palatalen Reihe, geradezu eine eigentiimliche lautmalende oder vergröblichende Färbung (at’ukati, t’opka — t’ulpas, hnup). So wird, allerdings indirekt, bewiesen, dafi das Bewufltsein von der Existenz der drei Reihen, wenn auch geschwächt, noch weiter existiert.
Aber wenn auch die lokale Verwendbarkeit eines Phonems und seine Kombinationsfáhigkeit in zwei verschiedenen Sprachen potenziell dieselben sind, folgt daraus noch keineswegs, dafi auch seine konkrete Ausnutzung in der Wortstruktur der beiden Sprachen dieselbe ist. Die Möglichkeiten, die sich aus der lokalen Anwendbarkeit eines Phonems und aus seiner Kombinationsfáhigkeit ergeben, werden in jeder Sprache mit anderer Intensität ausgeniitzt. Diese Seite der strukturalen Ausnutzung, die ich im Gegensatz zu der oben behandelten potenziellen strukturalen Ausnutzung als die realisierte struktur ale Ausnutzung bezeichnen möchte, wird an dem Verhältnis, das zwischen der Zahl der mögHchen Falle der Ausnutzung eines Phonems und derjenigen der wirklich im Wortvorrat vorhandenen Falle be- steht, geme s sen Das Verhältnis wird man fiir jedes Phonem in jeder möglichen Stellung besonders feststeilen mussen. Der Grad der realisierten Ausnutzung der Phoneme in einer Sprache hängt am engsten mit ihrem Verhalten zum Monosyllabismus und zur Homophonie zusammen.
Die strukturale Ausnutzung eines bestimmten Phonems in einer bestimmten Sprache, mag es sich um potenzielle oder um realisierte Ausnutzung handeln, ist etwas anderes als die Fre- quenz seines Vorkommens in dem Strom der aktuellen Rede. Auch diese mufi untersucht werden, wobei aber der Stil der Rede und der Aussprache immer genau berucksichtigt werden mussen. Denn die Frequenz der einzelnen Phoneme ändert sich nicht nur von Sprache zu Sprache, sondern auch innerhalb derselben Sprache von Stil zu Stil und manchmal, z. B. in der poetischen Sprache, von Individualität zu Individualitat und sogar von Kunstwerk zu Kunstwerk. Ich verweise nur auf die verschiedene Frequenz der a-Laute im Englischen einerseits und im Cechischen, Russischen und Serbokroatischen anderseits, oder auf das Zunehmen des ɘ-Lautes in der schnellen Aussprache des Englischen.
*From Travaux du Cercle Linguistique de Prague, IV: 148-152 (1931).
We use cookies to analyze our traffic. Please decide if you are willing to accept cookies from our website. You can change this setting anytime in Privacy Settings.