“A Prague School Reader in Linguistics”
Zur Struktur des russischen Verbums*
I. Eine der wesentlichen Eigenschaften der phonologischen Korrelation besteht darin, dass die beiden Glieder eines Korre- lationspaares nicht gleichberechtigt sind: das eine Glied besitzt das betreffende Merkmal, das andere besitzt es nicht; das erste wird als m e r ? m al h al ti g bezeichnet, das zweite — als merk- mallos (s. Trubetzkoy in Trav. CLP IV 97). Dieselbe Definition kann zur Grundlage der Char akteristik der morphologischen Korrelationen dienen. Die Fr age der Bedeutung ein- zelner morphologischer Kategorien in einer gegebenen Sprache ruft öfters ständige Meinungsverschiedenheiten und Zweifel der Sprachforscher hervor. Wie erklärt sich die Mehrzahl dieser Schwankungen? — Indem der Forscher zwei einander entgegen- gesetzte morphologische Kategorien betrachtet, geht er oft von der Voraussetzung aus, diese beiden Kategorien seien gleich- berechtigt, und jede besitze ihre eigene positive Bedeutung: die Kategorie I. bezeichne A, die Kategorie II. bezeichne B. Oder mindestens: I. bezeichne A, II. bezeichne das Nichtvorhandensein, die Negation von A. In Wirklichkeit verteilen sich die allgemeinen Bedeutungen der korrelativen Kategorien anders: falls die Kategorie I. das Vorhandensein von A ankiindigt, so kundigt die Kategorie ?. das Vorhandensein von A nicht an, d. h. sie besagt nicht, ob A anwesend ist oder nicht. Die allgemeine Bedeutung der Kategorie II. im Ver gleich zu der Kategorie I. be- schränkt sich auf den Mangel der „?-Signalisierung”. Falls in einem gewissen Kontext die Kategorie II. das Nichtvorhandensein von A ankundigt, so ist es bloss eine der Anwendungen der gegebenen Kategorie: die Bedeutung wird hier durch die Situation be- dingt, und wenn es sogar die geläufigste Funktion dieser Kategorie ist, darf dennoch der Forscher nicht die statistisch vorher- schende Bedeutung der Kategorie mit ihrer allgemeinen Bedeutung gleichsetzen. Eine solche Identifizierung fiihrt zum Miss- brauche des Begriffes Transposition! Die Transposition einer Kategorie findet nur dort statt, wo die Ubertragung der Bedeutung empfunden wird (ich betrachte hier die Transposition bloss vom Standpunkte der synchronischen Linguistik). Das russische Wort télka (Farse) kiindigt das weibliche Geschlecht des Tieres an, wogegen die allgemeine Bedeutung des Wortes teiénok (Kalb) keine Ankundigung des Geschlechtes des gemeinten Tieres enthält. Wenn ich telénok sage, bestimme ich nicht, ob es sich um ein Männchen oder um ein Weibchen handelt, aber fragt man mich ,,éto télka?” und ich antworte ,,nét, telénok”, so wird hier das männliche Geschlecht angekiindigt, — das Wort ist in verengter Bedeutung angewandt. Soll man aber nicht eher die geschlechtslose Bedeutung des Wortes telénok als erweitert deuten? — Nein! denn hier fehlt die Empfindung einer figurlichen Bedeutung in derselben Weise wie die Redensarten tovârišc Nina oder éta dévuska — jegó stáryj drug keine Metaphern sind. Aber die Bedeutungsiibertragung ist vorhanden beispielweise im Höflich- keitsplural oder bei der ironischen Anwendung der 1. Pers. Plur. im Sinne der 2. Pers. Sing. und ebenso wird dura (Närrin) in Bezug auf einen Mann als Metapher empfunden, die die affektive Färbung erhöht. Die russischen Sprachfor scher der Mitte des vorigen Jahrhunderts haben den wesentlichen Unterschied zwischen der allgemeinen und der gelegentlichen Bedeutung einer Kategorie richtig eingeschätzt. Schon K. Aksakov unterscheidet streng den durch die grammatische Form ausgedriickten Begriff einer seits, und den abgeleiteten Begriff als eine Sache des Ge- brauches anderseits. (Socinenija filologiceskija I, 1875, 414 ff.) Ebenfalls N. Nekrasov lehrt, dass „die Grundbedeutungen inner- halb des Gebrauches in eine Anzahl Einzelbedeutungen zerfallen, die vom Sinne und vom Ton der ganzen Rede abhängig sind”. Er halt konsequent auseinander die allgemeine grammatische Bedeutung einer Form und diejenigen episodischen partiellen Be- deutungen, welche sie im Kontext erhalten kann. Den Zusammenhang zwischen der Form und der Bedeutung definiert er im ersten Falle als tatsächlich, im zweiten als möglich. Indem die Grammatiken das, was in der Sprache bloss die Geltung eines mögli- chen Zusammenhangs hat, als einen tatsächlichen Zusammenhang auffassen, gelangen sie zur Aufstellung von Regeln mit einer Unmenge von Ausnahmen. (? znacenii russkago glagola, 1865, bes. 9 4 ff, 115 ff u 307f).2 Aus den Zitaten, die wir weiter an- fiihren, ergibt sich folgendes: schon Aksakov, Nekrasov und noch friiher Vostokov (Russkaja grammatika, 1831) haben in ihren Forschungen nach der Grundbedeutung einzelner russi- scher mo r pho lo gi s che r Kategorien mehrmals festgestellt, dass während eine Kategorie ein gewisses Merkmal ankixndigt, dieses in der ånderen Kategorie unangekiindigt bleibt. Diese Beobach- tung wiederholt sich mehrfach auch in der späteren russischen Fachliteratur — be sonder s bei Fortunatov (O russkich zalogach in Izvëstija II AN 1899), Sachmatov (Sintaksis russkogo jazyka, ?. T, 1927), Peskovskij (Russkij sintaksis, I. Ausg., 1914, und III. ganz umgearbeitete Ausg., 1928), Karcevskij (Système du verbe russe, 1927). So behandelt Sachmatov einzelne Gegensätze verbaler Kategorien als Verwicklung ( „obosloznenije” ) durch gewisse begleitende Vor stellungen (§ 523); Peskovskij spricht iiber „Nullkategorien”, in denen infolge des Vergleichens mit den entgegengesetzten Kategorien „der Bedeutungsmangel eine Bedeutung sui generis bildet”, — „unsere Sprache ist voll von derartigen Nullkategorien” (III 31). Diese „Nullkategorie” ent- spricht im wesentlichen unserer merkmallosen Kategorie. Mit Nullwerten oder negativen Werten operiert in diesem Zusammen- hang auch Karcevskij, der dabei schon feststellt, dass die Gegensätze der grammatischen Kategorien binar sind (18, 22f). Die morphologischen Korrelationen und ihre Verbreitung in der Sprache wurden also anerkannt, blieben aber dennoch in den konkreten grammatischen Beschreibungen meistens episodischer Nebenbegriff. Nun muss der weiter e Schritt gemacht werden: der Begriff der morphologischen Korrelationen soll, wie es Tru- betzkoy formuliert, zur Grundlage der Analyse des grammatischen Systems werden. Falls wir unter dem Gesichtspunkte dieses Begriffes beispielweise das System des russischen Verbums be- trachten, lässt sich dieses restlos auf das System einiger Korrelationen zuriickfuhren. Die Feststellung dieser Korrelationen bildet den Inhalt der folgenden Bemerkungen. Dabei operieren wir meistens mit den traditionellen grammatischen Termini, ob- gleich wir uns ihrer Unexaktheit bewusst sind.
II. Die Klassen der Verba sind mit Hilfe zweier „As - pektkorrelationen” und zweier „Genus verbi-Korrelationen” ge- bildet.
Die allgemeine Aspektkrrelation: „Perfektiva” (merkmalhaltig) ~ „Imperfektiva” (merkmallos). Die Merkmallosig- keit der Imperfektiva ist offenbar allgemein anerkannt. Nach Sachmatov „bezeichnet der imperfektive Aspekt eine gewöhn- liche, unqualifizierte Handlung” (§ 540). Schon Vostokov: „Der perfektive Aspekt zeigt die Handlung mit der Bezeichnung, dass sie angefangen oder beendet ist”, wogegen der imperfektive Aspekt „die Handlung ohne Bezeichnung ihres Anfangs und ihrer Vollendung zeigt” (§ 59). Exakter könnte man definieren, dass die Perfektiva im Gegensätze zu den Imperfektiva die absolute Grenze der Handlung ankundigen. Wir betonen „absolute”, weil die Verba, die wiederholende Anfånge oder Vollendungen mehrmaliger Handlungen bezeichnen, imperfektiv bleiben (zacházival).3 Die Definition der Sprachforscher, welche die Funktion der Perfektiva auf die Bezeichnung der Ungedehntheit der Handlung beschränken, scheint uns allzueng, — vgl. solche Perf. wie ponastréit’, povytálkivat’, nagul’át’s’a, wo die Vollendung der Handlungen angekiindigt ist, aber keine Angaben uber ihren „punk- tuellen” oder kurzdauernden Charakter stattfinden.
Innerhalb der Imperfektiva besteht eine weitere Aspektkorrelation: „Iterativa”, die die Mehrfachheit der Handlung ankiin- digen (merkmalhaltig) ~ Formen ohne solche Ankundigung. Während die allgemeine Aspektkorrelation alle Konjugationsformen umfasst, gehört die zweite Korrelation bloss dem Präteritum an.
III. Die allgemeine Ge nu sko r r el atio n: Formen, die die Intransitivität der Handlung ankundigen (merkmalhaltig) ~ Formen ohne solche Ankundigung, d. h. „Aktiva” im breiten Sinne des Wortes. Die Auffassung der Aktiva als der merkmallosen Kategorie ist eigentlich schon bei Fortunatov gegeben (115 3 ff).
Die merkmalhaltige Kategorie der erwähnten Korrelation verfiigt iiber eine weitere Korrelation: „Passiva” (merkmalhaltig) ~ „Reflexiva”. Die Passiva kundigen an, dass die Handlung nicht vom Subjekt hervorgebracht wird, sondern auf dasselbe von aus- sen ubergeht. In der Wortverbindung dévuski, prodavájemyje na nevól’nicjem rynke signalisiert das Partizipium die „Passi- vität”; falls wir aber in diese Wortverbindung die Form proda- jùscijes’a unter stellen, wird hier die Passivität nur durch den Kontext gegeben, während die Form an sich bloss die Untransi- tivität ankiindigt; vgl. z. B. die Wortverbindung dévuski, proda- jùscijes’a za kusók chléba, — hier fehlt die passive Bedeutung vollkommen, weil der Kontext sie nicht nahelegt. Die allgemeine Genuskorrelation umfasst alle Konjugationsformen, die zweite hingegen nur die Partizipia. In der sprachwissenschaftlichen Literatur waren Zweifel entstanden, wohin bei der Einteilung der Verba die sog. „Communia” oder „Reflexiva tantum” (bo- jât’s’a usw. ) einverleibt werden sollten. Unter dem Gesichts- punkte der allgemeinen Genuskorrelation sind es unpaarige merkmalhaltige Formen.
IV. K o nj u g at i o n s s y s t e m. Die „ zus ammenge s etzten” Formen lasse ich beiseite. Sie stehen ausserhalb des morpho- logischen Verbumsystems.
Der „Infinitiv” wird von Karcevskij in Bezug auf den ,,syn- taktischen” Wert als eine Nullform des Verbums charakterisiert, es handelt sich um „l’expression d’un procfes en dehors de tout rapport syntagmatique” (18, 158). Die iibrigen verbalen Formen kiindigen das Vorhandensein der syntagmatischen Beziehungen an und fungieren somit im Gegensatz zum Infinitiv als merkmal- haltiges Glied der Korrelation.
Diese merkmalhaltige Kategorie zerlegt sich wiederum in zwei korrelative Reihen: .Partizipia” (merkmalhaltig) ~ „finite” Formen. Sachmatov bezeichnet die Partiz. als eine Kategorie, welche, im Vergleich mit den finiten Formen, durch die Eigen- schafts vor stellung „verwickelt” ist (§ 536). Somit fungiert hier als Korrelationsmerkmal die Signalisierung der „Adjektivität”. Umgekehrt bilden die Partiz. im Verhältnis zu den Adjektiva eine merkmalhaltige Kategorie, die die „Verbalität” signalisiert.
V. Die finiten Formen verfiigen iiber eine „Modalitäts- korrelation”. Der Indikativ wurde schon mehrmals als der negative Modus oder der Nullmodus definiert. „Es ist einfach eine Handlung, eine Handlung, die durch keine besondere modale Schattierung kompliziert ist, sowie der Nominativ einfach den Gegenstand bezeichnet ohne Schattierung der Kasualität” (Pes- kovskij I 126; vgl. Karcevskij 141). Dem merkmallosen Indikativ ist ein Modus, der den wiHkiirhaften Einschlag der Handlung (modalité d’acte arbitraire) ankiindigt, entgegengesetzt (s. Karcevskij 139 ff); eben in dieser Ankiindigung besteht das Korrelationsmerkmal. Die Handlung, die durch diesen Modulus aus- gedriickt ist, kann dem Subjekt willkiirhaft zugeschrieben werden (pridi 6n, vsé by ulâdilos’), sie kann dem Subjekt willkiirhaft ein- gezwungen werden (vsé govor’ât, a my molci), oder sie kann endlich eine willkiirhafte, plötzliche, unmotivierte Aktion des Subjekts dar steilen („necájanno zagl’ani ? nemú smért’ i podkosí jemú nogi”). In den Wortverbindungen des letzten Typus sieht Nekrasov den Ausdruck der „Selbsttätigkeit der Handlung” („samolicnost’ dejstvija”), was der meisterhaften allgemeinen Charakteristik, die der genannte Forscher von dieser gramma- tischen Kategorie gibt, vollkommen entspricht: ,,Es gibt in ihr selbst keinen wirklichen Zusammenhang zwischen der Handlung und der handelnden Person. . . Die sprechende Person verfiigt sozusagen in diesem Falle iiber die Handlung” (105 ff).
VI. Der Indikativ besitzt eine „Zeitkorrelation”: Prä- teritum” (merkmalhaltig) ~ „Präsens”. Das Präteritum kiindigt an, dass die Handlung der Vergangenheit gehört, während das Präsens an sich zeitlich unbestimmt ist und eine typische merk- mallose Kategorie bildet. Bemerkenswert ist die Auffassung des russischen Präteritums, die Aksakov vorgeschlagen (412 ff) und Nekrasov weiter entwickelt hat (306 ff): diese Form driickt, im Grunde genommen, keine Zeit aus, sondern nur den Bruch des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dem Subjekt und der Handlung, — die Handlung verliert eigentlich den Charakter der Handlung und wird einfach zum Kennzeichen des Subjekts.
Das Präsens ist mit zwei „Personkorrelationen” versehen.
1. Persönliche Formen (merkmalhaltig) ~ unpersonliche Formen. Als grammatisch unpersönliche Form fungiert die sog. Form der „dritten Person”, die an sich die Bezogenheit der Handlung auf ein Subjekt nicht ankiindigt; diese Form wird se- mantisch persönlich nur in dem Falle, dass das Subjekt gegeben oder wenigstens hinzugedacht ist. Die sogen. Verba impersona - lia sind unter dem Gesichtspunkte der erwähnten Korrelation unpaarige merkmallose Formen.
2. Die persönlichen Formen verfugen uber die Korrelation: Form der „ersten Person” (merkmalhaltig) ~Form, die die Bezogenheit der Handlung auf die sprechende Person nicht ankiindigt. Es ist die sog. Form der „zweiten Person”, die als merkmallose Kategorie fungiert. Die allgemeine Bedeutung der russichsen Form der 2. Pers. wurde von Peskovskij treffend als „verallgemeinert-persönlich” charakterisiert (III 429 ff). Der Kontext bestimmt, auf welche Person diese Form jeweils bezogen wird — ob auf eine beliebige (umréS, pochoròn’at), auf die sprechende (vypjes’ byválo) oder auf die konkrete angespro- chene Person. Freilich wird diese Form vorwiegend im letzten Sinne gebraucht, aber dennoch ist dies bloss eine ihrer partiellen Bedeutungen, und in der Fråge nach der allgemeinen Bedeutung einer Form ist das statistische Kriterium unanwendbar, — usuelle und allgemeine Bedeutung sind nicht synonym; ausser- dem entwickelt sich im Russischen die Form der 2. Pers. in ihrer verallgemeinernden Rolle „immer mehr auf Rechnung der gewöhnlichen persönlichen Sätze”. Was den verallgemeinernden Gebrauch der Form der 1. Pers. betrifft, so wird hier das Figiirliche der Wendung (pars pro toto) empfunden.
Prås. wie Prat. besitzen eine „Numeruskorrelation”: „Plural” (merkmalhaltig) ~ „Singular “. Die allgemeine Bedeutung dieser merkmallosen Kategorie begrenzt sich darauf, dass die Pluralität nicht angekundigt wird. Das hat schon Aksakov er- kannt: „Der Singular ist allgemeiner, unbestimmter, er enthält sozusagen mehr Gattungscharakter; darum kann er eher in an- dere Verhältnisse iibertragen werden; während der Plural einen spezielleren Charakter hat” (569). Aber im Gegensatz zu allen iibrigen verbalen Korrelationen, welche wir erwähnt haben, ist die Numeruskorrelation im Ind. (und ebenfalls in den Partiz. ) äusserlich bestimmt: sie ist keine selbständige Korrelation, sondern eine Kongruenzkorrelation, weil sie den grammatischen Numerus des Subjekts wiedergibt.
Zu der Kongruenzkorrelation gehören auch die beiden ,,Ge- schlechtskorrelationen” , die den Sing. Prät. charakterisieren. 1. „Neutrum. . . bezeichnet. . . etwas Negatives, weder Männlich- es, noch Weibliches” (Peskovskij I 126), d. h. es signalisiert die Beziehungslosigkeit zum Sexus; Nomina neutra bilden also eine merkmalhaltige Kategorie gegeniiber den Nicht-Neutra, die den Sexus bezeichnen können und somit keine „Asexualität” ankun- digen. 2. Die Nicht-Neutra zerfallen in zwei korrelativen Rei- hen. Die Nomina feminina bilden eine merkmalhaltige Kategorie, wogegen das Maskulinum grammatisch bloss besagt, dass die Signalisierung des weiblichen Geschlechts nicht vorhanden ist (vgl. die oben angefiihrte Beispiele te!énok, télka usw. ).
VII. Im Gegensatz zum Ind. ist der „Modus der willkur- haften Handlung” mit keinen Korrelationen versehen: er hat weder selbständige Zeit- und Personkorrelationen, noch Kongruenzkor relationen des Numerus und des Geschlechts. 4 Aber dieser Modus ist „zweiflächig”: einerseits gehört er samt allen ubrigen verbalen Kategorien zur d a r s ? e 11 e n d e n Sprache, ander seits — als eigentlicher „Imperative” — dient er der Au s lösungsfunktion, nach ?. Buhlers Terminologie.
Die Sprachwissenschaft hat eingesehen, dass der Vokativ sich nicht auf derselben Ebene befindet, wie die ubrigen Kasus, und dass die vokativische Anrede ausserhalb des grammatischen Satzes steht; etenso ist der echte Imperativ von den ubrigen verbalen Kategorien abzusondern, da er durch dieselbe Funktion wie der Vokativ kennzeichnet ist. 5 Der Imperativ darf nicht syntaktisch als prädikative Form behandelt werden: die imperativen Sätze sind, gleich der Anrede, volle und zugleich unzerleg- bare „vokativische einteilige Sätze”, und auch ihr e Intonation ist ähnlich. Das Personalpronomen beim Imp. (ty idi ) ist seiner Funktion nach eher Anrede als Subjekt. Der Imp. zeichnet sich innerhalb des russischen Verbalsystems deutlich nicht nur syntaktisch, sondern auch morphologisch und sogar phonologisch aus.
Die sprachliche Tendehz, den Vokativ auf den reinen Stamm zu reduzieren, ist bekannt (vgl. Obnorskij in ZfslPh. I. 102 ff). Dasselbe kann man auch am russischen Imp. beobachten. Die merkmallose Imperativform steilt, vom synchronischen Standpunkte, den Präsensstamm ohne grammatischer Endung dar. Der Bau dieser Form wird durch folgende Prinzipien bestimmt: 1. Findet im Präsensstamm eine grammatische Alternation zweier korrelativen Phoneme statt (des unbetonten und betonten Vokals, des mouillierten und unmouillierten Konsonanten), so erscheint im Imp. der merkmalhaltige Alternant: der unbetonte Vokal (chlopocí ), der mouillierte Konsonant (idi). — 2. Alter- nieren am Ende des Präsens stamme s Konsonanten, so erscheint im Imp. derjenige Konsonant, welcher in der 2. Pers. Präs. sich vorfindet (sudi, prosti, l’ubi); die einzige Ausnahme bildet die Alternation der Velaren mit den Zischphonemen: in diesem Falle hat der Imp. stets einen Velar (lgi, peki, 1’ag). — 3. Endet der Präsensstamm auf j und ist er unsilbig, so wird im Imp. vor _j ein e als Alternant der Lautnull eingeschoben (séj). — 4. Endet der Präsensstamm auf eine Konsonantengruppe oder besteht der präfixlose Stamm bloss aus unbetonten Silben, so erhält die Imperativform einen Flickvokal (sóchni, jézdi, koloti, vygorodi);6 einzige Ausnahme: die unbetonten Präsensstämme auf j von Verben, die zu den unproduktiven Klassen gehören (s. Karcevskij 48 ff), erhalten im Imp. die Betonung und kommen ohne Flickvokal aus (stój, pój, zúj, sozdáj).
Der Imp. wird durch folgende besondere Korrelationen ge- kennzeichnet: I. „Die Mitbeteiligungskorrelation”: Formen, die die Absicht des sprechenden, an der Handlung teilzunehmen ankundigen (merkmalhaltig) ~ Formen ohne solche Ankiindigung. In der Rolle der merkmalhaltigen Kategorie wird die umgedeutete Form der 1. Pers. Plur. Präs. verwendet (dvinem ~ dvin1). — II. Die „Numeruskorrelation”: Formen, die ankundigen, dass der Wille des Sprechenden auf eine Mehrzahl gerichtet ist (merkmalhaltig) ~ Formen ohne solche Ankiindigung (dvin’te ~ dvin’, dvînemte ~ dvinem). Es wurde mehrfach die Frage aufgeworfen, warum eigentlich nicht der Modus der willkiirhaften Handlung in der darstellenden Sprache diejenige Form des Plurals benutzt, die er dort verwendet, wo es sich um die Auslösungsfunktion handelt. Diese Frage lässt sich auf einfache Weise lösen: zum Imp. kann kein Subjekt hinzugedacht werden, also ist die Nu- meruskorrelation innerhalb des Imp. eine selbständige Korrelation; und ein merkmalhaltiges Glied einer selbständigen Korrelation kann nicht in eine Kongruenzkorrelation iibertragen werden. — III. Die „Intimitätskorrelation”: Formen, die eine gewissermassen intime oder familiare Färbung der Willensäus- serung signalisieren (merkmalhaltig) ~ Formen ohne solche Signalisierung (dvin’ka, dvin’teka, dvínemteka ~ dvin’ usw. ).
Der Unterschied zwischen der Auslösungs- und der Darstel- lungsfunktion ‘åussert sich im System des russischen Verbums nicht nur durch die Liste der Korrelationen, sondern unmittel- bar durch ihre Bildungsweise. 7 Die Formen des Imp. unter- scheiden sich von den iibrigen verbalen Formen durch die Ag- glutinierung der Endungen: im Imp. dient jede Endung zum Ausdruck nur je eines Korrelationsmerkmals, bei Anhäufung der Merkmale wird eine Endung an die andere angehängt. Nullendung = merkmallose imperative Form, < ïm/im> oder <om> = Merkmal der Beteiligungskorrelation, <t|f> = Merkmal der Numeruskorrelation, ?. s> = Merkmal der Ge nu s ko r relation, <kå> = Merkmal der Intimitätskorrelation. Beispiel: <dv’in?- 1m-t’ï-s-k&>. 8 Eben durch diesen agglutinativen Charakter der Morphemverbindung im Imp. erklärt sich die relative Leichtig- keit, mit welcher seine Endungen an die Inter jektionen oder an die transponierten Indikativformen hinzugefiigt werden: nâ-te, ná-ka, nú-te -ka, brys’ -te, pojdú-ka, das volkstiimliche posél- te usw. Die Inter jektionen ná, nú, brys’ u ‘å. verschmelzen mit der merkmallosen Imperativform.
Die Agglutinierung äussert sich auch phonologisch: die einzelnen Morpheme bewahren hier ihre Individualität, die Endun- gen des Imp. werden, phonologisch betrachtet, nicht als Wort- teile, sondern als Enklitika behandelt. An der Morphemfuge des Imp. bleibt die Gruppe t’ + £ unverändert, dagegen hat sich in den ånderen Verbalformen ?/?’ + £ in £ mit langem Verschluss verwandelt: vgl. Imp. < z&but’ sâ> — Inf. < äbutcä III. Pers. Plur. Präs. < skr ‘fbutc&>; Imp. < v’i t’ s&> — Inf. v’itcà; Imp. <p’at’sà> — 3. Pers. Plur. Präs. <tälp’atcä>. Ùberhaupt erscheinen im Imp. mouillierte Vorderlinguale vor unmouillier- tem s, was sonst innerhalb des Wortes nicht geschieht: <| åden’s&, zar’sâ, kras?sä>. Vor den Lingualen figurieren im Imp. mouillierte Labiale, während sonst im Wortinnern Labiale vor Lingualen keine Mouillierung zulassen: päznäkom’kä, sip’kâ, staf’kä, ùpr’am’sâ, pr’fspäsop’sä, s!af’s&, grap’t’ï> (neben < grapt’i>), < gâtof’t’ï > (neben < g&toft’ï>). Im Imp. wird die Verbindung zweier k erhalten, die sonst im Wortinnern zu xk werden: vgl. Imp. < l’akk&> — Adjekt. < m’axk&>.
Die russische Grammatik deutete den Imp. sozusagen meta- phorisch: seine Elemente und der en Funktionen wurden, auf Grund der äusserlichen Teilähnlichkeit, mit den Elementen und Funktionen der ånderen Formen identifiziert. So z. B. wurde sein Flickvokal einerseits, seine enklitikartigen Endungen ander- seits mechanisch der Kategorie der Affixe zugeschrieben usw. Daher konnte se!bstverständlich die Eigenart des Imp. nicht er- fasst werden.
VIII. Die Partizipia werden durch die folgende Korrelation charakterisiert: Formen, die die Prädikativität ankiindigen (merkmalhaltig> ~ Formen ohne solche Ankundigung, d. h. die „attributiven” Partiz. Den passiven attributiven Partiz. sind als merkmalhaltige Formen die _ prädikativen” Partiz. entgegen- gesetzt, den aktiven attributiven Partiz. die „Gerundia”. Vgl. j uno sa, tomímyj somnénijem, skitâjets’a — ju., tomîm s_., ; ju., tom’àscijs’a s., s. — ju., tom’âs’ s., s. Im Gegensatz zum passiven prädikativen Partiz. ist das Gerundium in der Rolle des Hauptprädikates der Schriftsprache beinahe unbekannt.
Alle attributiven und die passiven prädikativen Partiz. ver- fiigen iiber dieselben Kongruenzkorrelationen wie das Prät. Ind. (nämlich iiber Numerus - und Geschlechtskorrelationen). Die Gerundia entbehren der Kongruenzkorrelationen. Die attributiven Partiz. besitzen ausserdem Kasusunterschiede (die Frage iiber die Struktur dieser Unterschiede lassen wir hier beiseite).
Die perfektiven Partiz. haben keine Zeitkorrelation; die imperfektiven Partiz. kennen zwar diese Korrelation; doch die passiven Partiz. haben die Zeitunterschiede fast vollkommen eingebiisst, die imperfektiven Gerundia verwenden das Prater- itum sehr spärlich, und selbst bei den aktiven attributiven Partiz. wird teilweise eine Grenzverwischung zwischen den beiden zeitlichen Kategorien beobachtet (vgl. Kaganovic in Naukovi Zapysky Char’k. naukovo-dosi. kat. movozn. N2).
IX. Bei der Prufung der sog. Vertauschung der grammatischen Kategorien steilen wir fest, dass es sich gewöhnlich um eine A n w e n d u n g der merkmallosen auf Kosten der entsprechenden merkmalhaltigen Formen handelt (z. ?. die Substitution der finiten Formen durch den Inf., des Prat. durch das Präs., der er sten Pers. durch die zweite, der passiven Partiz. durch die reflexiven, des Plur. Imp. durch dessen Sing.), wogegen die umgekehrten Substitutionen natur- licherweise nur seltene Ausnahmen sind und als figiirliche Rede aufgefasst werden. Die merkmallose Form fungiert im sprach- !ichen Denken als Repräsentant des Korrelationspaares; darum werden als gewissermassen primäre Formen empfunden: die Im- perfektiva gegeniiber den Perfektiva, die Nicht-Reflexiva gegen- iiber den Reflexiva, der Sing. gegeniiber dem Plur., das Präs. gegeniiber dem Prät., die attributiven Partiz. gegeniiber den prädikativen usw. Es ist kein Zufall, dass der Inf. von uns als Repräsentant des Verbums, als „Lexikonform” eingeschätzt wird.
Die Erforschung der Aphasien zeigt, dass die merkmalhaltigen Kategorien eher als die merkmallosen eingebiisst werden (z. B. — die finiten Formen eher als der Inf., das Prät. eher als das Präs., die 3. Pers. eher als die iibrigen usw.). Ich habe halb- scherzhafte, half-affektive Familien-argots beobachtet, die die Konjugation aufgehoben haben: die persönlichen Formen wurden hier durch die unpersönliche ersetzt (já 1’úbit, ty 1’úbit usw.). Die- selbe Erscheinung ist aus der Kinder sprache bekannt. Auch fúr das humoristische Wiedergeben des Ausländerrussischen ist die Verwendung der 3. Pers. statt der zwei ersten charakteristisch (der Deutsche spricht in Turgenevs Lustspiel: fí 1’úbit = vy !’úbite usw.). Das Präs. des Verbums byt’ hat im Russischen die Konjugation eingebiisst: die Form der 3. Pers. Sing. jést’ vertritt die Formen aller Personen der beiden Numeri (ty jést’ ; takovy my i jést’).
X. Wir akzeptieren vollkommen die These Karcevskijs: der asymmetrische Bau des sprachlichen Zeichens ist eine wesent- liche Voraussetzung der Sprachveränderungen (Trav. CLP I 88 ff). In dieser Skizze möchten wir auf zwei von den vielfåltigen Antinomien hinweisen, die die Grundlage der Sprachstruktur bilden.
Die Asymmetrie der korrelativen grammatischen Formen kann als A n ? i n ? m i e der Signalisierung von A und der N i ? h ?-S i g n al i s i e r u n g von A charakterisiert werden. Zwei Zeichen können sich auf dieselbe gegenständ- liche Gegebenheit beziehen, aber die Bedeutung des einen Zeichens fixiert ein gewisses Merkmal (A) dieser Gegebenheit, während die Bedeutung des ånderen Zeichens dieses Merkmal unerwähnt lässt. Beispiel: eine Farse kann sowie mit dem Worte télka, so auch mit dem Worte telénok bezeichnet werden. Es wird derselbe Gegenstand gemeint, nur ist im zweiten Falle die Bedeutung unvollständiger weniger präzisiert.
Aus der Asymmetrie der korrelativen Formen folgt eine weitere Antinomie — die der allgemeinen und der partiellen Bedeutung der merkmallosen Form, oder mit ånderen Worten, die Antinomie der Nicht-Signalisierung von A und der Signalisierung von Nicht-A. Ein und dasselbe Zeichen kann zwei verschiedene Bedeutungen besit- zen: in dem einen Falle bleibt ein gewisses Merkmal (A) der ge- meinten gegenständlichen Gegebenheit unfixiert, d. h. sein Vor - handensein wird weder bejaht, noch verneint, im ånderen Falle tritt das Fehlen dieses Merkmals hervor. Beispiel: das Wort telénok kann entweder das Kalb ohne Rucksicht auf den Sexus oder bloss das Männchen bezeichnen.
Diese Widerspruche bilden die Triebkraft der gr ammatischen Mutationen.
Notes
1. Im folgenden Beitrage skizziere ich nur vorläufig und konspektiv eine der Kapitel der strukturalen Grammatik. Den Wesenskern dieses Beitrages bildet die Analyse des Imperativs, — einer Kategorie, die nur mit Rucksicht auf die Verschieden- artigkeit der Sprachfunktionen begriffen werden kann.
2. Diese beiden Linguisten, vorzugliche Erforscher der russischen sprachlichen Synchronie, wurden von den einseitig historisch eingestellten Gelehrten natiirlicherweise unterschätzt. Z. B. Karskij in seinem „Ocerk naucnoj razrabotki rus. jazyka” (1926) schweigt iiber Nekrasov und widmet Aksakovs Schriften bloss einige inhaltslose Vorwurfe.
3. Imperfektiv bleiben auch diejenige Verba, bei denen der absolute Charakter der Handlungsgrenze fakultativ ist (d. h. er ist nicht grammatisch angekiindigt, sondern nur durch die Situation gegeben). Vgl. vót ón vychódit und ón cásto vychódit.
4. Pavskij erkennt die Fehlerhaftigkeit der Tendenz, solche Formen wie sdélaj ais 2. Pers. Sing. zu deuten. Wenn auch diese Form „öfter in der Bedeutung der 2. Pers. Sing. und dabei ohne Zusatz von ty gebraucht wird, berechtigt es noch gar nicht, sie unmittelba~als 2. Pers. zu benennen. Sie wird in der Bedeutung der 2. Pers. öfter gebraucht, weil die 2. Pers. im Imper, öfter gefordert wird, als alle ubrige Personen” (Filolo- giceskija nabl’udenija III. T., II. Ausg. 1850, §90). Gleicher- weise Buslajev (Opyt istoriceskoj grammatiki II. T., 1858, 154). Den neueren Grammatiken ist das Verständnis fiir diese Tatsache mehrfach abhanden gekommen.
5. Schon Aksakov hat erkannt: „der Imperativ ist ein Aus- ruf; er entspricht dem Vokativ” (568).
6. Nach Mouillierung ist i im Russischen der geläufige Flickvokal. Denselben Flickvõkal erhält gewöhnlich die Endung des Infinitivs, falls sein Stamm auf einen Konsonanten ausgeht (nestí). Vgl. das Erscheinen des Flickvokals a bei dem refle- xiven Morphem shunter denselben Bedingungen (phonologisch transkribiert: < dul’ïs — du!sä, fp’ilsa>). Ich erinnere, dass ich den Begriff „Flickvokal” vom synchronischen Standpunkte verwende.
7. Es gibt auch noch eine morphologis che Eigentiimlichkeit des Imp.: die Funktionen der Aspekte sind hier einigermassen modifiziert (s. Karcevskij 139).
8. In eckige Klammern <> ist die phonologische Trans- kription der Formen gesetzt.
*From Charisteria Guilelmo Mathesio quinquagenario. . . oblata (Prague, 1932), pp. 74-84.
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